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DIE FURCHE 22.08.2024

DIE

DIE FURCHE · 34 20 22. August 2024 Von Peter Strasser Von Manuela Tomic MOZAIK Filmschlafen Sobald ich abends mit meinem Freund Krimis schaue, gähne ich schon beim Vorspann wie der Löwe von Metro-Goldwyn- Mayer. Dann schlummere ich unentrinnbar in der Mitte des Films ein. Schnarchend mache ich mich auf die Suche nach dem Mörder. Ich dringe in dunkle Keller, durchstreife Wälder, verhöre Verdächtige. Doch jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, das Verbrechen zu lüften, rüttelt mich mein Freund. Auf dem Monitor rollt der Abspann vor meinen zusammengekniffenen Augen. „Wer war der Mörder?“ frage ich verwirrt. Mein Freund winkt ab. Im bosnischen Fernsehen gab es statt düsteren deutschen Serien nur spanische Schnulzen. Wird Candela erfahren, dass Pedro sie betrügt? Auch dort geschahen Morde, doch sie wurden nie gelöst. Es blieb ein Geheimnis, etwas Geisterhaftes, auf das wir uns selbst einen Reim machen mussten. Elektrisiert liefen wir Kinder hinunter ins Gasthaus. Opa Ivo hatte den Fernseher bereits laut aufgedreht und Candela sabberte weinerlich aus dem TV-Gerät: „Sie haben Pedro getötet!“ Ängstlich versammelten wir uns um Opas dicken Bauch. Sein Schnarchen beruhigte uns. Ivo war im Filmschlaf. Je tiefer er schlief, umso weiter reichten seine Antennen. Doch mein Freund rüttelt mich beleidigt. Ich war bei seiner Erzählung erneut eingeschlafen. Mein Schlaf hat noch jeden Mörder überwältigt. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Illu: R M Ein wenig abseits des Stadtzentrums, in unmittelbarer Nähe zum Grazer Hauptplatz, wo sich die Menge tummelt, shoppinglustig, allen metaphysischen Gedanken abhold, fällt mir eine bescheidene Gedenktafel auf. Adresse: Neue Weltgasse 4. „Hier wohnte Jakob Lorber“, steht da geschrieben, „der im Jahre 1840 in diesem Hause die ersten Göttlichen Offenbarungen empfing, geb. 1800, gest. 1864“. Es sind im August genau 160 Jahre, dass der „Schreibknecht Gottes“, wie er sich titulierte, starb. Lorber, ein Mehrfachbegabter, hätte Kapellmeister am Triester Hof werden können, aber er folgte der „Gnadenstimme des Herrn Jesus“, die zu ihm in der Nähe seines Herzens sprach. Die Stimme diktierte 20.000 Manuskriptseiten, darunter eine zehnbändige Auslegung des Johannes-Evangeliums. Die Gemeinde der Lorberianer hat nur mehr geringe Anziehungskraft. Das „spirituelle“ Gemüt heute fühlt sich dem Fernöstlichen näher als dem Christentum, dessen Stimmungen und Zeremonien sind durch naturmystische Wellness-Praktiken verdrängt worden. Bäume werden umarmt, Haare bei Vollmond geschnitten. Jetzt, vor der Gedenktafel, die Jakob Lorber gewidmet ist, komme ich ins Sinnieren. Als Volksschulkind in den 1950er-Jahren begleitete ich meinen Großvater in die Grazer Buchhandlung Moser wegen einer zu erwerbenden Publikation des Lorber-Verlages. Jakob Lorber war seiner Konfession nach ursprünglich katholisch. Doch seine Visionen hatten ihn in das weitläufige Gebiet des Geistesmenschlichen geführt. Die Philosophie Jakob Böhmes, dessen Todestag sich heuer zum 400. Male jährt, war für Lorber ein Vorbild. Böhme sah in der ganzen Natur das Göttliche verkörpert, dessen höchste Schau dem „Geist“ vorbehalten blieb. Projektion utopischer Fantasien In seiner Nachkriegssatire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ aus dem Jahre 1955 lässt Heinrich Böll eine akademische Fachgröße, die noch immer geprägt ist vom anti-kirchlichen Affekt der Nationalsozialisten, das Wort „Gott“ durch die transkonfessionelle Phrase „jenes höheren Wesen, das wir verehren“ ersetzen. Auch mein Großvater – ein bescheidener Buchbinder – war ein religiöser Mensch, der bloß nichts mit seiner Kirche zu tun haben wollte. Und was hatte man für Erlösungshoffnungen in das von Hitler versprochene Tausendjährige Reich gesetzt! Da boten nun die Schriften Lorbers einen Ausweg, um, belehrt von der göttlichen Stimme selbst, dem tristen Nachkriegsalltag in die wahrhaft „geistige“ Welt zu entfliehen. Es gereichte Lorber allerdings zum Nachteil, dass schon in naher Zukunft die Naturwissenschaften triumphierten, indem sie das Innere des Atoms und die kosmischen Verhältnisse noch „ Die Diktate, die Lorber empfing und an die Öffentlichkeit weiterreichte, machten auch vor alltäglichen Dingen nicht halt. “ jenseits unserer Galaxie zu erforschen begannen. Derart geriet der Schreibknecht Gottes mit seinen Aussagen ins Abseits derer, die Immanuel Kant seinerzeit als „Kandidaten fürs Hospital“ gewürdigt hatte. Exemplarisch war der in Stockholm geborene, vielgereiste Emanuel Swedenborg, ein zu Lebzeiten – 1688 bis 1772 – hochgeschätzter Mystiker und Theosoph, auf dessen Lehren sich heute noch die in England und Nordamerika heimische „Kirche des Neuen Jerusalem“, New Church, stützt. Kant beklagt in seiner Schrift „Träume eines Geistersehers“ aus dem Jahre 1756, dass er zwecks kritischer Beurteilung der Swedenborg’schen Esoterik „acht Quartbände voll Unsinn“, betitelt „Arcana caelestia“, habe lesen müssen: „Er redet also von Gärten, weitläufigen Gegenden, Wohnplätzen, Galerien und Arkaden der Geister, die er mit eigenen Augen in dem kläresten Lichte sähe, und versichert, dass, da er mit allen seinen Freunden nach ihrem Tode vielfältig gesprochen, er an denen, die nur kürzlich gestorben, fast jederzeit gefunden hätte, dass sie sich kaum hätten überreden Ein Kandidat fürs Hospital? können, gestorben zu sein, weil sie eine ähnliche Welt um sich sähen.“ Was bereits zu Kants Zeiten den Gebildeten als Humbug erscheinen musste, als eine Projektion utopischer Fantasien des Diesseits in ein fantastisches Jenseits, sollte erst recht Anlass zu Spott und Ärgernis geben, wenn sich im Jahre 1841/42 Lorber über die Verhältnisse am Saturn in einer eigenen Schrift äußerte, weil ihm dieses Wissen von höchster Stelle diktiert worden sei. Demnach nimmt der „fruchtbarste“ und daher „bewohnteste“ Teil des Saturn eine Fläche von „100.000 Quadratmetern“ ein: „Was die Bäume anbelangt, so gibt es hier nur zehn verschiedene Arten. Aber jede Art ist so beschaffen, dass sie nicht so wie bei euch nur alle Jahre ein oder zwei Mal Frucht zum Vorschein brachte; sondern es ist da stets Blüte und reife Frucht anzutreffen.“ Weitläufiges Gebiet Jakob Lorber war seiner Konfession nach ursprünglich katholisch. Doch seine Visionen hatten ihn in das weitläufige Gebiet des Geistesmenschlichen geführt. Der christliche Mystiker Jakob Lorber bezeichnete sich selbst als „Schreibknecht Gottes“. Ein Porträt zum 160. Todestag. Esoterische Tiefen Solche Schlaraffenlandfantasien waren bald als Ammenmärchen abgetan – Saturn, ein Gasplanet, hat keine feste Oberfläche –, und jene, die fernerhin an sie glaubten, kamen aus den Kreisen der weniger bis gar nicht Gebildeten, der Leichtgläubigen, denen es an Schulwissen und Aufklärung mangelte. Die Diktate, die Lorber empfing und an die Öffentlichkeit weiterreichte, machten auch vor alltäglichen Dingen nicht halt. Lorbers Anhängerschaft war nur allzu bereit, der naturwissenschaftlich erforschten Welt anzudichten, sie habe esoterische Tiefen, im Physikalischen verberge sich ein göttlicher Plan, dem noch die unscheinbarsten, sogar lästigen Kreaturen dienten. „Die Fliege“, so betitelt sich Lorbers Schrift von 1842, und in ihr lesen wir: „Sehet, diese Millionen und Millionen Fliegen sind allda beordert, das von der Sonne zu reichlich ausgeströmtem, sogenanntem elektrischem Feuer aufzuzehren und es auf diese Weise zu schwächen, damit es sich nicht durch die eigene Überladung in sich selbst entbinde und dadurch einer ganzen Welt den Garaus mache!“ Ich weiß nicht, was mein Großvater von Sonnenabstrahlungen und Fliegen wusste, jedenfalls wurden ihm Letztere zu unantastbaren Geschöpfen, deren Existenz den terrestrischen Weltuntergang verhinderte. Daher verbot er meiner Großmutter, die im Sommer gegen Fleischfliegen kämpfte, auch nur einer von ihnen ein Härchen zu krümmen. Meine Großmutter war eine bodenständige Frau, die ihrem Ehegatten seinen Jakob Lorber gönnte, aber ab und zu auch einen deftigen Fleischbraten ohne darin vorfindliche Fliegenlarven … So verscheuchte sie die „Viecher“, erschlug aber, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, das eine oder andere besonders zudringliche Exemplar. Und siehe: Die Welt steht noch. Noch immer haben Menschen da und dort Visionen von überirdisch glücklichen Welten und auch von dem Glück, das unserem biblischen „Tal der Tränen“ (Psalm 84) spirituell innewohnt. Und das ist – recht bedacht – gut so, sonst müssten all die kleinen, geplagten Leute womöglich alle Hoffnung fahren lassen. Der Autor ist Professor i.R. für Philosophie an der Universität Graz.

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