DIE FURCHE · 34 2 Das Thema der Woche Wie klingt Gott? 22. August 2024 AUS DER REDAKTION Den richtigen Ton treffen – das ist oft der Schlüssel dafür, ob menschliches Zusammenleben funktioniert oder nicht. Das beginnt schon mit der Frage, ob es vermessen ist, zu ergründen, ob Gott eine Stimme hat. Komponist Anton Bruckner hätte wohl mit „Nein“ geantwortet. So wie die Bibelwissenschaftlerin Elisabeth Birnbaum, die zu Till Schönwälders Fokus „Wie klingt Gott?“ so manchen Erkenntnisgewinn liefert. Wolfgang Machreich hat sich derweil den Kirchenglocken und den Muezzinen angenommen. Auch für die gilt es, den richtigen Ton anzuschlagen. Eine Disziplin, von der US-Chefdiplomat Antony Blinken wohl ein Lied singen kann. Er unternahm in Nahost einen letzten Deeskalationsversuch. Expertin Susanne Glass analysiert den Status quo. Tonlagen der zwischenmenschlichen Art werden wiederum in Wien-Währing angestimmt. Die Caritas richtete dort eine Klimaoase für jene Menschen ein, denen die Chance auf Abkühlung verwehrt bleibt. Und das nicht nur angesichts der Temperaturen, wie Magdalena Schwarz in ihrer Reportage aufzeigt. Eine hitzige Exkursion hat auch Brigitte Schwens-Harrant hinter sich. Sie besuchte bei Höchsttemperaturen das Open-Air-Festival La Gacilly-Baden Photo. Sie beschreibt in ihrem Text, warum sie viele der Werke innehalten und über die Natur nachdenken ließen. Die Veranstalter dürften mit ihrer Auswahl den richtigen Ton getroffen haben. (Brigitte Quint) Von Till Schönwälder Es ist eine Fügung, die passender nicht hätte ausfallen können, dass das Festjahr anlässlich Anton Bruckners 200. Geburtstag zugleich auch mit dem 100-Jahre-Jubiläum der Weihe des Linzer Mariendoms zusammenfällt. So gilt der Typus der Domkirche als architektonisches Pendant zu Bruckners Musik. Der Anblick einer mächtigen Domkirche vereint Monumentalität mit religiösem Ausdruck, ebenso wie viele Werke des Künstlers, der oft simplifizierend als „Musikant Gottes“ bezeichnet wird. Der Komponist ist zudem eng mit dem Linzer Dom verbunden. Seine bekannte Motette Locus iste schrieb Bruckner anlässlich der Weihe der Votivkapelle im Mariendom im Jahre 1869. Zwischen 1855 bis 1868 war er Organist im alten Dom in Linz, bevor er nach Wien zog. Die Assoziation eines Sakralbaus ist dabei keine Fremdzuschreibung findiger Biographen, sondern wurde von Bruckner selbst ganz bewusst verwendet: „So wie jeder wissenschaftliche Zweig es sich zur Aufgabe macht, seine Materiale durch das Aufstellen von Gesetzen und Regeln zu ordnen und zu sichten, so hat auch die musikalische Wissenschaft ihren ganzen Kunstbau bis in die Atome seziert, die Elemente nach gewissen Gesetzen zusammengruppiert und somit eine Lehre geschaffen, welche auch mit anderen Worten die musikalische Architektur genannt werden kann“, sagte Bruckner laut Manuskript bei seiner Antrittsvorlesung als Harmonielehre-Lektor an der Universität Wien im November 1875. Als verbindendes Element zwischen der technischen Wissenschaft und der Musik verstand Kein Abo? Jetzt DIE FURCHE 4 Wochen gratis lesen • frisch gedruckt vor die Haustür • online inkl. E-Paper für unterwegs • alle Artikel seit 1945 im FURCHE-Navigator Pssst! Erzählen Sie es gerne weiter ;) Hier anmelden furche.at/abo/gratis +43 1 512 52 61 -52 aboservice@furche.at Am 4. September wäre Anton Bruckner (1824-1896) 200 Jahre alt geworden. Eine Würdigung des lange missverstandenen Meisters der Sakralmusik. Vermesser des Göttlichen Bruckner immer die Zahl. Dabei ging seine Liebe zur Arithmetik und den Proportionen so weit, dass er sich im Jahr 1867 wegen einer Zwangsstörung in eine dreimonatige Behandlung begab. Offiziell wegen künstlerischer und psychischer Überlastung eingewiesen, sollte den Komponisten die Zahlenmanie sein ganzes Leben begleiten und sein künstlerisches Wirken kennzeichnen. So nummerierte er etwa über seine ganze Schaffensperiode die Takte in seinen Werken nicht wie üblich fortlaufend, sondern bündelte diese in meist vier- oder achttaktige Einheiten. Dabei ist die Verwendung von Zahlensymbolik in den bildenden Künsten wie auch der Musik keinesfalls etwas Neues. Erwähnt sei beispielsweise Johann Sebastian Bach, der die Einbettung von Zahlenverhältnissen etwa in seinen Orgelwerken bereits 150 Jahren vor Bruckner zur Meisterschaft brachte. „ Eine mächtige Domkirche ist das architektonische Pendant zur Musik Bruckners, der oft als ‚Musikant Gottes‘ verlacht wurde. Sie vereint Monumentalität mit religiösem Ausdruck. “ Foto: APA / ONB/GS Musik als Sakralbau Es gilt als gesichert, dass Bruckner sich bei seiner Neunten Sinfonie maßgeblich von den Proportionen des Wiener Stephansdoms beeinflussen ließ. Der deutsche Dirigent und Publizist Benjamin- Gunnar Cohrs konnte etwa ungeahnte Berührungspunkte zwischen dem Aufbau des Werkes und den Dimensionen der Domkirche nachweisen. Zentral für Cohrs These ist dabei die Zahl 37: Sie kennzeichnet etwa die Länge der formalen Disposition, ebenso wie die der Schlussabschnitte aller drei von Bruckner verfassten Sätze. Auch mit dem Beginn der Hauptthemenreprise des Kopfsatzes in Takt 333 taucht sie wieder auf: Diese Zahl entspricht wohl nicht zufällig exakt der der Gesamtlänge des Wiener Stephansdoms, nämlich neun mal 37 Fuß. Die Grundzahl 37 ist dabei eine typische Zahl für den gotischen Stil, in welchem der Wiener Dom erbaut wurde. Weitere Beispiele für Zahlensymbolik lassen sich in vielen weiteren Werken des Oberösterreichers wiederfinden. So verwendete Bruckner gerne den sogenannten Goldenen Schnitt – also die Teilung einer Einheit in zwei Teile, deren größerer zum kleineren sich verhält wie die ganze Einheit zum größeren Teil. Dieser lässt sich etwa bei der Sechsten Sinfonie im ersten Satz beobachten, dessen Reprisenbeginn Meister und Zahlennerd Anton Bruckners Kunst wurde aufgrund seiner Obsession für Zahlensymbolik oft als kleingeistiges Abzählen kritisiert, heuer sind die Werke des Komponisten in aller Munde. exakt an der Stelle des Goldenen Schnitts bei Takt 229 liegt. Auch für die Fünfte Sinfonie konnte Cohrs gewisse mathematische Überlegungen Bruckners etwa im ersten Satz auf Basis der Zahl Sieben feststellen. Diese geht wohl auch nicht zufällig auf die Grundeinheit der Stiftskirche St. Florian – hier ging Bruckner ab seinem 13. Lebensjahr zu Schule und entwickelte seine Begeisterung für die Orgel – zurück. Lange Zeit verlacht Bruckners runder Geburtstag wird jedenfalls in Österreich ausgiebig gefeiert. Dabei wurde der Komponist lange Zeit verlacht und sein künstlerisches Wirken als kleingeistiges Abzählen in Frage gestellt. Andere warfen ihm vor, seine Musik sei zu umständlich und zu grob und ließe sich letztlich auf pedantisches Einhalten von Takteinheiten reduzieren. Tatsache ist, dass Bruckner mit Ausnahme des deutschsprachigen Raums nach wie vor wenig bekannt ist. Auch Bruckners katholischem Glauben und seiner tiefen Religiosität wurde immer wieder Misstrauen entgegengebracht. So war der Komponist Zeit seines Lebens von starken Selbstzweifeln geplagt. Er galt zudem als Einzelgänger. Gerade in Wien wurde Bruckners „Ticks“ zum Teil mit einer Polemik begegnet, die den Komponisten durchaus kränkten. Der Ausspruch „halb Genie, halb Trottel“ ist ebenso überliefert, wie der Vorwurf an den Musiker, letztlich ein „Bauerntölpel“ geblieben zu sein. Eine Einschätzung der die Bibelwissenschaftlerin und Sängerin Elisabeth Birnbaum (vgl. Seite 3) widerspricht. Sie ist der Überzeugung, dass das Vorgehen nach rechnerischen Vorgaben der Kreativität nicht hinderlich ist. Ich denke, dass jede und jeder anders inspiriert wird. Sich eine bestimmte Form als Vorgabe selbst aufzuerlegen, „finde ich inspirierender als keine Form zu haben“. Ganz allgemein gelte doch: „Gerade in der Musik war die Form sehr lange ein wichtiges Gerüst für die Inspiration. Denken Sie an Bachs Fugen, Mozarts Symphonien, Schönbergs Zwölftonmusik“. Bruckners Gerüst war der Sakralbau. Dass es sich beim Linzer Dom um Österreichs größte Kirche handelt, ihr Turm der Legende nach aus politischen Gründen aber zwei Meter niedriger ausfallen musste als der des Stephansdoms, ist bezeichnend.
DIE FURCHE · 34 22. August 2024 Das Thema der Woche Wie klingt Gott? 3 Die Frage, wie Gottes Stimme klingen könnte und ob es angemessen ist, ihn selbst sprechen zu lassen, war lange verpönt, sagt Bibelwissenschaftlerin Elisabeth Birnbaum. Über zurückhaltende Komponisten, das Bekehrungserlebnis als Dreiklang und Tempelsänger. „Er wurde als wuchtiger Bass vertont“ Das Gespräch führte Till Schönwälder Die Frage nach dem Klang von Gottes Stimme beflügelt die Fantasie der Menschen seit Jahrhunderten. Die Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks, Elisabeth Birnbaum, beschäftigt sich seit Jahren wissenschaftlich mit der Frage nach der Vertonung von Gottes Wort in der Musik. Auch wenn das Unvollstellbare letztlich ein Geheimnis bleiben wird, lohnt sich eine Beschäftigung mit der Thematik, ist sie überzeugt. DIE FURCHE: Sie haben sich als Bibelwissenschaftlerin und ausgebildete Sängerin wissenschaftlich mit der Frage nach der Stimme Gottes beschäftigt. Wie klingt Gott? Elisabeth Birnbaum: Das ist eine interessante Frage. Lange Zeit wollte man sich ihr in der Musik gar nicht stellen. Ob es angemessen ist, Gott selbst sprechen oder singen zu lassen, wurde zum Beispiel vom großen Reformator des Oratoriums, Apostolo Zeno, im 17./18. Jahrhundert klar verneint. Seinem Beispiel folgten einige Zeit lang viele andere Musikschaffende. Von Gott wurde gesprochen, seine Worte zitierten andere, meist der „testo“, der „Erzähler“ beziehungsweise „Evangelist“, doch die direkte Rede fehlte. Berühmtestes Beispiel dafür ist Joseph Haydns „Schöpfung“, der den Bibeltext der Schöpfungserzählung in den Rezitativen wörtlich zitiert. DIE FURCHE: Hat sich das im Laufe der Zeit geändert? Birnbaum: In der Frühromantik gewinnen die Oratorien noch an Dramatik. Auch die Zurückhaltung der Komponisten, Gottes Stimme hörbar zu machen schwindet nach und nach. Das Problem einer musikalisch würdigen Ausgestaltung bleibt jedoch. Einige Kompositionen umgehen das Problem und lösen es damit zugleich: Sie besetzen Gott durch einen Chor. Dabei entstehen oftmals musikalisch interessante Effekte. Die ansonsten nicht weiter auffällige Kantate von Bernhard Klein, „Hiob“ (1820), lässt Gott durch einen einstimmigen Männerchor mit Posaunenklang sprechen. Als man später Gott doch als Einzelperson selbst zu Wort kommen ließ, wurde er meist als wuchtiger Bass vertont. Zum Beispiel in bekannten Oratorien der (Spät-)Romantik wie dem „Buch mit sieben Siegeln“ von Franz Schmidt (1938). Die Reaktion auf Gottes Rede könnte pompöser nicht sein: Ein vielstimmiger Chor stimmt ein ausgedehntes Halleluja an, das neben Händels Halleluja aus dem Messias wohl eindruckvollste der Musikgeschichte. DIE FURCHE: Wird Gott immer männlich vertont, oder gibt es Beispiele, wo Gott etwa durch eine Frauenlage gesungen wird? Birnbaum: Es muss nicht immer ein Männerchor sein. Felix Mendelssohn Bartholdy wählt in seinem „Paulus“ (1836) einen besonderen Zugang: Er lässt den himmlischen Jesus durch einen vierstimmigen Frauenchor wiedergeben. Die ruhigen, strahlenden Holzbläserdreiklänge lassen das Bekehrungserlebnis des Saulus zu einem friedvollen, beinahe zärtlichen Geschehen werden. Foto: Bild: iStock/GeorgePeters (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Elisabeth Birnbaum ist die Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks. Die Vielstimmigkeit als Darstellung der Stimme Gottes erlebt einen besonderen Höhepunkt in der Oper „Moses und Aron“ (1932) von Arnold Schönberg. Die musikalische Darstellung ist äußerst eindrucksvoll und geprägt vom Begriff „unvorstellbar“, der die Oper durchzieht. Gleich zu Beginn der Oper bezeichnet Moses Gott als „einzigen, allgegenwärtigen, unsichtbaren und unvorstellbaren“ Gott. Die Berufung des Mose am Dornbusch ist dementsprechend umgesetzt: Die „Stimme aus dem Dornbusch“ wird hier nicht von einer Person gesprochen oder gesungen, auch nicht von einem Chor alleine, sondern von einem Sprechchor und sechs Solostimmen zeitgleich. Der Zusammenklang von gesungenen Frauen- und Foto: Privat Männerstimmen einerseits, die polyphon versetzt erklingen und dem durchwegs zeitgleich skandierenden, ebenfalls gemischten Sprechchor erzeugen einen eindrücklichen Klangteppich, der dennoch Textdeutlichkeit ermöglicht. Gott spricht eindringlich, lautstark, auffordernd und fordernd. Seine Stimme lässt sich nicht festlegen auf Mann oder Frau, hoch oder tief, gesungen oder gesprochen. Im Dialog mit Mose, einer Sprechrolle, übertönt er diesen an Lautstärke und Suggestivkraft. Der Unvorstellbare wird dadurch in seiner Uneindeutigkeit und seinem Geheimnis belassen. DIE FURCHE: Was steht in der Bibel zu Musik und Gesang? Birnbaum: In der Bibel wird viel gesungen. Zwei ganze biblische Bücher bestehen nur aus Liedern: das Buch der Psalmen und das Buch der Klagelieder. Im Psalter werden auch zahlreiche Musikinstrumente erwähnt. Aber auch in vielen anderen biblischen Büchern gibt es Gesänge: Die vielen Klagegesänge Davids; das Siegeslied von Mose und das der Mirjam, um nur die bekanntesten zu nennen. Im Buch Jesus Sirach wird die Musik über die weise Rede altehrwürdiger Männer gestellt: „Rede, alter Mann, denn es steht dir zu / mit genauem Wissen, aber behindere nicht die Musik!“ (Sir 32,3). Aber auch im Neuen Testament gehört zu religiösen oder profanen Festen die Musik. In der großen Endzeitvision des Johannes, der Offenbarung, singen die Geretteten und spielen Harfe. Lesen Sie dazu den Text „Gott spricht: Es werde!“ des Liturgikers Philipp Harnoncourt (22.12.2011) auf furche.at. „ Die Stimme aus dem Dornbusch wird nicht von einer Person gesprochen oder gesungen, auch nicht von einem Chor alleine, sondern von einem Sprechchor und sechs Solostimmen zeitgleich. “ Ungelöstes Rätsel Ob Gottes Stimme männlich, weiblich, oder gar mehrstimmig ist, bleibt ein Geheimnis. DIE FURCHE: Gibt es Stellen, an denen Gott Aussagen über Musik macht? Birnbaum: Musik ist Teil von Festen. Manchmal werden göttliche Unheilankündigungen damit verbunden, dass gesagt wird, es werde keine Musik mehr geben. So heißt es in der Offenbarung 18,22 über das Schicksal Babylons: „Die Musik von Harfenspielern und Sängern, von Flötenspielern und Trompetern hört man nicht mehr in dir.“ Und das ist ebenso tragisch wie das, was folgt: „Einen kundigen Handwerker gibt es nicht mehr in dir. Das Geräusch des Mühlsteins hört man nicht mehr in dir.“ Musik gehört also zum Lebenswichtigen wie das Handwerk und das Mahlen des Mehls. Bleibt sie aus, ist das schreckliche Ende nahe. Umgekehrt heißt es, dass die Ältesten ein neues Lied singen, als sich zeigt, dass das Lamm würdig ist, das Buch mit sieben Siegeln zu öffnen (Offb 5,9). In den Büchern der Chronik wird besonders betont, dass es am Tempel einen ganzen Berufszweig gibt: die Tempelsänger und -sängerinnen, die dem Stamm der Leviten angehören und bei rituellen Anlässen singen. Dazu spielen sie auf Zimbeln, Harfen und Zithern. Laut 1. Chronik 25 sind es insgesamt 288 Personen, die zu Gottes Ehren musizieren, und zwar, wie es ausdrücklich heißt: lauter geübte Leute! Das wäre eine schöne Zahl für eine angemessene Kirchenmusik! Und nicht zuletzt ist der „Liebling Gottes“, David, ein begnadeter Musiker und quasi der Erfinder der Musiktherapie. Wenn sein Vorgänger auf dem Thron, König Saul, von einem bösen Geist verwirrt wird, kann David durch sein Harfen- beziehungsweise Leierspiel ihn wieder beruhigen und den Geist vertreiben. Gott äußert sich demnach selten explizit zur Musik, scheint sie aber gern zu haben. DIE FURCHE: Mutmaßen Menschen in der Bibel über Gottes Stimme? Birnbaum: Es gibt eine großartige Stelle, wo ein Mensch eine Aussage über Gott in Verbindung mit Musik macht. Mose singt in seinem Lied nach dem Durchzug durch das Rote Meer: „Meine Stärke und mein Lied ist der Herr“ (Ex 15,2). Gott als Lied zu bezeichnen, das finde ich wunderbar. Auch in Deuteronomium 10,21 findet sich Ähnliches. DIE FURCHE: Gibt es Hinweise, dass Jesus gesungen oder musiziert hat? Birnbaum: Musiziert vermutlich nicht, rezitiert hat er wie alle frommen Juden die Psalmen beziehungsweise den Lobgesang zu Pessach (vgl. Mt 26,30, Mk 14). In einem apokryphen (nichtbiblischen) Text, den Johannesakten, wird erzählt, er habe mit seinen Jüngern am Ölberg vor seiner Gefangennahme einen Lobpreis Gottes nicht nur gesungen, sondern auch getanzt: „Wer nicht tanzt, erkennt nicht, was sich begibt“, heißt es da. DIE FURCHE: Wurde bei den frühen Christen im Gottesdienst bereits gesungen? Birnbaum: Im Neuen Testament ist häufig die Rede von Gesängen. Rituelle Gesänge wie der Lobgesang: Der wird zum letzten Abendmahl (Pessachfest) von Jesus und seinen Jüngern gesungen. Paulus singt laut im Gefängnis (Apg 16,25), verbunden mit Gebeten. Und der Epheserbrief und der Kolosserbrief mahnen, bei den Zusammenkünften in den Häusern Psalmen zu singen. Es entstanden auch früh christliche Hymnen. DIE FURCHE: Wie stellen Sie sich Gottes Stimme vor? Birnbaum: So vielstimmig wie bei Schönberg angedeutet. Oder wie bei Elijas Gottesbegegnung am Berg Horeb (1 Kön 19): nicht im Feuer, nicht im Erdbeben, sondern wie es die Buber-Rosenzweig-Bibel so unnachahmlich ausdrückt: in der „Stimme verschwebenden Schweigens“.
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