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DIE FURCHE 23.02.2023

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DIE FURCHE · 8 14 Diskurs 23. Februar 2023 Auch im Abschied bleibt die Nähe ... NUSSBAUMERS WELT Heinz Nußbaumer Herausgeber Es war keine einfache Entscheidung, aber sie musste sein. Nach 20 Jahren als FURCHE-Herausgeber (gemeinsam mit meinem lebensklugen Kollegen Wilfried Stadler) und nach 15 Jahren als Kolumnenschreiber ist es Zeit, Abschied zu nehmen. „Unser Leben währt 70 Jahre – und wenn’s hoch kommt, sind es 80 …“: So steht es in den Psalmen, verfasst in einer Zeit, in der die menschliche Lebensspanne weit geringer war als heute. Allein das Wissen um so viel geschenkte Lebenszeit lässt mich dem kommenden 80er in großer Dankbarkeit entgegenblicken. Sechs Jahrzehnte davon waren vom Journalismus geprägt – und vom Ausnahme-Glück, immer wieder dabei sein zu dürfen, wenn irgendwo der erste Rohentwurf der Zeitgeschichte geschrieben wurde, in Österreich, Europa und der Welt. „Weißt Du eigentlich, dass wir den schönsten Beruf auf Erden haben?“, hat mir einmal ein Kollege gesagt. Dieser Satz hat mich lange begleitet, als Frage und als Gewissheit. Geblieben ist die Gewissheit. In die letzten Weltkriegsjahre hineingeboren, waren die nachfolgenden Jahrzehnte von der festen Überzeugung getragen, wir würden unser Miteinander – allen Schwächen und Mängeln zum Trotz – künftig immer gerechter und friedlicher gestalten. An Vorbildern dafür war kein Mangel. Inzwischen aber weiß ich: Mein eigenes Altern fällt auch in eine Zeit ungewohnter Fremdheit. Unsere Welt erfindet sich eben auf bedrängende Weise neu – politisch und weit darüber hinaus. Kriege, Krisen, Katastrophen lassen uns daran zweifeln, dass es letztlich zum Guten hingeht. Gerade Journalisten meiner Generation müssen sich heute fragen, wie viele ihrer Erfahrungen und Begegnungen aus vergangenen Jahrzehnten sich noch als Haltegriffe bewähren, um das Kommende mit einem Grundanspruch von Kompetenz deuten zu dürfen. Im Sturmwind des Zeitenwechsels Denn die Erde unter unseren Füßen bebt gewaltig – selbst in den großen Vorzeigedemokratien. Immer wieder denke ich: Wie oft haben wir uns – schreibend und redend – am Feuer gemeinsamer Zukunftsträume gewärmt, hoffend auf ein Mehr an gemeinsamer Sicherheit, an belastbaren Konfliktlösungskonzepten und ökumenischer, ja interreligiöser Geschwisterlichkeit. Was davon ist geblieben? Leben wir heute nicht im Zeichen so vieler Feindbilder – und doch ahnend, dass Kriege im Atomzeitalter „letztlich einem globalen Todeswunsch nahekommen“ (J. F. Kennedy). Und sicher ist zudem: Auch die Welt der Medien, meine „zweite Heimat“, ist vom Sturmwind eines riskanten Zeitenwechsels erfasst. Vieles am Journalismus wird nicht so bleiben, „ Orientierung an Wert und Würde des menschlichen Lebens: Das ist es, was DIE FURCHE so enorm wichtig macht – und das ist es, warum ich sie auch künftig lieben werde, ganz unabhängig von meinem Abschied. “ Foto: Stephan Boroviczény Seit 2003 ist Heinz Nußbaumer (Mit-)Herausgeber, seit 2008 Kolumnist der FURCHE. Mit dieser Ausgabe zieht er sich in diesen Funktionen zurück. wie es bisher war. Der klassische Auftrag, „zu schreiben, was ist“, steht heute vor mächtigen Herausforderungen. Da ist die unkontrollierbar gewordene Datenflut. Da sind die Manipulationswerkzeuge des Populismus. Da sind die riesigen kommerziellen Digitalplattformen und all die bisher nicht gekannten technischen Innovationen – bis hin zum Einzug „künstlicher Intelligenz“ in die Redaktionen. Und als Folge dessen der dramatische Vertrauensschwund in die klassischen Medien, der zunehmende Verlust einer „gemeinsamen Öffentlichkeit“ und all die bekannten Abgründe von Fake News, Hate Speech und konspirativen Verschwörungsmythen bis in die Mitte der Gesellschaft. Wohin uns das führen wird? Zu mehr öffentlicher Sehnsucht nach glaubwürdiger Orientierung und Tiefgang? Oder doch zu einem unaufhaltsamen Verlust an Neugier und Weltwissen – zu einer Informationsmüdigkeit, die der journalistischen Qualität, der Mitgestaltung am öffentlichen Leben und damit der demokratischen Belastbarkeit den Boden entzieht? Medien sind immer Produkt und Spiegel der Gesellschaft – bis dorthin, wo es um Wert und Würde des menschlichen Lebens geht. Das ist es, was die Zeitung, die Sie eben in Händen halten, so enorm wichtig macht – schon seit bald 80 Jahren. Und hoffentlich noch lange! Und warum ich DIE FURCHE auch künftig lieben werde, ganz unabhängig von meinem Abschied. „Wo sonst kann ich mich mit so viel Kompetenz und Anstand über Zukunftsfragen informieren“, hat mir kürzlich eine Leserin geschrieben – „auch gegen den Wind des Zeitgeistes. Wir er sticken doch in Banalitäten!“ Gerd Bucerius, jahrzehntelang Verleger unserer großen deutschen Schwester Die Zeit, hat einmal geschrieben: „Ein Blatt wie unseres ist immer gefährdet – so etwas Schönes muss es ja nicht ewig geben.“ Dasselbe gilt für DIE FUR- CHE: Seit 1945 ist sie ihrem Auftrag treu geblieben, das Bleibende und Versöhnende, das Solidarische und Existenzielle atmen zu lassen – und hat Samenkörner des Anstands, der Weltoffenheit und Empathie in die Furchen unserer Republik gelegt. Daraus ist bei unseren Lesern eine große Treue und für diese Zeitung Zukunftssicherheit gewachsen – und das Glück der richtigen Eigentümer: „Wir halten einen Schatz in unseren Händen“, hat es Styria-Vorstandsvorsitzender Markus Mair formuliert. So verbinde ich meinen Abschiedsgruß an Sie mit einer Bitte: Schenken Sie der journalistischen Tiefe der FURCHE so viel Breite an Leserschaft wie nur möglich. Danke! KOMMENTAR Medienpolitik ist management by chaos Österreichische Medienpolitik ist management by chaos. Die dieser Tage wieder in den Fokus gerückte Debatte um die (Finanz-)Zukunft des ORF zeigt das einmal mehr. Denn von einer zivilisierten wie dringend nötigen politischen Auseinandersetzung ja gar einem Diskurs um Funktion und Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Lande kann keine Rede sein. Eher um einen Polit-Basar, wo um politisches Kleingeld gefeilscht wird: Wenn du dich wohlverhältst und wenn du ordentlich sparst, dann kriegst du auch eine (finanzielle) Zukunft, so der Tenor der politisch Mächtigen in Richtung ORF. Und dessen Management beeilt sich Hals über Kopf, hunderte Millionen aus den Budgets der Anstalt verschwinden zu lassen. Wie die medienpolitische Steinzeit hinter sich lassen? Der notwendige Übergang aus der medienpolitischen Steinzeit in die diesbezügliche Neuzeit ist zweifelsohne nahe einer Quadratur des Kreises. Nimmt man etwa die Presseförderung für den Printboulevard, so hat sich diese in ihrer Substanz seit den 1970er Jahren nicht geändert. Damals galt es, weil die Trafiken, die ihre Sonntagsöffnung einstellten, die seither (und auch bis heute!) öffentlich herumhängenden Zeitungstaschen zu subventionieren. Dass die Qualitätspresse nie eine adäquate, dem Boulevard analoge Unterstützung der öffentlichen Hand erfuhr, perpetuiert den mediensteinzeitlichen Zustand. Überdies wird der seit Jahrzehnten auch durch die versteckte Subventionierung des Boulevards durch (Landes-)Regierungsinserate noch verschärft. Ein ähnliches Fossil stellt die GIS-Gebühr dar: Aufgrund des Besitzes eines Radio- oder TV-Gerätes wird man zum Mitfinancier des ORF. Der Verfassungsgerichtshof hat dieses Modell 2022 nun kassiert und verlangt eine neue gesetzliche Regelung. Doch anstatt in eine öffentliche Diskussion über den öffentlichen Rundfunk einzutreten (die im Übrigen der ORF selbst hätte längst initiieren können!), mauerte die Regierung, bis Medienministerin Susanne Raab zuerst flüsternd, dann endlich deutlich über eine Haushaltsabgabe nachzudenken begann. Die soll es aber nur geben, wenn der ORF brav spart. Dieser Konnex ist allein schon eine „ Es ist völlig irrational, gegen eine Haushaltsabgabe zur Finanzierung des ORF zu sein. Aber in der Politik geht es oft wenig rational zu. “ politische Unsäglichkeit, denn er vermischt verschiedene Notwendigkeiten: Die GIS-Gebühr ist ungerecht, weil alle, die den ORF nutzen, aber das nicht via Radio- oder TV-Apparat tun, seine Angebote gratis bekommen bzw. die Gebührenzahler(innen) finanzieren ihnen das. Von daher ist eine Haushaltsabgabe, die gerechte Verteilung der Kosten des öffentlichen Funks auf alle, längst das Gebot der Stunde. In der Schweiz wie in Deutschland ist dies schon auf Schiene. Dass durch eine Verteilung der Lasten auf alle Nutzer(innen) der Beitrag der einzelnen Medienkonsumenten geringer wird, sollte auch evident sein. Von daher ist es völlig irrational, gegen eine Haushaltsabgabe zu sein. Aber in der Politik geht es oft wenig rational zu. Daneben sind auch andere Fragen zu stellen: Der ORF ist das bei Weitem größte Medienunternehmen im Land. Und wird eben zum Gutteil via Gebühren (bzw. dann durch eine Haushaltsabgabe) finanziert. Daneben gibt es den privaten Mediensektor, der gerade im Qualitätssegment von derartiger Alimentierung nur träumen kann. Es ist aber auch im öffentlichen Interesse, dass dieses Segment lebensfähig bleibt. Wenn etwa auf orf.at frei zugängliche Inhalte zu finden sind, die auch von anderen Medien – allerdings meist gegen Bezahlung – zur Verfügung gestellt werden, so ist das eine Schieflage. Daneben hat der ORF den Kultur- und Bildungsauftrag, sonst nicht Finanzierbares bereitzustellen. Das ist das Argument für eine Finanzierung durch „das Volk“. Dass man bei den Sparplänen aber genau in diesem Bereich ansetzt und etwa das RSO – ein kulturelles Aushängeschild – zur Disposition stellt (und nicht Unterhaltungsprogramme wie „Dancing Stars“ oder Sportübertragungsrechte in die Waagschale wirft), ist da eine Chuzpe. Der ORF sollte aufzeigen, wie viel er zur Kultur im Lande beiträgt (nur ein Beispiel: Österreichs Renommee als Filmland ist ohne den ORF, der viel davon kofinanziert, undenkbar). Diese kulturellen und auch politischen Notwendigkeiten wären darzustellen. (Warum nur tut der ORF das nicht zur Genüge?) Und die Gesellschaft sollte sich überlegen, was sie von ihrer größten Medienanstalt wirklich braucht. (Warum nur tut sie das nicht zur Genüge?) (Otto Friedrich) Zur Causa RSO siehe auch Seite 18 dieser FURCHE. Medieninhaber (Verleger): Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Herausgeber: Prof. Heinz Nußbaumer, Dr. Wilfried Stadler Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Anzeigen: Georg Klausinger (01) 512 52 61-30; georg.klausinger@furche.at Aboservice: (01) 512 52 61-52 aboservice@furche.at Alle: 1030 Wien, Hainburger Straße 33 (01) 512 52 61-0; vorname.nachname@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 Graz Jahresabo: € 181,– Uniabo (Print und Digital): € 108,– Das Abonnement kann frühestens zum Ende der Mindestbezugs dauer – unter Einhaltung einer sechswöchigen Kündigungsfrist – jederzeit schriftlich abbestellt werden. Wenn keine entsprechende Kündigung erfolgt, dauert das Abonnement ein weiteres Jahr bzw. im Falle eines Halbjahresabos weitere sechs Monate. Offenlegung gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. www.furche.at

DIE FURCHE · 8 23. Februar 2023 Diskurs 15 Das entsetzliche Erdbeben bringt den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zunehmend unter Druck. Eine Analyse der Hintergründe und möglicher politischer Folgen. Erdoğans PR-Manöver nach der Katastrophe Die hohe Zahl an Toten, welche die beiden Erdbeben vom 6. Februar gefordert haben – zuletzt stand der Zähler bei über 47.000 –, und die Bilder von Appartementblocks, öffentlichen Gebäuden und Kliniken, die wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen sind, haben Recep Tayyip Erdoğans Regime bis ins Mark erschüttert. Nach über 20 Jahren an der Macht und als Vorsitzender der Partei, die in der von den Beben verwüsteten Region die allermeisten Bürgermeister stellt, kann der Staatspräsident die Schuld mangelnder Vorsorge niemand anderem in die Schuhe schieben. Es gilt deshalb, das Image des Präsidenten und der Regierung erneut aufzupolieren. Ein Versuch in dieser Richtung war die pompös organisierte Spendensammlung am Freitag vergangener Woche. Mehr als 200 TV-Stationen und über 500 Radiosender übertrugen live ein sechs Sunden währendes Tamtam mit viel Beschwörung von nationaler Einheit und muslimischer Gemeinschaft. Die regierungsnahe Presse berichtet von knapp 19 Milliarden Dollar, die zusammengekommen sein sollen. Das ist freilich viel weniger als die 36,5 Milliarden Dollar, die der Bevölkerung während der Regierungszeit von Erdoğan als Sonderumlage zur Erdbebenvorsorge abgezwackt worden sind. Die Gelder wurden jedoch nicht dafür verwendet, sondern für Autobahnen, Brücken, Tunnels und Flughäfen – Großprojekte, die sich die Regierungspartei als ihr Verdienst auf die Fahnen geschrieben hat. „Wen wollt ihr hinters Licht führen?“ Wie sehr all das ein PR-Gag war, zeigt sich auch daran, dass der Großteil der Spenden in der Show von öffentlichen Stellen wie der Zentralbank, Staatsbanken und staatlichen Unternehmen stammt. Alles Institutionen, die von der Regierung abhängig sind und ihre Überschüsse ohnehin ans Schatzamt weiterleiten müssen. Was für ein Manöver! „Die öffentliche Hand spendet der öffentlichen Hand“, sagt dazu Ali Babacan, langjähriger Wirtschaftsminister Erdoğans, der heute in Opposition zu ihm steht, seine eigene Partei gegründet hat und fragt: „Wen wollt ihr damit hinters Licht führen?“ Zur Propaganda gehört auch, dass die regierungsnahe Presse die Hilfe von Kommunen unter den Tisch kehrte, die nicht unter der KLARTEXT Teilzeit und Familienzeit Foto: SWP Berlin DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Günter Seufert „ Die Opposition fürchtet, dass bei einer Wahlverschiebung gar kein Urnengang mehr stattfindet. Die Sorge ist berechtigt. “ Herrschaft von Erdoğans Partei sind. Regierungsnahe Fernsehsender brachten nur die Rettungsaktionen des staatlichen Katastrophenschutzes auf den Bildschirm – und blendeten die Lebensretter zivilgesellschaftlicher Gruppen aus. Gleich drei Oppositionsparteien beschwerten sich, von ihnen bestückte LKWs seien entweder aufgehalten oder gezwungen worden, die Hilfe als solche der Regierung oder von Erdoğans Partei zu deklarieren. Ein weiterer Schachzug, der das Ansehen von Erdoğan und seiner Partei vor der Wahl retten soll, ist die jetzt mit viel Medienrummel einsetzende Jagd auf Bauherren der in Trümmern liegenden Gebäude. Am vergangenen Sonntag waren bereits 131 dieser Unternehmer in Untersuchungshaft genommen worden, mancher am Flughafen kurz vor der Ausreise nach Georgien oder Montenegro, mancher im Hafen kurz vor der Überfahrt nach Griechenland oder im türkischen Nordzypern. Gegen 430 andere laufen Ermittlungen. Mit den Verantwortlichen in den Kommunen, welche die Einhaltung von Bau- und Sicherheitsvorschriften überwachen sollten und die Genehmigung zum Bau erteilten, beschäftigen sich die Staatsanwälte bisher freilich nicht. Längst hat sich Erdoğan die Justiz untertan gemacht – und die Staatsanwälte wissen, dass Ermittlungen in dieser Richtung die Freilegung der Korruption zur Folge haben würden, die in der Bauindustrie allgegenwärtig ist. Tatsächlich steht das Land vor zwei eng miteinander verwobenen Problemen. Die Missachtung von Bauvorschriften und die dazugehörige Korruption sind älter als die Regierungszeit von Erdoğan. Das ist der Grund dafür, dass sich die Bilder von 2023 und die von 1999 gleichen, als östlich von Istanbul bei einem Erdbeben gut 17.000 Menschen starben. Wie in den 1980er und 1990er Jahren war auch in den 2000ern der Städtebau ein Tummelplatz korrupter Politiker, die sich für die Manipulation von Stadtentwicklungsplänen und für die Zuteilung von Bauland genauso bezahlen ließen wie die Beamten in den Stadtverwaltungen, wenn es um die Kontrolle der Einhaltungen von Bauvorschriften ging. Wie lässt sich anders erklären, dass der Staatspräsident noch im Februar 2022, exakt ein Jahr vor den beiden Beben, die im Erdbebengebiet liegende Stadt Iskenderun angewiesen hat, als Risikogebiet eingestufte Flächen für die Bebauung freizugeben? Angst vor „Regierungsputsch“ Unter der Herrschaft Erdoğans hat sich die Lage aus zwei Gründen nicht gebessert und bisweilen gar verschlimmert: Erstens hat die überaus lange Regierungszeit von Erdoğans AKP in der Zentralregierung und in den Kommunen die Netzwerke von Korruption und Vorteilnahme noch größer und fester gewoben und sie undurchdringbar gemacht; und zweitens hat es Erdoğan 2018 vermocht, dem Land ein Präsidialsystem „türkischer Art“ aufzuoktroyieren, in dem er alle Fäden in der Hand hat und keine checks and balances mehr funktionieren. Weil er alles entscheidet, fürchtet er jetzt, für alles die Verantwortung tragen zu müssen. Das ist der Grund, warum seine Getreuen die noch immer offiziell für den 18. Juni angesetzten Wahlen um ein Jahr verschieben möchten. „Regierungsputsch“ sagt dazu die Opposition und fürchtet, dass dann gar keine Wahlen mehr stattfinden könnten. Die Sorge ist berechtigt. Der Autor ist bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin tätig (Forschungsschwerpunkt Türkei und Zypern) sowie freier Journalist. Ein Kreis schließt sich: In der vergangenen Kolumne (Nr. 4) habe ich zu Arbeitsmarktfragen „quergeschrieben“; in meiner ersten FUR- CHE-Kolumne vor acht Jahren habe ich die Bedeutung der Familienzeit angesprochen. Beides kulminiert in der aktuellen Teilzeitdebatte: Es ist zu akzeptieren, dass Unternehmen Arbeitskräfte mobilisieren wollen – und dass Frauenpolitik Teilzeitbeschäftigung zurückdrängen will; es ist aber nicht verständlich, warum nicht darüber gesprochen wird, wie wichtig es ist, in einer Familie Zeit füreinander zu haben. Dies wird erst erkannt, wenn Eltern mit Enkelkindern nachholen wollen, was sie mit ihren Kindern versäumt haben; wenn Erwachsene das Scheitern ihrer Beziehung reflektieren; oder wenn sich Kinder von den Eltern am Ende des Lebens verabschieden müssen. Teilzeit ermöglicht Familienzeit. Daher würde eine anhand von Lebensphasen differenzierende Teilzeitdebatte den biografisch unterschiedlichen Lebenssituationen gerecht werden und gesamtgesellschaftlichen Nutzen stiften: Teilzeitbeschäftigung in einer familienintensiven Phase darf nicht mit Teilzeit in anderen Lebensphasen gleichgesetzt werden. Wer alles über denselben Kamm schert, wird der Lebens realität der Menschen nicht gerecht! Haben wir das Recht dazu, Menschen mit Mitteln der Sozialpolitik in eine Richtung zu drängen, die weder ihren subjektiven Wünschen noch objektivem Bedarf entspricht? Ich meine, dass es Aufgabe der Unternehmen ist, Menschen ein ihren Wünschen adäquates Arbeitsangebot zu machen, das auch Teilzeit positiv sieht: Sie ist in bestimmten Lebensphasen ein Beitrag zum Gelingen von Familien; ihre Förderung ist auch soziale Verantwortung von Unternehmen! Ich danke für acht Jahre Möglichkeit, „Klartext“ zu schreiben – und freue mich, der FURCHE auch weiterhin verbunden bleiben zu können! Der Autor ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht und Leiter des Instituts für Familienforschung. Von Wolfgang Mazal ALSO SPRACH „ Es sollen ganz nüchtern und sachlich Problemfelder definiert werden. “ Stefan Ferenci, Obmann der Kurie angestellte Ärzte bei der Wiener Ärztekammer. Am Dienstag trafen sich Vertreter von Stadt Wien und Ärztekammer, um über aktuelle Probleme im Gesundheitssystem zu beraten. Die Stimmung vor dem Treffen war angespannt, zu einer sachlichen Diskussion, wie sie in der Politik Normalität sein sollte, musste man sich offensichtlich erst durchringen. ZUGESPITZT Zum Totlachen Eigentlich ist der Fasching nun vorbei. Eigentlich hätte die dienstägige Lei-Lei-Lustigkeit aus Villach – nach dem Wahnwitz aus Moskau – bereits das gesamte Spektrum des Menschseins ausgefaltet. Eigentlich wäre die Zeit nun reif für ein wenig Metanoia, für Umkehr, Buße und Aschenkreuz. Doch der Irrwitz hält sich hartnäckig. Beim politischen Aschermittwoch in Ried hat er gleich Galgenfrist bekommen. Und schon am Freitag hat er seinen nächsten Auftritt vor der OSZE in Wien. Zum Jahrestag der russischen Invasion wird Putins Delegation für Totlach-Propaganda in der Hofburg lustige Geschichten über die russische Unschuld erzählen – garniert mit Schenkelklopfern über westliche Dekadenz. Zur Abrundung könnten die russischen Gäste abends dann noch den Akademikerball besuchen, mit ihren blauen Brüdern im Geiste das Jungdamenund Jungherrenkomitee der Korporierten bewundern und das Tanzbein schwingen. Wie gut wir walzen und knicksen können, weiß Putin ja schon. Dass die Delegation noch vor dem Ball zum Flughafen eskortiert wird, weil ihr Visum keine rauschenden Feste umfasst, ist eher auszuschließen. Spiel- und Spaßverderber war Österreich ja noch nie. Doris Helmberger

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