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DIE FURCHE 22.08.2024

DIE

DIE FURCHE · 34 14 Literatur 22. August 2024 Von Lothar Struck Seine Oberösterreich-Saga um die Familie Fischer begann Reinhard Kaiser-Mühlecker 2016 mit „Fremde Seele, dunkler Wald“. Im Zentrum standen die beiden 15 Jahre auseinander liegenden und auch sonst ungleichen Brüder Jakob und Alexander. Jakob, Ende der 1990er geboren, ist wortkarg, zurückhaltend, menschenscheu. Obschon noch minderjährig, bewirtschaftete er den immer mehr dahinsiechenden Bauernhof seiner Eltern mit Eifer. Die im Haus lebende Großmutter saß auf einem Erbe, das sie nicht abgeben wollte, weil sie befürchtete, dass Jakobs Vater es durchbringen würde, so wie er immer alles in windigen Geschäften durchgebracht hatte. Alexander, der Ältere, verließ den Hof früh. In „Wilderer“ (2022) rückt das Leben Jakobs in den Fokus. Mit dem ihm zugesprochenen Erbe und Katja, einer Künstlerin mit Geschäftssinn, gelang es ihm, den landwirtschaftlichen Betrieb profitabel und überregional als Vorzeigeunternehmen bekannt zu machen. Aber der Erfolg war nur kurz. Die neidische Schwester Luisa, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hatte und mit Sohn Eric zurück auf den Hof kam, störte die Idylle. Als Jakob bei der Abrichtung des Jagdhundes scheiterte, nannte sie ihn öffentlich einen Versager. Daraufhin beschloss Jakob: „Das alte Leben musste beendet werden, und das hier war das Letzte, was noch zu tun war“. In einer brutalen Szene, die in allen Nuancen wiedergegeben wird, tötete Jakob den Hund. Aber Luisa hatte den Vorfall gefilmt und lancierte die Veröffentlichung des Videos. Jakob wird zur Persona non grata, er „fiel und fiel und fiel. Er stand still, aber er fiel immer tiefer in einen schwarzen lichtlosen Trichter.“ Perspektivwechsel Nächste Runde Mit „Brennende Felder“ veröffentlicht der 1982 in Oberösterreich geborene Reinhard Kaiser-Mühlecker seinen neunten Roman. 2022 wurde er mit „Wilderer“ für den Österreichischen Buchpreis (Shortlist) nominiert. Und nun erscheint der Roman „Brennende Felder“, nicht direkt eine Fortsetzung, eher ein Weiterführen. Kenntnisse der vorherigen Bücher sind nicht zwingend erforderlich. Der Autor nimmt wieder einen Perspektivwechsel vor. Erzählt wird aus der Sicht von Luisa. Ihre unveränderte Verachtung Jakob gegenüber kontrastiert mit der Zuneigung zu Alexander, der seit ihrer Kindheit ein Verbündeter ist. Der Roman spielt in der unmittelbaren Gegenwart, vielleicht sogar in einer nahen Zukunft. Jakobs Fall setzt sich fort, die Ehe mit der Künstlerin wurde geschieden, Jakob arbeitet weiter auf dem Hof, lebt dort wie eine Pflanze, wie es einmal heißt. Mit 15 erfuhr Luisa im Streit mit ihrer Mutter, dass der von ihr heimlich vergötterte Bert, den alle einst Robert nannten, nicht ihr leiblicher Vater ist. Sie verließ das Elternhaus, stürzte sich in zwei Ehen, bekam jeweils ein Kind. Es heißt, die Männer wären irgendwann gewalttätig geworden, psychisch und bisweilen auch physisch. Es folgten Scheidungen, Unterhaltsärger, Trennungen. Die beiden Kinder, eines in Dänemark, eines in Schweden, sind an der Schwelle zur Pubertät und leben bei ihren Vätern. Lesen Sie dazu auch „Reinhard Kaiser-Mühlecker: ‚Wilderer‘“ von Ingeborg Waldinger vom 14.4.2022 auf furche.at. In seinem Roman „Brennende Felder“ setzt Reinhard Kaiser-Mühlecker seine Familiensaga mit mehr deutigen Figuren und viel Spannung gekonnt fort. Ein teuflischer Plan 20 Jahre später stand Bert vor Luisas Wohnung in Hamburg-Eppendorf und war bereit für die Beziehung, die sie als Möglichkeit längst vergessen hatte. Sie ließ sich nach anfänglichem Zögern darauf ein. Als bei Bert das Heimweh einsetzte, gab sie nach. Man ging zurück nach Österreich, kaufte sich ein in die Jahre gekommenes Haus, nannte es euphemistisch „Villa“. Der Reiz der Liebe verflüchtigte sich, Bert neigte zum Eigenbrötlertum. Sie erfuhr: Er besuchte nachts Höfe, brach dort ein, stahl Gegenstände, aus einem diffusen Wiedergutmachungsaffekt heraus, denn alle hatten doch „Dreck am Stecken“ gehabt während der Hitlerzeit. „ Reinhard Kaiser-Mühlecker macht es der Kritik, die mit Eindeutigkeiten wie ‚Heimatroman‘ oder ‚Anti-Heimatroman‘ jongliert, glücklicherweise schwer. “ Nun assistierte sie Bert bei seinen Raubzügen, aber eines Nachts kam er nicht zurück. Sie fand ihn tot, war jedoch weniger schockiert denn verwundert, und bemerkte, dass „das Unwirkliche und Emotionslose auf sie übergegangen“ war. Sie wurde zur „Betrachterin, fast wie im Kino, nein, wie in der ersten Reihe im Theater“. Alle sagten, es war ein Unfall. Nur Luisa hielt es für Mord und sie spuckte dem mutmaßlichen Täter, in dessen Nähe der Leichnam gefunden wurde, vor die Füße und bezeichnete ihn als Mörder. Es blieb ihre einzige Emotion, eher entstanden aus der Annahme der Lüge denn aus Trauer. Sie spuckte vor dem Anwesen von Ferdinand Goldberger aus. Der Name ist Lesern von Kaiser-Mühlecker aus dem zweiteiligen Familien-Epos „Roter Flieder“ (2012) und „Schwarzer Flieder“ (2014) bekannt. Reise der Demütigungen Foto: APA / Klaus Titzer Luisa brach auf nach Skandinavien, wollte ihre Kinder in Kopenhagen und Göteborg besuchen. Es wurde eine trostlose Reise, durchsetzt mit Demütigungen. Als sie eine ältere Freundin traf, kann sie deren spätes Glück mit Kindern kaum ertragen und „ihr war, als sei alles in ihr zu Eis geworden“. Ihre Abreise wurde fast zur Flucht, sie wollte auch ihren Wohnort verlassen, überlegte, wieder eine Karriere als Sängerin zu versuchen. Doch dann, am Vorabend ihrer Abreise, kam alles anders und bei einem spontanen Kirchenbesuch stand „auf einmal wieder dieser Mann vor ihr“. Es war Ferdinand Goldberger. Von nun an entwickelt sich ein fein komponiertes Kammerspiel mit flirrender, unter der Oberfläche brodelnder Spannung. Luisa begann eine Beziehung mit dem Mann, den sie einst für den Mörder ihres Lebensgefährten gehalten hatte. Das spielte keine Rolle mehr, weil ihr Bruder Alexander sie diesbezüglich beruhigt hatte. Noch behielt sie ihre „Villa“, pendelte zwischen Ferdinands Anwesen und ihrem Haus. Dort lebte neben einem eher zurückhaltenden Onkel Thomas auch Anton, Ferdinands zwölfjähriger Sohn. Ein schwieriges, verschlossenes Kind mit Anzeichen von Autismus, fixiert auf seinen Vater und die Hündin Rasha. Luisa ignorierte er sehr lange, aber sie zeigte Geduld und Empathie, nicht zuletzt um Ferdinand zu gefallen. Sie inszenierte sich nach außen als Schriftstellerin, trug elegante Kleider und posierte mit zuweilen hochmütiger Attitüde beim dörflichen Sonntagsgottesdienst oder auf den Empfängen, zu denen Ferdinand lud, der neben seiner Tätigkeit als Landwirt auch ein überregional anerkannter und gefragter Landschaftsökonom im Dienst des Ministeriums war. Das Eis zwischen Anton und ihr taute und das Kind stimmte dem Einzug Luisas in das Anwesen Ferdinands zu. Sie bekam ein Schreibzimmer eingerichtet und „feierte (…) nicht nur dieses neue Leben“. Aber diese Momente des Glücks blieben kurz. „Eben noch war man wild aufeinander, zwei Jahre später schon wusste man nicht mehr, wie das hatte geschehen können.“ Anfangs schrieb Luisa noch konzentriert an einer Geschichte, sammelte Zeitungsausschnitte, aber verlor immer mehr den Faden. Der Sommer war so heiß, dass Mähdrescher und Ballenpressen während des Betriebs Feuer fingen und es aussah, als würden die Felder brennen. Bei Luisa zeigte sich eine veritable Zukunftsangst. Einen Beruf hatte sie nie ausgeübt und in Gedanken rekapitulierte sie, die so häufig Begehrte, die anscheinend nicht kleine Liste ihrer Liebhaber, „die ihr bisweilen als ihr einziger Reichtum vorkam“. Aber noch etwas anderes beschäftigte sie: „Wie viel Zeit hatte sie in ihrem Leben damit verbracht, darüber nachzudenken, weshalb sie sie nicht empfinden konnte“. Sie überlegte, wie es zwischen ihr und Ferdinand weitergehen sollte. Und was war mit Anton, in 50 Jahren zum Beispiel? „Mit jedem Jahr würde sein Anblick ein abstoßenderer sein“, konstatiert sie und sie begriff, „dass sie im Grunde nur noch Ferdinand hatte, der sie in der Wirklichkeit hielt, und nicht erst einmal hatte sie gedacht: Ich darf diesen Mann niemals verlieren“. Antagonistin ohne Empfindung Mit Luisa hat Kaiser-Mühlecker eine Antagonistin zu Gregor Keuschnig, den labilen Protagonisten Peter Handkes aus „Die Stunde der wahren Empfindung“, erschaffen. Während Keuschnig sich mit der Welt mittels einer zufälligen, epiphanisch erzählten Erscheinung versöhnte, bleibt Luisa die Frau ohne Empfindung, die selbst darüber in Tränen ausbricht, „dass es nicht ging, dass nichts ihr nahekam und niemand, nichts und niemand sie berührte und dass nichts dauerte, nichts blieb auf dieser Welt“. Die Figur und ihr teuflischer Plan werden als Suspense-Drama inszeniert. Pathologische oder gar moralische Deutungen bleiben glücklicherweise aus. Reinhard Kaiser-Mühlecker macht es der Kritik, die mit Eindeutigkeiten wie „Heimatroman“ oder „Anti-Heimatroman“ jongliert, glücklicherweise schwer. Was auch damit zu tun hat, dass fast jede Figur mehrdeutig ist und sich voreiligen Charakterisierungen entzieht. Peter Handke verortete diese Prosa einmal treffend zwischen „Stifter und Hamsun“. Reinhard Kaiser-Mühlecker hat mit „Brennende Felder“ erneut gezeigt, dass er längst zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller der Gegenwart gehört. Brennende Felder Roman Von Reinhard Kaiser-Mühlecker S.Fischer 2024 368 S., geb., € 25,70

DIE FURCHE · 34 22. August 2024 Musik 15 Von Walter Dobner Foto: © SF/Ruth Walz Gelingen und Misslingen liegen zuweilen nah beieinander, wie die Salzburger Festspiele bei ihren beiden letzten Musiktheaterproduktionen zeigen: Umjubelt Prokofjews „Der Spieler“, verfehlt hingegen Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“. Regisseure könnten bessere Erzähler sein Erneut konnten die diesjährigen Salzburger Festspiele mit einer Oper nach einem Dostojewski-Roman – nach Weinbergs „Der Idiot“ zu Festspielbeginn nun Prokofjews Vierakter „Der Spieler“ – einen großen Erfolg landen. Gleich der Weinberg-Oper handelt es sich bei diesem selten aufgeführten Prokofjew um ein Kammerspiel. Trotzdem hat man auch für diese Dostojewski-Vertonung die großräumige Felsenreitschule als Spielort auserkoren. In einem intimeren Rahmen hätte man einen stärkeren Fokus auf die menschlichen Interaktionen legen können. Darauf zielt Sellars Inszenierung ohnedies nicht. Ein russischer Mittzwanziger, der 1860 erstmals Europa bereist, dabei angewidert ist von der „Leere und der Heuchelei der europäischen High-Society“ und dem kapitalistischen Denken und Agieren der europäischen Finanzsysteme – so fasst die Regie die eigentliche Botschaft dieses „Spieler“ zusammen. Ein Bild, das auch in die Gegenwart passt. Deshalb wird das Geschehen ins Heute transferiert. Einzelne Arkaden des Festspielhauses sind mit reflektierenden Spiegeln verblendet. Zwischen Schnürboden und Bühne pendelnde, immer wieder rot aufleuchtende, damit die jeweiligen Gewinne symbolisierende Roulette-Tische dominieren das Bühnenbild (George Tsypin). Jeder Anklang an russisches Flair wird vermieden. Selbst in dieser, von den amerikanischen Spielhöllen inspirierten Atmosphäre hätte man deutlicher machen können, dass auch in einer von manischer Geldgier bestimmten Welt die Liebe immer ihren Platz hat. Damit hat es die schon von ihrer Rolle her stiefmütterlich behandelte Polina – selbst in einer Luxusbesetzung wie Asmik Grigorian – mitunter schwer, dieses Thema stärker ins Spiel zu bringen. Schauspielerisch wurde sie von Violeta Urmanas herrisch-selbstbewusster, im Rollstuhl hereingekarrter Babulenka übertroffen. Sean Panikkars vokal untadeliger Alexej vermochte nur ansatzweise zu vermitteln, wie sehr er unter seinem Spielerzwang leidet. Gesanglich exzellent auch die übrigen Protagonisten. Salzburg-Debütant Timur Zangiev führte die Wiener Philharmoniker akkurat durch die Partitur. Manches hätte man spannungsreicher und klanglich differenzierter gestalten können. Offenbach bleibt auf der Strecke Tags darauf die „Hoffmann“- Premiere im Großen Festspielhaus. Schon im Vorjahr scheiterte Christoph Marthaler hier bei seinem Versuch, Verdis „Falstaff“ aus der Perspektive einer Filmproduktion zu deuten. Trotzdem hat sich die bei den Festspielen debütierende Mariame Clément gleichfalls für ein solches Konzept bei ihrer Auseinandersetzung mit Offenbachs populärer Oper entschieden. Dabei ist es ohnedies schon eine Herausforderung, die sich in dieser fünfteiligen Opéra fantastique überlagernden Ebenen von Realität und Fiktion zu einem logischen roten Faden zu verknüpfen. Da bedarf es nicht zusätzlich einer – noch dazu so verkrampften – Interpretation von Hoffmann als Filmregisseur in zwischen Kahlheit und Fin de Siècle wechselnden Kulissen (Julia Hansen). Vor allem, wenn sich aus dieser Erzählart kein tieferes Verständnis für die vielgestaltigen Episoden dieser schwierig zu dechiffrierenden Künstlerpersönlichkeit gewinnen lässt. Clément verheddert sich in Details. Handys, Elektrogitarre, Kameras und Fernseher bevölkern die Bühne. Dazu, ebenso unnötig, Videoeinspielungen. Bei den Arbeiten am Set bleibt kaum Raum, um den Frauenrollen jenes neue Bild zu verpassen, das die Regisseurin – folgt man ihrem Beitrag im Programmheft – anstrebt. Aber auch, was Hoffmann mit einem offensichtlich einem Supermarkt entwendeten Einkaufswagen zu tun hat, lässt sich mit keiner der möglichen Versionen dieser Oper – eine letztgültige hat der Komponist bekanntlich nicht überliefert – in irgendeinen Bezug bringen. Gesanglich souverän, schauspielerisch weniger überzeugend agierte Benjamin Bernheim in der Titelpartie. Meist brillant bewältigte Kathryn Lewek die vier Frauenfiguren, eine Mammutaufgabe. In einer konzertanten Aufführung hätte Kate Lindseys auf der Der Spieler Regisseur Peter Sellars versetzt das Geschehen von Prokofjews „Spieler“ in die Gegenwart. Das Bühnenbild wird von immer wieder aufleuchtenden Roulette-Tischen dominiert. „ Es handelt sich bei diesem selten aufgeführten Prokofjew um ein Kammerspiel. Trotzdem hat man auch für diese Dostojewski-Vertonung die großräumige Felsenreitschule als Spielort auserkoren. “ Bühne etwas sperrig wirkende Muse/Nicklausse noch mehr beeindruckt. Rollendeckend die übrigen Comprimarii, ohne dass sie stets mit dem geforderten Glanz aufwarteten. Die größte Enttäuschung dieser Premiere aber war Marc Minkowski am Pult der von ihm wenig geforderten, selten elegant und subtil musizierenden Wiener Philharmoniker. Fast erweckte es den Anschein, als wollte der Dirigent zu diesem Regie-Torso nur eine halbherzige musikalische Kulisse beisteuern. Dabei brachte man seine Fassung dieses Offenbachs zur Aufführung. Unverständlich. Der Spieler Felsenreitschule: 22., 25., 28.8. Les Contes d’Hoffmann Großes Festspielhaus: 24., 27., 30.8. Anton Bruckner – Musikant Gottes, Superstar und Mensch Seine Musik ist von tiefer Gläubigkeit geprägt – und von einer spirituellen Kraft, die die klassischen Religionen übersteigt. Der österreichische Komponist, Organist und Katholik Anton Bruckner wurde vor 200 Jahren, am 4. September 1824, in Ansfelden bei Linz geboren. Wer war Anton Bruckner, was hat für ihn Lebenskunst bedeutet? Was ist heute von ihm zu lernen? Von einem Menschen, der trotz seines starken religiösen Glaubens nicht glauben kann, was er alles „kann“. Die Ö1-Reihe „Lebenskunst“ widmet ihm eine Spezialausgabe. Lebenskunst – Begegnungen am Sonntagmorgen Sonntag, 1. September 2024, 7.05 Uhr, Ö1 religion.ORF.at Furche24_KW34_Ö1.indd 1 08.08.24 12:41

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