DIE FURCHE · 34 18 Wissen 22. August 2024 Annerlalm Der 550 Jahre alte Buchenwald auf der Annerlalm im Nationalpark Kalkalpen. Er ist seit 2017 zum Teil UNESCO-Weltnaturerbe. Hier stehen auch die beiden ältesten datierten Buchen Zentraleuropas. Von Sonja Bettel Wer einen Wald im Nationalpark Kalkalpen in Oberösterreich betritt, sollte eventuelle Vorstellungen von Ordnung, die im Wienerwald oder in einem Fichtenforst entstanden sind, über den Haufen werfen. Denn vor einem solchen steht man plötzlich, wenn man im Gebiet Langfirst über die aufgelassene Forststraße stapft. Vor 22 Jahren wurde ein halber Kilometer der Straße rückgebaut, um Mountainbiker davon abzuhalten, durch den geschützten Wald zu brettern. Seither kümmert sich die Natur darum. Baumstämme liegen quer über dem Weg, darauf wachsen Flechten, Moose und Pilze. Zwischen dem Schotter haben Pflanzen die dünne Humusauflage zum Keimen genutzt. Wendet man den Kopf zur Seite, sieht man mächtige tote Fichten, die wie Denkmäler zwischen grünen Bäumen stehen. Und wenn man auf den Boden schaut, was zu empfehlen ist angesichts des Geländes, sieht man, dass man hier nicht allein ist: Im weichen Boden haben Hirsch, Dachs und andere Tiere ihre Abdrücke hinterlassen. Rückbau als Schutzmaßnahme „Die Bauern haben einst diese Straßen mit einem Riesenaufwand gebaut, deshalb gab es Aufruhr, weil wir ihrer Ansicht nach Geld vernichtet haben“, erzählt Franz Sieghartsleitner. Er hat vor 40 Jahren für den Nationalpark mitgekämpft und ist in der Nationalparkverwaltung für die Kommunikation zuständig. „Aber wir sehen hier, dass das sehr wichtig war, denn wo man den menschlichen Einfluss zurücknimmt, kann sich die Natur entwickeln.“ Der Nationalpark Kalkalpen wurde 1997 gegründet, nachdem die Einrichtung eines Panzerschießplatz der VÖEST und Speicherseen der Ennskraftwerke verhindert worden waren. Er umfasst das Reichraminger Hintergebirge und das Sengsengebirge, erstreckt sich von 385 bis 1963 Meter Seehöhe und ist 20.850 Hektar groß. 81 Prozent dieser Fläche sind von Wald bedeckt. Er ist damit der waldreichste Nationalpark in den Alpen. Man findet hier 34 natürliche Baumarten und 32 Waldtypen. Auf circa vier Fünftel der Waldfläche hat der Nationalpark eine Ausnahme vom Forstgesetz für einen Biotop-Schutzwald – sprich eine Waldwildnis, die sich frei entwickeln darf. Foto: Erich Mayrhofer Lesen Sie mehr über die Schutzzonen Österreichs: „Nationalparks: Die stillen Refugien“ (14.9.2022), furche.at. Im Nationalpark Kalkalpen darf sich die Natur wieder entfalten. Ein Ökosystem entsteht, wo einst Menschen Straßen bauten und Bäume fällten. Der Riese im Zorngraben Normalerweise muss eine „gefahrdrohende Vermehrung von Forstschädlingen“ umgehend der Behörde gemeldet und bekämpft werden. Gemeint sind vor allem Borkenkäfer. Im Nationalpark Kalkalpen dürfen Borkenkäfer wüten, wenn sie aus irgendwelchen Gründen vermehrt auftreten, und das Ökosystem kann die Sache selbst regeln. Zum Beispiel, indem der Dreizehenspecht oder räuberische Insekten, Milben oder Pilze die Zahl der Borkenkäfer wieder reduzieren. Zum Schutz der an den Nationalpark angrenzenden Wälder wird jedoch am Rand das von Käfern befallene „Schadholz“ entfernt, erklärt der Forstwirt Christian Fuxjäger, der sich hier im Nationalpark um das Wald- und Wildmonitoring kümmert. Für ihn und seine Kolleginnen und Kollegen hat der Rückbau der Straßen Vor- und Nachteile: Auch sie müssen jetzt großteils zu Fuß unterwegs sein, um nach seltenen Arten zu suchen und die natürliche Entwicklung der Wälder und ihrer Bewohner zu dokumentieren. Die Ergebnisse sind umso erfreulicher: Der einst dominante Fichtenbestand ist um sieben Prozent zurückgegangen, stattdessen kommen Laubbäume auf. Von 1988 bis 2022 hat sich der Anteil an Totholz von 15 auf 34 Kubikmeter pro Hektar Wald erhöht. Es gibt bis zu 130 Brutpaare des EUweit geschützten Weißrückenspechts, mehr als 1600 Schmetterlingsarten und die älteste Buche der Alpen: Sie gibt es seit 550 Jahren. Seltene Arten in der Waldwildnis Der Biologe Erich Weigand kämpft sich regelmäßig durch die Waldwildnis auf der Suche nach seltenen Käfern. Obwohl das Gebiet einst intensiv für die Holzgewinnung genutzt wurde, gibt es noch Urwaldrelikte und Wälder, die nur einmal durchforstet wurden. Denn einige Gräben Nebelschwaden „ Hier dürfen Borkenkäfer wüten, wenn sie aus irgendwelchen Gründen vermehrt auftreten [...] Forstwirt Christian Fuxjäger “ Foto: Jürgen Hofmann durchziehen den urwüchsigen Wald im Nationalpark Gesäuse und schaffen eine mystische Atmosphäre in der unberührten Naturkulisse. und Hänge sind so steil, dass sie für den Menschen schwer oder gar nicht zugänglich sind. Diese Bereiche seien für die Forschung ein weißer Fleck, sagt Weigand, doch sie sind Lebensraum besonders seltener und daher besonders wertvoller Arten, die sich in die außer Nutzung gestellten Wälder des Nationalparks ausbreiten: „Wir haben bisher 41 Urwald-Relikt-Käferarten nachgewiesen und schätzen, dass es bis zu 60 Arten sein könnten. So viele gibt es nirgendwo sonst in den Ostalpen“, freut sich der Biolo-
DIE FURCHE · 34 22. August 2024 Wissen 19 „ Wir haben bisher 41 Urwald-Relikt- Käferarten nachgewiesen und schätzen, dass es bis zu 60 Arten sein könnten. So viele gibt es nirgendwo sonst in den Ostalpen. “ Biologe Erich Weigand ge. So wurden der extrem seltene Rothalsige Düsterkäfer und der Große Flachkäfer im Nationalpark entdeckt. Für Erich Weigand ist deshalb klar: „Wir können auf den Nationalpark nicht mehr verzichten, sonst würden wir sehr wertvolle Arten verlieren.“ In einem Wirtschaftswald, selbst wenn er „naturnah“ genutzt wird, haben viele Arten kaum eine Chance, „weil die Bäume nach längstens 140 Jahren aus dem System genommen werden“, erklärt der Ornithologe und Ökologe Wolfgang Scherzinger, der maßgeblich an der Entwicklung des Nationalparks Bayerischer Wald beteiligt war und den Nationalpark Kalkalpen seit Beginn fachlich unterstützt. Natürlicherweise würden Bäume aber hunderte von Jahren alt und seien in hohem Alter sehr wertvoll für Totholzkäfer, das Auerhuhn oder Eulen, die in Baumhöhlen brüten. Am anderen Ende der Waldentwicklung stehen die Pioniergehölze, die eine Fläche nach einer Störung durch Sturm, Hochwasser, Brand, Schädlingsbefall oder Krankheiten besiedeln – und auf sie angewiesene Arten. Auch in einem Wirtschaftswald sei es deshalb wichtig, Altholzinseln, Biotopbäume und Störflächen zu integrieren, sagt Scherzinger. Im Nationalpark Kalkalpen dürfen „Störungen“ sein, denn hier zählt der Prozessschutz, nicht der Schutz des bei der Nationalpark- Gründung dokumentierten Ist- Zustandes. Natur ist niemals statisch, sondern ständig im Wandel. Beobachten können das die Experten und Expertinnen zum Beispiel oberhalb des unzugänglichen Zorngrabens. Von einem Pfad oberhalb sieht man hinüber auf einen Hang, auf dem es aussieht, als ob ein Riese mit den Fichten Mikado gespielt hätte. Der Riese war ein Sturm, der den Großteil der Bäume umgerissen und über den Hang verstreut hat. Die Störung als Chance In einem Wirtschaftswald würde man dieses Chaos zu ordnen versuchen, indem man die Bäume, notfalls mit dem Hubschrauber, herausholt und zu Brettern oder Hackschnitzeln verarbeitet. Hier können sich die Forscherinnen und Forscher jedoch zurücklehnen. „Wir können beobachten, was passiert jetzt auf dieser Windwurffläche? Wie regeneriert sich der Wald? Erobert er sich die Fläche zurück? Und welche Typen von Wäldern werden aufkommen?“, sinniert Josef Forstinger, seit eineinhalb Jahren Direktor des Nationalparks Kalkalpen, beim Blick hinüber zum Hang. Die Chance, eine Störung als Chance zu sehen, statt sofort mit Motorsäge und Ladekran aufzuräumen, hat auch der Nationalpark Gesäuse ergriffen. In der Lettmair Au wurde 2022 die beliebte „sprechende Buche“ am Themenweg des Nationalparks bei einem kurzen, aber heftigen Sturm umgerissen – samt der rund um sie installierten Bank und Hörstation. Die Technik wurde entfernt, die Buche durfte bleiben und auch als „Leiche“ weiter neugierig machen. Sie dient, gemeinsam mit einer umgefallenen Schwarzpappel, einer Fichte und einer Tanne, ab sofort der Langzeitbeobachtung des Naturkreislaufs. Die Biologin Barbara Bock, die im Nationalpark forscht, hat die Bäume mit farbigen Metallplättchen markiert und wird ihre Besiedelung mit Moosen, Flechten und Gefäßpflanzen sowie ihren Zerfall dokumentieren. Es sei ein eigenartiges Gefühl, dass dieser Prozess vermutlich länger dauern werde als ihr Berufsleben oder das eigene Leben an sich, sagt die junge Forscherin. Foto: Sieghartsleitner Die weiten Wälder des Reichraminger Hintergebirges bieten seltenen Arten einen geschützten Lebensraum in den Alpen. Jetzt anmelden! Lesen Sie schon die FURCHE-Newsletter? Unsere neuen Ressort-Newsletter verpacken aktuelle Geschichten aus Ihren Lieblingsressorts – und das noch vor Erscheinen der Zeitung. Das Beste: Jeder Tag ist einem fixen Thema gewidmet. Montag: Gesellschaft & Bildung Dienstag: Wissen & Lebenskunst Mittwoch: Politik & International Donnerstag: Kritik Freitag: Menschen Samstag: Feuilleton Sonntag: Religion & Sinnfragen www.furche.at/newsletter „Best of FURCHE“: Schon am Mittwoch eine Vorschau der Donnerstag-Ausgabe aus der Chefredaktion bequem in Ihrem Postfach. Jeden Freitag schreiben FURCHE- Redakteur:innen Persönliches und empfehlen Texte aus 78 Jahren FURCHE-Geschichte. Dazu gibt es Aktuelles aus dem Feuilleton, Kritiken und Veranstaltungstipps.
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