8 · 23. Februar 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Drei Jahre Pandemie: „Aus den Fehlern lernen!“ Seit Corona ist das Verhältnis von Wissenschaft und Politik auf dem Prüfstand: Die „Wiener Thesen“ bieten neue Impulse. · Seiten 22–23 Der Papst als Kaiser der Kirche Medienpolitik ist management by chaos Der Denker der Apokalypse Peter Pawlowsky über den Katholizismus, der bis heute – wenig evangeliengemäß – auf Strukturen des Römischen Reiches fußt. · Seite 10 Otto Friedrich: Nicht nur das Gezerre um Haushaltsabgabe und Sparpläne für den ORF zeigt: Medienpolitik verharrt in der Steinzeit. · Seite 14 Er war ein Kosmopolit und Gesellschaftskritiker: Zum 100. Geburtstag des Religionsphilosophen Jacob Taubes. · Seite 17 Das Thema der Woche Seiten 2–8 365 Tage 8760 Stunden 525.600 Minuten Illustration: Rainer Messerklinger Am 24. Februar 2022 überfällt Russland die Ukraine. Reflexionen über eine historische Zäsur. Die Verbündeten versäumen es, wichtige Debatten zu führen: Wie kann Europa sicherheitspolitisch autonom werden? Wie langfristig mit China umgehen? Über bedrohliche Problemfelder. Das perfide Vorspiel Von Brigitte Quint Da gibt es diese Anekdote von Angela Merkel aus dem Jahr 2007. Deutschlands damalige Kanzlerin besuchte Wladimir Putin. Bekanntlich fürchtet sich Merkel vor Hunden. Das weiß auch Putin. Was ihn dazu ermunterte, einen seiner größten Hunde im Raum herumlaufen zu lassen. Überliefert ist, dass Angela Merkel tief durchatmete – und die Situation kommentarlos hinnahm. Dafür bekam sie im Nachhinein viel diplomatischen Beifall. Der Sukkus: Sie hat sich nicht provozieren lassen, Contenance bewahrt. Mittlerweile bezeichnen Diplomaten diese Lesart von damals als „Denkfehler“ und meinen nicht nur die Hundegeschichte damit. Es geht um den egozentrischen (besser gesagt eurozentrischen) Blick auf alles, was mit dem System Russland zusammenhängt. Auch um die eigene Naivität. So wurde Merkels Reaktion zum Symbol für die Tatsache, dass Europa mit Grenzüberschreitungen schwer umzugehen weiß. Wurde diese These in den vergangenen zwölf Monaten widerlegt? Die 27 EU-Staaten können mit einer Stimme sprechen, wenn sie unter extremen Druck gesetzt werden – das zumindest stellten sie unter „ Das Vetorecht verhindert Frieden. Es braucht mehr als die pädagogische Diplomatie eines António Guterres. “ Beweis. Ferner wurden Sanktionspakete geschnürt, die Zeitenwende ausgerufen, schwere Waffen geliefert, Kampfpanzer zugesagt. Auch half Europa gemeinsam mit den USA und Großbritannien indirekt, die Fortexistenz des ukrainischen Staates zu sichern. „Neuanfang im Streben nach Frieden“ Dennoch: Wichtige Debatten – wie etwa: Wie kann Europa sicherheitspolitisch autonom werden? – werden nicht geführt. Die Beschützerrolle der USA hat ein Ablaufdatum. Vor allem unter den Republikanern dominiert die kritische Sicht auf multilaterale Formate im Allgemeinen und die EU im Besonderen. Dennoch sind die Europäer in das alte Verhaltensmuster des Juniorpartners zurückgefallen. Eine supranationale Europaarmee, die dann einem EU-Verteidigungsministerium unterstellt ist, sollte endlich angegangen werden. Zwar wird über dieses „militärische Schengen“ unregelmäßig diskutiert; auch über die Gretchen frage, wer die Befehlsgewalt innehätte – doch das ist zu vage. Auch vor dem Hintergrund, dass man in Brüssel offen ausspricht, dass der Konflikt mit Russland nur ein perfides Vorspiel dessen sei, was langfristig auf die Welt gemeinschaft zukomme: Sicherheitsexperten mutmaßen, dass China in zwei, drei Jahren Taiwan „heim ins Reich holt“ (so die chinesische Bezeichnung für Invasion). Viele halten das ohnehin für den wahren Grund des US-Überengagements in der Ukra ine: Man glaube dort, Peking beobachte genau, wie mit einem Akteur umgegangen werde, der ein souveränes Land überfallen habe, heißt es in Washington. Eine Prognose, die zum nächsten Problem feld führt: dem UN-Sicherheitsrat. Bei dessen erster konstituierender Sitzung 1946 sprachen die Gründer von: „Neuanfang im Streben nach Frieden“ – und dass man es sich diesmal nicht leisten könne, zu versagen. Man hat aber versagt. Die mächtigsten Staaten der Welt können durch ihr Vetorecht Frieden verhindern – wenn dieser nicht in ihrem Interesse liegt. Dass Reformen kein Thema sind, ist verstörend. Es braucht mehr als die pädagogische Diplomatie eines Generalsekretärs António Guterres. Apropos Verhaltensmuster. Wie hätte Merkel auf Putins Hund reagieren sollen? Den Hund vom deutschen Geheimdienst vergiften lassen, wie es der Spiegel einmal halbernst vorgeschlagen hat? „Das wäre die Sprache gewesen, die Putin versteht. Aber eine, die wir nicht sprechen.“ Zumindest hätte Merkel darauf bestehen sollen, eine Atmosphäre zu schaffen, die ihr behagt. In Militärsprache heißt das: an Bündnissen festhalten oder diese ausweiten; aufrüsten, statt sich angreifbar zu machen; Wege finden, um abtrünnige Bündnispartner (Orbán, Erdoğan) zu „erziehen“. brigitte.quint@furche.at INTRO Das vergangene Jahr ist kaum in Worte zu fassen. Und die Tatsache, dass es schon Krieg in der Ukraine gab, bevor Wladimir Putin am 24. Februar 2022 Panzer über die Grenze rollen ließ, macht es noch komplizierter. „365 Tage – 8760 Stunden – 525.600 Minuten“: Diese nüchternen Kennzahlen der neuen Zeit seit der „Zeitenwende“ hat Brigitte Quint letztlich für ihren achtseitigen Schwerpunkt zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine gewählt. Nicht nur Putins Invasion, auch die Pandemie jährt sich dieser Tage – freilich bereits zum dritten Mal. Georg Cavallar analysiert, wie sich Pseudowissenschaft und Aberglaube in dieser Zeit entwickelt haben – und Martin Tauss fasst die „Wiener Thesen“ genannten Lehren für wissenschaftliche Politikberatung zusammen. Welche Lehren die katholische Kirche aus ihrer Geschichte und Gegenwart ziehen sollte, beschreibt Peter Pawlowsky in einem bemerkenswerten Essay. Otto Friedrich kommentiert zudem die jüngsten, bedenklichen Ankündigungen zum ORF. Das Feuilleton eröffnet schließlich mit einer Erinnerung an den schillernden Religionsphilosophen Jacob Taubes, der dieser Tage 100 Jahre alt würde. Die Eschatologie – die Erwartung des Weltendes – stand im Zentrum seiner Arbeit. Er hätte dieser Tage viel zu tun. (dh) furche.at Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE