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DIE FURCHE 22.02.2024

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DIE FURCHE · 8 6 International 22. Februar 2024 Von Gerhard Mangott Der Krieg in der Ukraine ist vor vier Monaten in einen Stellungsund Abnützungskrieg übergegangen. Die Hoffnung der Ukraine und ihrer westlichen Unterstützer auf die Rückeroberung besetzten Gebietes hat sich nicht erfüllt. Eine Änderung der Frontlinie hat die ukrainische Armee nicht erreicht. Umgekehrt haben russische Truppen erfolgreiche Vorstöße unternommen und zusätzliches Gebiet erobert. Daher gilt seit November 2023 die Strategie der „aktiven Verteidigung“: Die ukrainische Armee baut Verteidigungsanlagen aus, um die Frontlinie zu halten; an eine neue Offensive ist nicht zu denken. Ob die Ukraine dieses Ziel erreichen kann, ist offen. Der Armee fehlt es an Munition und Personal, um russische Offensiven dauerhaft abhalten zu können. Die Waffen- und Munitionslieferungen des Westens sind zu gering. Vor allem bei den Artilleriegeschossen ist die Ukraine der russischen Armee deutlich unterlegen. Dieser Mangel an Ausrüstung ist auch das Ergebnis zögerlicher westlicher Hilfe. Die EU hat zwar neue Verpflichtungen zur Militär- und Finanzhilfe übernommen. Aber in den USA wird der Antrag Joe Bidens vom Oktober 2023, der Ukraine neue Hilfe im Umfang von 61,4 Milliarden US-Dollar zu gewähren, im Kongress blockiert. Eine Mehrheit der US-Bürger denkt mittlerweile, dass die USA der Ukraine schon genug geholfen hätten; das gilt noch mehr für die republikanische Wählerbasis. Bleibt die Hilfe der USA aus, kann die EU das nicht kompensieren. Es fehlt in Europa eine starke Rüstungsindustrie, die den Bedarf der Ukraine decken könnte. In einigen Ländern auch der politische Wille. Die Furcht vor der Eskalation Aussichten auf eine Verhandlungslösung gibt es nicht; nicht einmal Gespräche über eine Waffenruhe. Beide Kriegsparteien setzen noch immer auf den militärischen Erfolg auf dem Schlachtfeld; beide glauben noch, den Krieg gewinnen zu können. Zwar betonen beide Seiten, zu Verhandlungen bereit zu sein. Aber beide Kriegsparteien stellen dafür Bedingungen, die für die jeweils andere Seite unannehmbar sind. Die Ukraine will mit Russland erst verhandeln, wenn alle russischen Truppen die Ukraine verlassen haben – auch die Krim. Das wäre aber gleichbedeutend mit einer desaströsen Kriegsniederlage Russlands – worüber sollte dann noch verhandelt werden? Überdies hat die ukrainische Führung Gespräche mit Wladimir Putin ausgeschlossen. „Wir werden mit dem nächsten Führer Russlands“ sprechen, so Wolodymyr Selenskyj. Das kann aber lange dauern. Russland wiederum fordert für Verhandlungen, dass die Ukra ine die Zugehörigkeit von vier – russisch besetzten – ost- und südukra inischen Regionen zu Russland anerkennt. Selenskyj hat aber territoriale Zugeständnisse ausgeschlossen; auch die deutliche Mehrheit der Ukrainer ist gegen „Land für Frieden“. Die offizielle westliche Position ist, dass nur die Ukraine über den Zeitpunkt für die Aufnahme von Verhandlungen entscheiden Foto: Getty Images / The Washington Post / Alice Martins Erinnerung Ein Ausschnitt der Mauer vor der St.-Michaels- Kathedrale in Kiew, wo Fotos gefallener ukrainischer und ausländischer Soldaten sowie Freiwilliger ausgestellt sind. Lesen Sie dazu das Interview mit dem Kernwaffenexperten Frank Sauer von der Bundeswehr- Uni München von B. Quint (29.3.23) auf furche.at. Es sei falsch, zu glauben, die Ukraine würde selbst ihre Kriegsziele bestimmen. Vielmehr sei es der Westen, der die Fäden in Händen halte. Österreichs führender Russland-Erklärer und -Einordner zieht Bilanz. Bauern auf dem geopolitischen Schachbrett? „ Angesichts der Konsequenzen des Einsatzes von Nuklearwaffen wäre es nicht anzuraten, zu testen, ob die russische Führung blufft. “ soll. Auch liege es an der Ukraine, die Kriegsziele zu definieren. Das ist zwar diplomatisch nachvollziehbar, aber es ist nicht richtig. Natürlich entscheiden die westlichen Staaten mit den Waffen, die sie liefern, und damit, in welchen Mengen sie diese liefern, wozu die ukra ini sche Armee militärisch befähigt wird. So ist es der Westen, der die Kriegsziele in der Ukra ine bestimmt. Die ukrainische Führung gibt als Kriegsziel die Wiederherstellung der Landesgrenzen von 1991 an. In diesem maximalen Kriegsziel wird sie vor allem von osteuropäischen und der britischen Regierung unterstützt. Viele Beobachter halten dieses Ziel aber für militärisch unerreichbar. Wenn die ukrainische Armee dazu in der Lage wäre, fürchten andere Beobachter eine Eskalation des Krieges. Eine horizontale Eskalation, das heißt, zusätzliche Länder werden in den Krieg hi nein gezogen. Oder eine vertikale Eskalation, das heißt, Russland könnte in einem Szenario, wo es die Kontrolle über die Krim zu verlieren droht, taktische Nuklear waffen einsetzen. Die Ukraine weist solche Befürchtungen zurück. Die impliziten nuklearen Drohungen aus Russland sollen nur die westlichen Bevölkerungen verunsichern und die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, schwächen. Der Westen solle sich auch nicht selbst abschrecken, das heißt, aus Angst vor einer nuklearen Eskalation die Unterstützung für die Ukraine beenden. Bisweilen meinen viele Beobachter auch, Russland würde mit den Nukleardrohungen nur bluffen. In der Tat ist der Einsatz von Nuklearwaffen in diesem Krieg unwahrscheinlich. Es bleibt aber ein Restrisiko, das politisch bearbeitet werden muss. Angesichts der gravierenden Konsequenzen des Einsatzes von Nuklearwaffen wäre es nicht anzuraten, zu testen, ob die russische Führung nur blufft. Waffenruhe, das Korea-Modell Sollten die Kriegsziele der Ukra ine daher begrenzt werden? Und: Wie soll der Krieg enden? Grundsätzlich gibt es drei Szenarien für das Ende eines Krieges. Das erste Szenario ist die Intervention einer dritten Partei, die die beiden Kriegsparteien zu einer Verhandlungslösung zwingt. Das ist völlig unrealistisch. Das zweite Szenario ist, dass sich eine Kriegspartei militärisch gegen die andere durchsetzt und einen Diktatfrieden verlangt. Auch das ist auf absehbare Zeit, wenn nicht überhaupt, unrealistisch. In einem dritten Szenario schließlich sind die beiden Kriegsparteien irgendwann militärisch völlig erschöpft, erwarten sich keinen Sieg mehr auf dem Schlachtfeld und beginnen Verhandlungen. Das ist wohl das realistischste dieser drei Szenarien. Die westliche Politik streitet hinter den Kulissen darüber, ob sie auf Verhandlungen über eine Waffenruhe drängen soll. Jene, die der Ukraine bestenfalls zutrauen, die Frontlinie zu halten, argumentieren in diese Richtung. Eine Waffenruhe würde zunächst Russland begünstigen: Die Aggression hätte sich gelohnt; Russland würde zwar nicht de jure, aber de facto beachtliche Gebiete der Ukraine kontrollieren. Auch könnte die russische Seite ein Einfrieren des Konfliktes dazu nutzen, ihre Streitkräfte zu regruppieren, neu auszurüsten und aufzustocken, um vielleicht nach drei oder vier Jahren zusätzliche Gebiete der Ukraine anzugreifen. Das ist sicher richtig, auch wenn es umgekehrt auch für die Ukraine gilt. Eine Waffenruhe – das Korea-Modell – müsste daher damit einhergehen, die Ukraine militärisch und wirtschaftlich hochzurüsten, um einen neuerlichen russischen Angriff abschrecken zu können. Aber derzeit sind Gespräche über einen Waffenstillstand völlig unrealistisch. Ein Argument, das im Westen immer wieder zu hören ist, ist, dass die Ukraine die europäische Sicherheit verteidigt. Das kann nur dann als richtig gelten, wenn mit genügender Sicherheit angenommen werden kann, dass Russland nach einem Sieg oder einem Waffenstillstand in der Ukraine Mitgliedsstaaten der NATO angreifen würde. Besser wäre es also, die Ukrainer im Krieg gegen Russland zu unterstützen, bevor Europa selbst gegen Russland kämpfen müsste. Ein solches Szenario ist aber wenig wahrscheinlich. Nach dem Ende des Ukra inekrieges dürfte es viele Jahre dauern, bis die russische Armee wieder die Stärke erreicht hat, die sie vor dem Ukrainekrieg hatte. Die russische Führung mag durch-

DIE FURCHE · 8 22. Februar 2024 International 7 aus Ambitionen haben, das „historische Russland“ wiederherzustellen; aber Ambitionen sind das eine, und militärische Fähigkeiten sind das andere. Es lässt sich also nur dann davon sprechen, dass die Ukraine die europäische Sicherheit verteidigt, wenn es das Ziel des Westens ist, Russland möglichst dauerhaft zu schwächen. Aber wären die ukrainischen Soldaten dann nicht Bauern auf einem geopolitischen Schachbrett? „ Das realistischste der drei denkbaren Szenarien: Beide Parteien sind irgendwann militärisch völlig erschöpft, erwarten keinen Sieg mehr und beginnen Verhandlungen. “ Gegner des Krieges war jedenfalls Alexej Nawalny. Er war das charismatischste und mobilisierungsstärkste Gesicht der liberalen Opposition in Russland. Nun ist er tot. Wir wissen nicht, ob er akut gewaltsam zu Tode kam oder eines „natürlichen“ Todes starb. Ein natürlicher Tod, der durch die Drangsalierungen und Folter in der Lagerhaft systematisch vorbereitet wurde. Schlafentzug, Isolationshaft in engen Zellen und verweigerte medizinische Unterstützung konnte Nawalny nicht überstehen. 2014 hatte er die russische Annexion noch unterstützt; die raumgreifende Invasion 2022 aber hat er verurteilt. Diese Stimme wurde nun zum Schweigen gebracht. Es gibt keine organisierte liberale Opposition in Russland mehr. Viele andere liberale Aktivisten sind im Gefängnis, wieder andere im Exil. Russland wird noch lange Krieg führen, eine Revolte gegen die Kriegsführer scheint auf absehbare Zeit völlig ausgeschlossen. Der Autor ist Russland-Experte und Professor für Internationale Beziehungen an der Uni Innsbruck. KLARTEXT Der Aufdecker Am 16. Februar 2024 starb der wohl bekannteste russische Oppositionelle, Alexej Nawalny. Die Empörung war weltweit groß. Doch was ist die politische Bedeutung seines Todes? Nawalny hat zeit seines Lebens für ein demokratisches Russland gekämpft. Das tat er auf verschiedenste Art und Weise: Er organisierte Straßenproteste, gründete eine Bürgerbewegung, war parteipolitisch engagiert und kandidierte für verschiedene Wahlen. Aber egal in welcher Form er sich politisch beteiligte – er war vor allem eines: ein Aufdecker. Und es ist genau diese Rolle, die für das Regime letztlich unangenehm, ja bedrohlich wurde. Mit seiner riesigen Gefolgschaft in den sozialen Medien war er in der Lage, die Propagandamaschine Russlands zu beschädigen, indem er etwa Informationen über Korruptionsskandale aufdeckte und politische Missstände publik machte. Mit seinem Tod hat Nawalny nun erneut genau das getan: Er hat der Welt das wahre Gesicht des russischen Regimes enthüllt. Ein diktatorisches Regime, das nicht davor zurückschreckt, unangenehm gewordene Illustration: Nora Krug / Penguin Nora Krug nimmt ihre Leserinnen und Leser mit in den Alltag eines Russen und einer Ukrainerin, lässt sie an deren Gedanken teilhaben. Der Kriegsschauplatz als Tagebuch. „Die Flagge wie ein Putzlappen“ Eine Illustration der Ukrainerin K. Ihr erster Satz: „Als ich erfuhr, dass der Krieg ausgebrochen war, nahm ich ein Bad.“ Von Brigitte Quint Zwei Zeitzeugen werden in einem sogenannten visuellen Journalismusprojekt in Form ihrer Tagebucheinträge vor den Vorhang geholt. In dem Band „Im Krieg“ lässt die Autorin und Illustratorin Nora Krug – eine gebürtige Deutsche, die seit Jahren in den USA lebt und dort publiziert – „D“ (einen Russen) und „K“ (eine Ukrainerin) über ihre Erfahrungen zwischen Februar 2022 und Februar 2023 berichten. Gegenübergestellt werden die jeweiligen Eindrücke, Emotionen und Erlebnisse der Protagonisten. Krug reicherte das Erzählte mit zahlreichen Bebilderungen an, kreierte damit eine Art erweiterte Graphic Novel. Die linke, ukrainische Seite ist zart rosa eingefärbt; die rechte, russische Seite blassblau. K, die wie D anonym bleiben will, lebt in der Ukraine und ist Journalistin. Sie wurde zur Sowjetzeit in der Wolgaregion im Westen Russlands geborgen, ist inuitischer, jüdischer und Von Julia Mourão Permoser Oppositionelle in politische Gefangenschaft zu nehmen, zu misshandeln und am Ende zu ermorden. Aber auch der Zeitpunkt seines Todes ist aufschlussreich. Abgesehen von der korrupten Natur des herrschenden Regimes zeigt uns sein Tod auch, dass Wladimir Putin kein Interesse – und offenbar auch kein Bedürfnis – mehr hat, den Schein zu wahren. Und das zu einer Zeit, in der der Krieg in der Ukraine nach Ansicht vieler Kommentatoren im Großen und Ganzen für Russland entschieden zu sein scheint. Denn dem Westen fehlt die Bereitschaft, so kräftig in den Konflikt einzusteigen, dass ein Sieg der Ukraine noch geschafft werden könnte. Sowohl nach innen als auch nach außen ist die Wende Russlands hin zu einer Paria-Diktatur wohl endgültig vollbracht. Die Autorin ist Professorin für Migration und Integration an der Donau Universität Krems. kosakischer Abstammung. K wuchs aber in der Ukraine auf, ging als junge Erwachsene für einige Jahre nach Russland und kehrte schließlich wieder zurück. 2015 tauschte sie ihren russischen Pass gegen einen ukrainischen ein. D lebte bis 2022 in Russland und ist Künstler. Er wurde in einer Kleinstadt in Sowjetrussland geboren, ging als 20-Jähriger nach St. Petersburg, wo er eine Familie gründete. Mittlerweile lebt er im europäischen Ausland, seine Frau und seine Kinder sind in Russland geblieben. Nora Krug hatte mit K und D vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Fe bruar 2022 einmal online Kontakt gehabt. Nach dem Überfall schrieb sie den beiden, bat sie, Tagebuch zu führen. „Persönliche Erzählungen enthüllen andere Facetten der Wahrheit und sind deshalb ein wichtiger Teil von ihr“, begründet Krug ihren speziellen Zugang, über den Krieg zu berichten. Bomben versus passive Konflikte Krug verweist in der Einleitung darauf, dass sie mit ihrem „Experiment“ nicht den Versuch unternehme, eine bestimmte vorgefertigte Sicht zu untermauern oder eine exemplarische ukrainische oder russische Perspektive darzustellen. Genauso wenig ginge es ihr darum, einen Raum der Aussöhnung zu schaffen oder die russische und die ukrainische Erfahrung gleichzusetzen. Vielmehr sei sie gewillt, die unterschiedlichen Gefühle, Perspektiven, Ausgangspunkte akkurat zu dokumentieren. Was ihr auch gelungen ist. Etwa in jenem Teil, in dem es darum geht, die jeweiligen Überlegenstrategien zu veranschaulichen. So benennt K „freie Meinungsäußerung“ als ihre Überlebensstrategie. D notiert dagegen: „Nur Menschen vertrauen, die deine Ansichten teilen, Gedanken und Gefühle für sich behalten.“ K beschreibt ihren Kriegsalltag als „die ständige Angst vor Bomben, dem Tod, vor Entführung, Vergewaltigung, Folter“. Für D sind es „passive Konflikte innerlicher Art. Ein Gefühl der Entfremdung.“ Die unterschiedlichen Eindrücke prallen in diesem Buch aufeinander, irritieren und verschaffen Klarheit gleichermaßen. Etwa wenn K schreibt: „Alle dreißig Minuten sehe ich, wie Züge voller Zivilisten Richtung Westen fahren und Züge voller Panzer Richtung Osten.“ Während K mit den äußeren Umständen in Konflikt gerät, führt D einen inneren Kampf: „PUTIN-CHUILO! (Russisch für Schwanz) Hier ist jetzt Mitternacht, also versuche ich zu schlafen.“ Um dann zu klagen: „Man kann nicht mehr frei atmen.“ Oder anzuklagen: „Die Russen werden sich ihrer Schuld stellen müssen.“ Nach einem halben Jahr Krieg berichtet K von ihrem Schwiegervater, der sein Gedächtnis verloren habe, kein Arzt habe herausfinden können, warum. „Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass Krieg herrscht.“ D schreibt von der russischen Flagge, die von der russischen Regierung in der Nähe seines Hauses aufgehängt worden sei. „Es regnete. Wochen später sah die Flagge aus wie ein Putzlappen.“ K spekuliert indes, wie Menschen wie D mit der Situation umgehen mögen, sie schreibt: „Wenn ich die ganze Zerstörung sehe, die hier angerichtet wurde, denke ich, dass die meisten Russen den Einmarsch befürworten.“ Zeitgleich macht sich D Gedanken darüber, wie seine Landsmänner und -frauen wohl die „Spezialoperation“, wie sie in Russland genannt werden muss, bewerten: „Ich würde vermuten, dass 30 Prozent der Russen das Regime unterstützen, 30 Prozent dagegen sind und es 40 Prozent schlichtweg egal ist, weil es ihnen wirtschaftlich einigermaßen gut geht.“ K: „Der Hass auf die Russen ist zum Hass auf uns selbst geworden.“ Daraufhin beschreibt sie eine Beobachtung: „Ein Straßenmusikant rief in ein Mikrofon: ‚Stoppt Kriege auf der ganzen Welt.‘ Es ist, als würde man einem Obdachlosen raten, ein Haus zu kaufen.“ D kontert, ohne zu wissen, was sein Gegenüber preisgab: „Ich habe Angst davor, was geschehen würde, wenn St. Petersburg bombardiert würde. Trotzdem versuche ich, es auch aus ukrainischer Perspektive zu betrachten.“ K erwidert: „Manchmal will ich die Wahrheit so sehr ans Licht bringen, dass ich dabei in gefährliche Situationen gerate.“ D bekennt: „Obwohl ich nicht in Russland bin, habe ich Angst, „ Der Hass auf die Russen ist zum Hass auf uns selbst geworden. [...] Die Vernichtung Russlands würde das Problem nicht lösen. “ K, Journalistin aus der Ukraine mich öffentlich gegen den Krieg auszusprechen.“ K: „Inmitten all dieses Grauens fällt es schwer, im Leben einen Sinn zu finden. Ich glaube nicht, dass dieser Krieg bald enden wird. Die Vernichtung Russlands würde das Pro blem nicht lösen.“ D: „Alles, was ich brauche, befindet sich in Russland: meine Familie, meine Freunde, meine Arbeit. Wenn der Krieg bald endet, will ich nach Russland zurückkehren.“ Definieren D und K Begriffe wie „Schuld“, „Opferbereitschaft“, „Vergeltung“ oder „Entschädigung“ anders als früher – angesichts des Krieges? Eine klare Antwort bleiben Nora Krug und ihre Protagonisten schuldig. Vielmehr gilt es für die Leserinnen und Leser, die jeweils eigene Antwort zu finden. Genau das ist eine der vielen Stärken von „Im Krieg“. Ein be­ „ PUTIN-CHUILO! (Russisch für Schwanz) Hier ist jetzt Mitternacht, also versuche ich zu schlafen. [...] Alles, was ich brauche, befindet sich in Russland. “ D, Künstler aus Russland merkenswertes Stilmittel ist auch, dass mit den skizzierten Porträts von K und D kein Blickkontakt möglich ist. Nora Krug beschneidet die Körper ihrer Protagonisten; selbst auf dem Umschlagbild liegt ein Balken über deren Augen. „Das hat zwei Gründe. Einmal ist es ja deren Perspektive, die wir einnehmen: Sie sprechen über sich und über das, was sie sehen, aber sich selbst sieht man ja nicht. Zum Zweiten war klar, dass beide anonym bleiben mussten.“ Im Krieg Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg Von Nora Krug Penguin 2024 128 S., geb., € 29,50

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