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DIE FURCHE 23.01.2025

3 · 16. Jänner 2025DIE

3 · 16. Jänner 2025DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 81. Jg. · € 6,–häufiger zu hören bekommt. Auch seiendie Zeiten, in denen die Kirche pauschaleWahlempfehlungen ausspreche, vorbei. Esgeht aber weder um das strategische Abwägennoch um eine einmalige Wahlempfehlung.Gefragt wäre vielmehr eine eindeutigeAnsage, dass eben jenes Menschenbild,Von Till Schönwälderdas die FPÖ vertritt, mit dem christlichenWertesystem nicht vereinbar ist. Das istauch der Kirchenbasis ein Anliegen, wieerbert Kickl steht fast am Ziel Unsere deutschen Nachbarn haben hier die Pastoraltagung in Salzburg zum Thema„Christ:in sein für eine demokrati-seiner politischen Ambitionen.Mit großer Wahrschein-teien und solche, die am Rande dieser IdeoscheGesellschaft“ mit rund 400 Teilneh-einen anderen Zugang. „Rechtsextreme Parlichkeitund dank gütlicher logie wuchern, können für Christinnen und menden in der vergangenen Woche zeigteMithilfe der ÖVP wird er wohl Christen daher kein Ort ihrer politischen (siehe Seite 15) .in Kürze als erster FPÖ-Politiker zum Bundeskanzlerangelobt werden. Vom Bundes- bar“, heißt es in einem im Frühjahr 2024 es sich mit den Machthabern verscherzt –Betätigung sein und sind auch nicht wähl-Was nützt es der Kirche aber, wenn siepräsidenten abwärts, über die Zivilgesellschaft,Hilfsorganisationen und Religions-katholischen Bischofskonferenz zur Po-einer Riege von Politikern kollektiv ver-veröffentlichten Beschluss der deutschen in einer in Zeit, in der „Gutmenschen“ vongemeinschaften sprechen sich maßgeglicheStimmen gegen die Koaltion aus. Auch missverständlich. Und weiter: „Die Konzenlichgeht es um das Bewahren der eigenenlitik der AfD. Ein Satz, so einfach wie ununglimpftund beschimpft werden? Letzt-die meisten Österreicherinnen und Österreicherfühlen sich beim Gedanken daran eigene Volk geht notwendig einher mit eischeidendenMomenten nicht wegzuducken.tration auf das kulturell homogen gedachte Überzeugungen und darum, sich in den ent-nicht wohl – über 70 Prozent wählten Par- ner Verengung des Solidaritätsprinzips, Wie schnell es gehen kann, dass die Kircheteien, die eine Zusammenarbeit mit Kickl das in der katholischen Soziallehre zentraleBedeutung hat Lj…lj, Rechtsextreme verlanlitikwird, zeigt der Blick nach Ungarn, wozur Erfüllungsgehilfin einer illiberalen Po-vor der Wahl dezidiert ablehnten.Und die Kirchen? Die Abgrenzung, sowohlvon katholischer als auch evangeli-sie die Solidarität innerhalb des völkisch- tor Orbán regt. Im Gegenzug wird die Kirgennach einem ‚Sozialpatriotismus‘, womit sich katholischerseits kaum Kritik an VikscherSeite, bleibt vage. Zu einzelnen Punktenbeziehe man Stellung, so die Kirchen, Auch der selbsternannte „Volkskanzler“ bei der Durchsetzung einer Familienpolitiknational verstandenen Volkes meinen.“ che finanziell gut ausgestattet – und auchetwa wenn es um den Schutz von Rechtsstaatlichkeit,Demokratie oder der Religions- gesellschaftlicher „Homogenität“.Das kann man natürlich gut finden; trotz-Kickl träumt im Wahlprogramm der FPÖ von in ihrem Sinne unterstützt.freiheit geht. Eine kategorische Absage andem sollten die Kirchen nicht vergessen,die Politik der Freiheitlichen will hierzulandeaber keinem kirchlichen Spitzenfunktio-Dass die deutsche Kirchenkritik den lichen Wertekompass zu konfrontieren.Eindeutige Ansagendie weltlichen Machthaber mit dem christnärüber die Lippen kommen. Zu lange ist die Durchmarsch der AfD vor allem in den ostdeutschenBundesländern letztlich nicht können, man habe es nicht besser gewusst.Letztlich soll im Nachhinein keiner sagenFPÖ bereits im politischen Mainstream angekommen,zu viele Kirchenbeitragszahler machenihr Kreuz mittlerweile bei den Blauen. te, das man von heimischen Bischöfenverhindern konnte, ist eines der Argumentill.schoenwaelder@furche.atHerbert Kickl könnte künftig im Kreis derEU-Staats- und Regierungschefs Platznehmen. Droht ein Horrorszenario – oderbloß business as usual? Seite 7Am 18. Jänner feiert er sein großes Abschiedsfest.FURCHE-Autor Andreas Batloggmit einem persönlichen Rückblick auf die„Ära Schönborn“. Seite 10In ganz Österreich leiden kleine Gemeindenunter aussterbenden Ortskernen. EineFURCHE-Reportage über die Mühen, dasLeben am Land wiederzubeleben. Seiten 12–13Einschnitte beim ORF oder gekürztePresseförderung: Eine Analyse, wie dieMedienpolitik einer blau-schwarzenRegierung aussehen könnte. Seite 20Imaginationsforscher Walter Ötsch überpolitische Bildsprache, rechtspopulistischeSchauspielkunst und seine Erwartungen beieiner FPÖ-geführten Regierung. Seite 23@diefurche@diefurche@diefurche.bsky.socialDie FurcheÖsterreichische Post AG, WZ 02Z034113W,Retouren an Postfach 555, 1008 WienDIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 WienTelefon: (01) 512 52 61-0bewerten. Doch Friedrich Nietzschewarnt, die Rede von der „Gerechtigkeit“– heute etwa in der„Sozialen Gerechtigkeit“ oder der„Gerechtigkeit und„Klimagerechtigkeit“ – sei ein abstoßendesSymptom: Er sprichtRache, den Verbrecherverfolgend“von „als Richter verkleidetenzeigt dieses BildRachsüchtigen, die Gerechtigkeitvon Pierre-Paulwie einen giftigen Speichel imPrud‘hon aus 1806.Munde tragen“ und nennt sie „moralischeSelbstbefriediger“.Da fragen sich Leserinnen undLeser hundert Jahre später: Wassoll denn ausgerechnet am Strebennach Gerechtigkeit auszusetzensein? Laut Nietzsche verhältsich so mancher Tugendwächterso, „als ob Gesundheit, Wohlgeratenheit,Stärke, Stolz, Machtgefühlan sich schon lasterhafteDinge seien, für die man einst büßenmüsse“. Darin erkennt er eineUmkehrung der Werte: Wo früherzwischen gut und schlecht oderstark und schwach geteilt wurde,würde man nun zwischen gut undböse trennen. Die vormals Schwachennähmen dabei für sich in Anspruch,„gut“ zu sein, während allesErfolgreiche von nun an „böse“heißen soll.Am Kreuz der VergangenheitNietzsche würde sich wohl bestätigtfühlen, wenn er die heuteoft vorgetragene Rede von „Privilegien“hören würde, für die mansich zu schämen habe. Laut Nietzschekönnte es „gar kein größeresund verhängnisvolleres Missverständnisgeben, als wenn dieGlücklichen [...] anfingen, an ihremRecht auf Glück zu zweifeln“.Das gilt auch für plakative Kritikan großem Reichtum: Ursprünglichals ein erstrebenswertes Ziel,also als ein Wert angesehen, wirdReichtum heute von manchen alsper se unmoralisch dargestellt.Von Philipp AxmannDer Wert ist umgewertet. Wortwörtlichist so eine Umwertungan konnte HerbertKickl seinenEine ganz andere Sicht auf dasper-vers: Nämlich ver-kehrt.Genuss aus demRessentiment hatte der österreichischeWiderstandskämpfer ge-Gesicht ablesen,als er vergangeneWoche erstmals vor die Medi-Améry. Er überlebte mehreregen den Nationalsozialismus Jeanen trat, nachdem ihn BundespräsidentAlexander Van der Bellenfentlichte 1956 den EssaybandKonzentrationslager und veröf-mit der Regierungsbildung beauftragthatte. In einer ausführli-Darin bekennt er, Ressentiment„Jenseits von Schuld und Sühne“.chen Rede erklärte er, es falle ihmgegen das Deutsche Volk zu fühlen,und verteidigt sein Gefühlnicht leicht, mit der Volksparteiund ihrem neuen Chef Christianals historisch nützlich. AnstattStocker überhaupt zu reden, nachdie Gräueltaten zu vergeben, seiallem, was passiert sei. PassiertRessentiment notwendig, um einist, dass unzählige ÖVP-Funktionärewie Stocker monatelang beiich mich für nichts revanchieren. Am stärksten wächst es, wenn die Ressentiment ist aber auch heutieren.„Wer vorschnell verzeiht,„Niemals vergessen“ zu garan-jeder Gelegenheit ihr MisstrauenDas deutet schon das Wort „revanchieren“an: Wortwörtlich aus sal empfunden wird, das eigetischesPhänomen. Es erstreckt zeitig gab er zu, wie sehr er un-eigene Verletzung gar als Schicktenoch ein weit verbreitetes poli-leugnet die Geschichte.“ Gleich-zu ihm kundtaten und ihn als„Sicherheitsrisiko“ bezeichneten.dem Altfranzösischen übersetzt ne Dasein als etwas zu Rächendesgesehen wird. So schreibt der le politischen Lager hinweg. Am Ressentiment nagelt uns fest anssich von links bis rechts über alterseinem Ressentiment litt: „DasUnd nun will eben jene ÖVP mithieße es etwa „zurück-vergelten“.Kickl über eine Koalition verhandeln,ihn zum ersten FPÖ-es Geschichte. Doch aus dem Geschreibtdamit etwas, das man Identitätspolitik. Dem Politikwisgangenheit.“Ist ein Unrecht vergolten, ist Philosoph Max Scheler – und be-deutlichsten erkennt man es in der Kreuz unserer zerstörten Ver-Kanzler machen. Für Kickl ist esfühl der Kränkung kann sich heute als Opfermythos bezeichnenwürde. Aus dem einzelnen zufolge handelt der politische sentiment eines Jean Améry vonsenschaftler Francis Fukuyama Was unterscheidet nun das Res-die größtmögliche Genugtuung.mehr entwickeln: Wird ausEr beleidigt den möglicherweisedem Verletztsein ein Lebens- Racheakt wird das Lebensgefühl Mensch nicht nur von wirtschaftlichenInteressen getrieben, er ist Herbert Kickl? Ob Ressentimentdem eines Donald Trump oderzukünftigen Koalitionspartner,gefühl, eine Obsession, dann entstehtRessentiment, also das ewikeitsei ein Symptom der Rach-nicht nur homo oeconomicus, son-berechtigt ist, liegt letztlich da-der Rachsucht. Große Verletzlich-Lesen Sieindem er einerseits „die Handüber das Wortausstreckt“ und gleichzeitig betont,er sei vor der Unverlässlich-auch: „RessentirichNietzsche ist Ressentiment Im schlimmsten Fall wird Res-tieferes Gefühl: Das Streben nach zung stattfand, ein Unrecht, das„Ressentiment“ ge „wieder-fühlen“. Laut Friedsüchtigen,schreibt Scheler. dern ihn motiviert auch noch ein ran, ob eine tatsächliche Verletkeitder ÖVP gewarnt worden. ment erkunden“ ein unerfüllter Wunsch nach Vergeltung.Die Betonung liegt dabei färbenden Brille, durch die allein um die Anerkennung der Wür-Herbert Kickl jedenfalls hat insentiment zur alles schwarz Anerkennung. Genauer gesagt es zu sühnen gilt.von BrigitteWunsch nach VergeltungSchwens-Harrant(25.4.2019)auf „unerfüllt“: Wer sich wehren man die Welt noch wahrnehmen de der eigenen Identität. Oftmals seiner Pressekonferenz betont, erEs ist die süße Rache einesoder revanchieren kann, tut es kann. Wozu Ressentiment als allesdurchdringende Ideologie penidentität. Wurde eine Grup-sondern in die Zukunft schau-geht es dabei auch um die Grup-wolle nicht in die Vergangenheit,auf furche.at.Mannes, dem – zumindest in seinenAugen – Unrecht widerfah-Rache zu üben, entwickelt die gif-führt, zeigte der Holocaust. Der pe historisch diskriminiert, etwa en, „Unverzeihlichkeit führt zugleich selbst. Nur wer unfähig ist,ren ist. Aus Sicht des Gekränktentige tiefe Abneigung namens Ressentiment.Das Gefühl ist immer ten zufolge war er nur die gerech-ihr Befreiungskampf als das Stre-Lässt sich nur hoffen, dass dieRhetorik der Nationalsozialis-Frauen oder Schwarze, so kann nichts“.besteht die Ungerechtigkeit darin,dass Sebastian Kurz im Nachhallder Ibiza-Affäre den Bundesgenheitverbunden. Es liegt nah verschwörung der Juden, die an dige Menschen gelesen werden. verzeihen ist nicht nur psycholo-auch mit einer gewissen UnterleteRache für die angebliche Welt- ben nach Anerkennung als wür-Einsicht authentisch ist. Denn zupräsidenten um die Entlassungam Minderwertigkeitskomplex. überhaupt allem schuld seien. Genau darum geht es etwa in der gisch der gesündere Weg: ManKickls als Innenminister bat.„Black Lives Matter“-Bewegung in möchte sich auch keine Republik(Wahrgenommene) Ungerechtigkeitund Leid sind auch jenseitsbrutalität an Schwarzen einsetzt. in erster Linie von Ressentimentden USA, die sich gegen Polizei-vorstellen, deren Regierungschefdes Beispiels Kickl die Voraussetzungfür Rache. Wo mir niemandStreben ist keinesfalls von vorn-bald das ganze Land am KreuzDas Beispiel zeigt schon: Dieses getrieben ist. Dann hinge wohletwas Schlimmes getan hat, kannherein als moralisch falsch zu der Vergangenheit.DIE FURCHE · 416 Diskurs23. Jänner 2025IHREMEINUNGSchreiben Sie uns unterleserbriefe@furche.atFehlende Stimmen?Gegen das WegduckenVon Till SchönwälderNr. 3, Seite 1Vielen Dank für Ihren Leitartikel, demich vollinhaltlich zustimme – auchIhrer Kritik am Fehlen eindeutigerStimmen kirchlicher Spitzenfunktionärezur Unvereinbarkeit desFPÖ-Menschenbildes mit dem christlichen!Kirchliche Stimmen dazu gibtes in meiner Wahrnehmung allerdingssehr wohl. Neben gelegentlichen Stellungnahmenaus den Reihen der KatholischenAktion Österreich darf ichauch auf zahlreiche Äußerungen derKatholischen Sozialakademie Österreichs– ksœ im Vorfeld der letztenNationalratswahl, aber auch seitherverweisen. Über all diese „Produkte“aus der ksœ-Werkstatt werdendie Bischöfe und andere kirchlicheStakeholder, aber auch die medialeÖffentlichkeit regelmäßig informiert.Leider ist die Resonanz darauf aberüberschaubar und Ihre Wahrnehmunginsofern leider zutreffend.Dr. Markus SchlagnitweitDirektor der KatholischenSozialakademie – ksœ, 1010 WienSich selbst einbringenwie obenGerade jetzt (stell ich mir vor) wirdDonald Trump inauguriert, geradejetzt sitzen sich Kickl und Stockermit Tross gegenüber und feilschen,was das Zeug hält (ich will’s mirnicht vorstellen). Als eine der 400Teilnehmerinnen und Teilnehmer derjüngsten Pastoraltagung in Salzburg –inspiriert und frustriert zugleich –Ressentiment: Verletztsein als Obsession Juden sind nicht vorgesehen Ständig bedrohte FreiräumeEgal ob Kickl oder Identitätspolitik: Da wie dortMit einer FPÖ-Regierung wird die Situation fürEine Geschichte der österreichischen Kultur in Zeitengeht es um Rache. Ein Essay über die politischeÖsterreichs Juden noch schwieriger. Eine Analyse des Austrofaschismus von 1933 bis 1938 zeigtEmotion der Stunde. · Seite 8zum „Tag des Judentums“. · Seite 9diese als „Maskeraden“. · Seite 19Das Thema der WocheSeiten 2–5Die Kirchen werden angesichts einer FPÖ-Regierung klarere Worte finden müssen. Die Abgrenzungzu Rechtsextremisten ist keine Frage der Strategie, sondern der christlichen Werte.Gegen das WegduckenHWorthalten„ Gefragt ist eine eindeutigeAnsage, dassdas Menschenbild derFPÖ mit dem christlichenunvereinbar ist.“Am 20. Jänner wird Donald Trumpgeloben, die Verfassung zu schützen.Wer soll ihm das glauben? Und werglaubt noch der hiesigen Politik?Über Eide, Schwüre und falscheVersprechen.Foto: iStock/TheYok (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)Bild: iStock/kutberkVom VerlangengeprägtSechs Personen und eine Raumstation,ein Tag und sechzehnUmrundungen: Die britische AutorinSamantha Harvey wirft in ihrem mitdem Booker Prize ausgezeichnetenRoman „Umlaufbahnen“ vielfältigeBlicke auf Mensch und Erde.AUS DEM INHALTRechte Brüsseler SpitzenNähe zeigen kann erDörfer, die nicht sterben wollenKahlschlag am Küniglberg„Wissenschaftsfeindliche FPÖ“furche.atSeite 17macht sich ein Gedanke immer mehrbreit in mir: Was, wenn gerade dieseaktuelle Situation der Dünger ist, aufdem synodale Kirche wächst? Was,wenn wir Getaufte – mit priesterlichprophetischerund königlicher Würdeausgestattet – uns wirklich dieserMacht bewusst werden, und … etwasmachen? Uns selbst lieben undden Nächsten, achtsam schauen,was sich tut um uns herum, in denMedien und im Netz? Uns der damitverbundenen Verantwortung bewusstwerden – responsability – responseability – und mit unseren Fähigkeitenantworten? Wenn Kirche zu vernetztist mit Politik, zu sehr befangen – ichbin es nicht, und du auch nicht. Denn„die Kirche“, synodal gedacht, sindWIR. Schreibt Leserbriefe, war einAppell in Salzburg – hier ist er!Petra LexPastorale Mitarbeiterin, SeelsorgeraumGraz-Mitte, Pfarre St. Andrä,Pfarrer Karlau, ReligionsForFutureNicht kleinredenwie obenEs steht Ihnen selbstverständlich frei,die katholische Kirche Österreichs zuschelten und die deutsche ob ihrerKritik zu loben. Doch die deutscheKirche tut sich leicht: In den AfD-starkenehemaligen DDR-Bundesländernbesucht kaum eine Kirchenmaus,auch nicht bei den Luther-Ablegern,eine Messfeier. Konfessionslosedominieren, auch am Land. Die Kritikstreift also auch keine AfD-Gläubigen.Wenn sich also bei uns die Kirchebeim Schutz für Rechtsstaatlichkeit,Demokratie, Religions- und Meinungsfreiheitaktiv einbringen wird,so sollte man dies, FPÖ hin oder her,nicht (aus Frustration?) kleinreden.Franz Kryscin, SchlierbachWehret den Anfängen!Aus der Redaktion, Nr. 3, Seite 2Die jüngsten Äußerungen maßgeblicherFPÖ-Parlamentarier zeigen inverstörender Weise, was diese Parteimit unserem Land – Pressefreiheit,Öxit etc. – vorhat. Die sozio-ökologischeTransformation unserer Gesellschaftkann nur in einer offenenDemokratie gelingen. Denn nur dieseermöglicht Meinungsvielfalt unddamit den konstruktiven Diskurs, ummit allen Kräften im Land und mitunseren EU-Partnern zu den bestenLösungen für unsere Zukunft zu kommen.Wir fordern alle demokratischenKräfte im Lande auf, ihrer politischenVerantwortung gerecht zu werden:Wehret den Anfängen!Dr. Tilman Voss, Co-ObmannGrandparents for Future AustriaMosaikstein zu SchönbornNähe zeigen kann erVon Andreas R. Batlogg, Nr. 3, S. 10Dem bunten Bild, das der JesuitAn dreas Batlogg von KardinalSchönborn zeichnet, erlaube ich mirkritisch ein weiteres Mosaiksteinchenhinzuzufügen. In seiner Skepsisgegenüber der historisch-kritischenBibel exegese hat der Wiener Erzbischofnicht nur den aus Aachenstammenden Wiener Neutestamentlergemaßregelt, sondern auch mitdem Sager „Kremer-Sumpf“ vieleseiner SchülerInnen desavouiert, obwohldaraus sehr viel Segensreichesin Predigt, Religionsunterricht undBildungswerk resultierte.Dr. Georg Geiger, 1030 WienDIE FURCHE · 38 Politik/Philosophie16. Jänner 2025MDie ÖVP demütigte Herbert Kickl. Jetzt revanchiert er sich. Um dieWiederherstellung von Gerechtigkeit geht es auch in größeren Phänomenenwie Identitätspolitik. Über die politische Emotion der Stunde: Rache.Verletztsein alsObsession„ Wer sich wehren oder revanchieren kann, tut es gleichselbst. Nur wer unfähig ist, Rache zu üben, entwickelt diegiftige tiefe Abneigung namens Ressentiment. “Exquisit und klugNiemandkommt ausPurzigagl statt Kickl und TrumpNewsletter von Philipp Axmann10. Jänner 2025Ganz leicht und sozusagen exquisitund klug geschrieben. Mundig wieein Blätterteig, den meine Mutteruns, lang, lang ist’s her, auf denTeller legte, und sie legte einenschönen Fetzen Schlagobers drauf.Sie kam aus Böhmen.Die österreichische wie diedeutsche Politik erinnert mich ansWellen surfen. Das mag einem durchtrainiertenSportler guttun, vomdefinitiven Platsch in die Flut bleibter meist nicht verschont. Die Gischtin den derzeitigen Turbulenzen istzwar noch nicht amerikanisch. Aberwir werden wohl Zeugen von prekärenEntwicklungen werden. Für dieaufmerksame Berichterstattung derFURCHE danke ich ausdrücklich.Franz Spichtinger, BayernHINWEIS:Unsere Newsletter können Sie unterfurche.at/newsletter abonnieren!Foto: IMAGO / Photo12Geweiteter BlickVerletztsein als ObsessionVon Philipp Axmann, Nr. 3, Seite 8Danke für diesen wunderbar erhellendenArtikel. Sie haben meinen Blickwieder vom Klein-Klein der Tagespolitikauf das große Ganze geweitet.Manuela Pertschy, via MailMit Zucker hinuntergleitenFokus zum Thema Zucker:„Süß, korrupt, tödlich“Von Magdalena Schwarz undMartin Tauss. Nr. 2, Seiten 6–8Es ist vernünftig, zu behaupten, dasssich eine Arznei mit einem LöffelZucker leichter schlucken lässt. Aberist es einleuchtend, dass ein LöffelZucker auch Tomatenketchup, Meerrettich,Gewürze oder Salatsoßenleichter „hinuntergleiten“ lässt? Oderwie steht es mit Brot, mit Gemüsekonservenund – man möchte eskaum glauben – mit Salz? Brauchteine Brezel unbedingt Zucker? SindSie nicht überrascht, dass in einerscharfen Würzsoße fast genauso vielZucker enthalten ist wie in Eiscreme?Ing. Harald W. Schober, 8160 WeizLiebe und MenschlichkeitWeihnachten neu denkenLeserbrief von DI Helmut Waltersdorfer,Nr. 51/52, Seite 24 zuEin gutmütiger Idiot?Von Theresia Heimerl, Nr. 50, S. 3Als 99-jähriger – und damit wohleiner der ältesten – FURCHE-Leserhat mich der Leserbrief von HelmutWaltersdorfer ermutigt, ein paarZeilen zu schreiben. Ich möchte FrauProf. Heimerl von Herzen danken fürihren Artikel. Denn theologische Textemuss man doch als solche lesenund kann diese nicht nach anderenMaßstäben beurteilen. Wenn manden Text aber als geistlichen Textliest, dann erschließt sich ein tieferSinn, der auch für uns heute nochgroße Bedeutung hat. Was mich anJosef besonders fasziniert, ist seineFreundschaft mit Maria. Als er merkte,was in Maria vorging, hat er sicherüberlegt, sie zu verlassen. SeineOffenheit für das Sprechen Gottes imTraum, seine Menschlichkeit, Achtungund Liebe haben ihn aber veranlasst,bei Maria zu bleiben. So hielt JosefGottes Sohn als Erster in Händen.Ich hoffe, dass das Geheimnis vonWeihnachten unser Herz immer vonneuem berührt, uns staunen lässtund darin auch unserer persönlichenMenschwerdung dient.Friedrich Sallingervia Mail5 Millionen Euroextra bei Euro-Millionen sorgenam 24. Jänner 2025exklusiv in Österreichfür 50 malextra-FreudeSuperBonusbringt 50 mal100.000 EuroAm Freitag, den 24. Jänner2025 ist wieder EuroMillionenÖsterreich SuperBonus-Tag. Dasbedeutet, dass an diesem Tagexklusiv in Österreich insgesamt5 Millionen Euro extra in Formvon 50 mal 100.000 Euro ausgespieltwerden. Verlost werdendiese 50 Zusatzgewinne unterallen EuroMillionen Tipps, die inÖsterreich für die Ziehungen amDienstag, den 21. Jänner sowieam Freitag, den 24. Jänner abgegebenwerden.Die gewinnbringenden Quittungsnummernwerden unteranderem auf win2day.at, imORF-Teletext und in den Annahmestellender ÖsterreichischenLotterien bekannt gegeben.Im Vorjahr gab es übrigens zweiSuperBonus-Runden, und dabeiwaren stets Spielteilnehmer:innenaus allen neun Bundesländernunter den Gewinnern.Der Österreich SuperBonus bringtexklusiv in Österreich 50 mal100.000 Euro extraFoto: © Anna Lena Duschl / Österreichische LotterienIN KÜRZERELIGION■ Papst löst „Sodalicio“ aufRELIGION■ Regierungschefin im VatikanBILDUNG/GESELLSCHAFT■ Überlastung in KindergärtenWISSEN/POLITIK■ Unis warnen vor AbschottungPapst Franziskus hat offenbar die umstritteneBewegung „Sodalitium Christianae Vitae“aufgelöst. Das geht aus einer am 20. Jännerauf der Generalversammlung der katholischenGemeinschaft im brasilianischenAparecida veröffentlichten Mitteilung hervor.2023 hatte eine kirchenrechtliche Untersuchungschweren Machtmissbrauchund sexualisierte Gewalt innerhalb der ausPeru stammenden Gemeinschaft ans Lichtgebracht, die in Lateinamerika kurz „Sodalicio“genannt wird. Die 1971 gegründeteGemeinschaft wurde 1997 vom Vatikan offiziellanerkannt und soll über rund 20.000Mitglieder verfügen.Papst Franziskus wird Schwester RaffaellaPetrini (56) im März zur ersten Regierungschefinim Vatikan ernennen. Das sagte derPontifex am 19. Jänner in einer Talkshowim italienischen Fernsehen. Petrini ist seit2021 Vizegouverneurin des Vatikanstaates.Seit Juli 2022 Mitglied der Kurienbehördefür Bischöfe, stimmt sie auch über Bischofsernennungenmit ab. In ihrer neuen Funktionwird sie die Nummer eins im Staat derVatikanstadt – nicht an der Kurie. Vatikanstaatund Heiliger Stuhl sind, trotz der umgangssprachlichenBezeichnung Vatikan,juristisch zwei verschiedene Völkerrechtssubjekte.An der Spitze beider steht der Papst.Fast 70 Prozent des Personals in VorarlbergerKindergärten und Kleinkindeinrichtungenerwägen einen Jobwechsel. Das zeigteine Umfrage der Arbeiterkammer Vorarlbergunter 1300 Personen. Als Gründe nennensie die konstante Überlastung und dieschwierigen Rahmenbedingungen. So beklagendie Betreuerinnen und Betreuer, nurwenig auf die Bedürfnisse der Kinder eingehenzu können. Mehr als die Hälfte derBefragten gab auch an, dem Bildungsauftragnur teilweise gerecht werden zu können.Ein weiteres Problem sei die schlechteräumliche Ausstattung, es fehlten etwa Pausenräumeund adäquate Arbeitsplätze. Die Universitäten warnen im Zusammenhangmit den Regierungsverhandlungenzwischen FPÖ und ÖVP vor dem Bauen von„Festungen“ und „Abschottung“. Außerdemmüsse die Freiheit, auch jene von Wissenschaftund Kunst, immer wieder neu verteidigtwerden, betonte die Vorsitzende der Universitätenkonferenz(uniko), Brigitte Hütter,beim uniko-Neujahrsempfang: „Wenn kritischeStimmen durch mangelnde Geldmittel,eine Förder- oder Einsparpolitik oder garauf direkteren Wegen Gefahr laufen, zumSchweigen gebracht zu werden, dann wackelndie grundrechtlichen Freiheiten vonWissenschaft und Kunst.“

DIE FURCHE · 423. Jänner 2025Literatur17Von Erich KleinLandschaft, heißt es, seiein Zustand der Seele.Ganz besonders trifftdas auf den sowjetischenSchriftsteller WassiliGrossman und dessen Berichtüber seine Reise nach Armenienzu: „Grünlich grauer Stein, nichtals Berg, nicht als Fels steht erda, er ist flaches Geröll, steinernesFeld; der Berg ist gestorben,sein Skelett zerfallen. Die Zeit hatihn altern lassen, abgetötet, undnun liegen die Knochen des Bergsam Boden.“Noch wenige Jahre davor war einemögliche Verleihung des Stalinpreisesan den linientreuen AutorGrossman zur Diskussion gestanden,am Vorabend seiner Fahrt indie Kaukasusrepublik wurde aberdas Manuskript seines Stalingrad-Romans „Leben und Schicksal“von der Staatssicherheit beschlagnahmt.Das an Tolstojs „Kriegund Frieden“ orientierte Opusmagnum, an dem Grossman seitKriegsende gearbeitet hatte, warpraktisch vernichtet ...In einer assimilierten jüdischenFamilie in Berditschew (heuteUkra ine) als Sohn eines Ingenieursund einer Französischlehrerin1905 geboren, besuchte WassiliGrossman Schulen in derSchweiz und in Kiew, in Moskaustudierte er Chemie. „Die StadtBerditschew“, sein erster literarischerVersuch von 1934, behandeltPogromstimmung und kommunistischenWiderstand währenddes Bürgerkriegs, seine ersten Romaneaus dem Geist des sozialistischenRealismus spielen im Kohlerevierdes Donbass, wo Grossmannach dem Studium als Sicherheitsexperteim Bergbau gearbeitet hatte.Wichtigster Förderer des linkenJungautors ist Maxim Gorki.Zuckerbrot und PeitscheFoto: Getty Images / Tigran Hayrapetyan1961 reiste der in Berditschew geborene Schriftsteller Wassili Grossmannach Armenien. Das Buch, das daraus entstand, fokussiert ausgewogendas Fremde wie das Eigene und ist ein berührendes Zeugnis von Respekt.„Barew dses –alles Gute euch“Die buchstäbliche Feuertaufeerlebt Grossman als Korrespondentder Armeezeitung KrasnajaSwesda während der Schlachtvon Stalingrad – der Zweite Weltkriegwird zu Grossmans literarischemHaupt- und Lebensthema.Dabei reift allmählich die Erkenntnis,dass mit der auch für dieSow jets verlustreichen Wende ander Wolga und dem Sieg über das„Dritte Reich“ eine grundlegendeUmschreibung der russischen Geschichteerfolgte: Russland warnicht länger eine Geschichte derErniedrigten und Beleidigten, sondernein triumphales Epos des Siegesvon Stalins Gnaden.Die tragische Schattenseite diesesvon Stalin geschaffenen (undunter Putin wiederbelebten) Mythoshatte Grossman ganz persönlichmehrfach erfahren: Währenddes Großen Terrors war seinezweite Ehefrau als „Trotzkistin“verhaftet (und wieder freigelassen)worden; das gemeinsam mitIlja Ehrenburg zusammengestellte„Schwarzbuch“ über die Vernichtungder sowjetischen Judendurch die Deutschen (der auchGrossmans Mutter zum Opfer fiel)wurde – schon druckfertig – eingestampft.Den letzten Akt stellte das Verbotvon „Leben und Schicksal“dar. Oberideologe Suslow sollüber Grossmans Buch, das die beidenDiktatoren Hitler und Stalingleichsetzt, gesagt haben, es könnevielleicht in hundertfünfzig Jahrenerscheinen. (Der Roman wurde1970 im Westen und erst währendder Perestrojka in Russland publiziert,erst 2013 übergab die Staatssicherheitdas Manuskript demrussischen Literaturarchiv.)In einer Kombination aus Zuckerbrotund Peitsche wird WassiliGrossman im November 1961vom Schriftstellerverband nachArmenien geschickt, wo er mitdem Verfasser eines Produktionsromansüber ein Kupferkombinatan dessen Übersetzung arbeitensoll. Davon handelt der erzählerischeGroßessay nur peripher.Grossman unternimmt vielmehreine radikale Revision seinesliterarischen Lebens und seinerWeltsicht. Unvermittelt hebter mit einer geradezu rhapsodischenBeschreibung des Jerewanüberragenden Stalindenkmalsan, das später durch die bis heutevorhandene monumentale „MutterArmeniens“ ersetzt wurde.Geradezu provokant ist da vom„besten Denkmal unserer Zeit“ dieRede und von Stalin als „imposanterGottheit“, der nicht einfach als„Hinterwäldler“, „Emporkömmling“oder „Hurensohn“ abzutunsei: „Meiner Meinung nach habendie hysterische Vergötterung unddie komplette und vorbehaltsloseSchmähung Stalins ganz genaudenselben Ursprung.“Diese Argumentation folgt einerseitsChruschtschows Kritikam Stalin-Kult auf dem XX. Parteitag,geht aber über dessen bloßmachttaktische Abrechnung hinaus.Für Grossman ist Stalin unmissverständlich„einer der unmenschlichstenÜbeltäter derGeschichte“, der allerdings auchüber Hitler und den Faschismusgesiegt habe. Das scheinbare Paradoxonlöst Grossman mit demBericht über einen alten Armenierauf, der als Jugendlicher denMassenmord der Türken überlebthatte, darüber aber verrückt wurde.Jetzt, da auch in dessen Dorfdie Stalinstatue gestürzt wurde,schlägt dieser rabiat um sich: „Fürihn war Stalin der Sieger über dieDeutschen. Und die Deutschenwaren Verbündete der Türken. Inseinem wahnsinnigen Hirn vermischtensich 1914 und 1941.“ FesterBoden über dem Abgrund derSowjetgeschichte ist nur in derkonkreten Erzählung eines Verrücktenzu erlangen – eine Art Ambivalenz,die die ganze „Reise nachArmenien“ durchzieht und am Endenoch einmal aufgegriffen wird.Dass der GroßschriftstellerGrossman in Moskau in Ungnadegefallen war, hatte sich offenbarbis in die armenische Provinzherumgesprochen. Auf seinennicht standesgemäßen Empfangin Jerewan reagiert er mit einemWechselbad an Gefühlen zwischenpikiert und Selbstironie,das dann rasch der Bewunderungdes südlichen Lebens weicht. Enpassant entwirft Grossman einePhänomenologie der Wahrnehmung– ein Reisender schaffe mitseinen ersten Eindrücken wie einallmächtiger Gott eine neue Welt.Er bewundert den Monumentalismusvon Jerewans Architekturaus rotem Tuff und Basalt sowiedas „malerische“ Leben inden Hinterhöfen mit herumhängenderUnterwäsche. Mit untrüglicherMeisterschaft fixiert er denAusblick direkt vom Stadtzentrumauf Armeniens „Heiligtum“,das sich bekanntlich jenseits derGrenze in der Türkei befindet:„Ich sehe den Ararat – er ragt imblauen Himmel auf, sanft, zartumrissen, er wächst gleichsamaus dem Himmel statt aus der Erde,hat sich aus Wolken und Himmelsbläuezur Form verdichtet.Diesen schneebedeckten, bläulichweißen, in der Sonne schimmerndenBerg sahen die Augenderer, die die Bibel schrieben.“Knapper und präziser wurde derArarat noch nie beschrieben.Sub specie aeternitatis ist auchder Rahmen, in dem GrossmanAugenzeugeWassili Grossman(1905–1964) beschriebnicht nurden Berg Araratpräzise; er veröffentlichtemit „DieHölle von Treblinka“1944 einen der frühestenTexte überden Holocaust. Beiden NürnbergerProzessen wurdediese Schrift alsDokument der Anklageverbreitet.„ Für Grossman ist Stalin unmissverständlich‚einer der unmenschlichsten Übeltäterder Geschichte‘, der allerdings auch überHitler gesiegt habe.“(der bekennt, selbst Fleisch zuessen) beim Anblick der zumSchlachter getriebenen Schafe eineMitleidsethik über die gequälteKreatur entwickelt: „Mein Gott,wie lange müsste der Mensch dasSchaf um Verzeihung bitten, damites ihn gerade verzeihen undihn nicht mehr mit gläsernen Augenansehen würde. […] Mit solchenangewiderten entfremdetenAugen würden Gettobewohner ihrerKerkermeister der Gestapo ansehen,gäbe es das Getto seit fünftausendJahren und hätten dieGestapoleute während dieser Jahrtausendetäglich Alte und Kinderzur Vernichtung in die Gaskammerngeschickt.“ Sogleich kipptdieser erste Rundgang durch Jerewanin böse Selbstironie – wiesich herausstellt, ist der Fremde eigentlichauf der Suche nach eineröffentlichen Toilette, die es in jenenJahren in sowjetischen Städtennur selten gab. Die Verrichtungder Notdurft auf einer Müllhaldeam Stadtrand gerät zum „stillenGlück, das dem Schaf, dem Stier,dem Menschen gleichermaßen offensteht.Musste ich bis zum Araratreisen, um es zu verspüren!?“Gegen nationale VerachtungGrossman wundert sich darüber,dass es auch Armenier mit hellenHaaren und tiefblauen Augen gibt,dilettiert ein wenig in Völkerpsychologie,eine zentrale Passage desBuches ist den Klischees gewidmet,die im Land der Sowjets, wo eigentlichVölkerfreundschaft propagiertwird, über die Armenier kursieren.Von despektierlichen Witzenüber diese als „Päderasten, Krämer,lächerlich kleine Witzfiguren“sei auch die „größte Literatur derErde“ (selbstredend die russische)nicht verschont geblieben; ganz zuschweigen von nationaler Verachtungund chauvinistischem Hass,der das 20. Jahrhundert weltweitbeherrschte. Einziges Remediumstellt für Wassili Grossman in einerfast anstößigen Volte die „freie,gütige, unausrottbarer Russifizierungdurch Puschkin, Dobroljubow,Herzen, Nekrassow, Tolstoi, Korolenko“dar. Nicht der nach dem Siegüber Hitler propagierte übernationaleSowjetpatriotismus, sondernFORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE

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