DIE FURCHE · 8 18 Literatur 22. Februar 2024 „Erich Kästner: Ein Beobachter im Auge des Orkans“ von Stefan Neuhaus, erschienen am 9.1.2020, zu lesen auf furche.at Von Oliver vom Hove Lebenskünstler, Glückskind, erfolgsverwöhnter Meister in nahezu sämtlichen literarischen Klassen – das alles war der Schriftsteller Erich Kästner, und er war es schon von seinen frühen publizistischen Anfängen an: Der vor 125 Jahren, am 23. Februar 1899, als Sohn eines Sattlermeisters geborene Dresdener war bereits mit knapp dreißig Jahren als Autor etabliert. In der Weimarer Republik war er in einer Steilkurve zum überaus erfolgreichen Verfasser von Gedichtbänden, Kinder- und Jugendbüchern sowie Erwachsenenromanen aufgestiegen. Romane wie „Pünktchen und Anton“, „Das fliegende Klassenzimmer“, „Das doppelte Lottchen“, „Emil und die Detektive“ waren, millionenfach verkauft und in viele Weltsprachen übersetzt, im Nu zu Klassikern des Kinderbuchgenres geadelt. Als Beiträger verschiedenster Zeitungen in Berlin publizierte der promovierte Germanist in den frühen dreißiger Jahren eine Fülle von Gedichten, Glossen, Reportagen und Rezensionen. Ein verschmitztes Allegro war bei den meisten Projekten, die er in Angriff nahm, der Tenor seines Schreibens. Die Bücher bezeugten viel Lockeres, charmant Dahinfabuliertes, doch niemals eine Flucht in den Elfenbeinturm abgewiesener Zeitzeugenschaft. Arbeiten unter Pseudonym Zuletzt hatte er 1931 mit dem halb autobiografischen Roman „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ einen großen Leserkreis begeistert. Diesen Status wollte er sich nicht ohne weiteres nehmen lassen, als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Als Publizist hatte er sie oft heftig bekämpft. In dem satirischen Gedicht „Ganz rechts zu singen“ hatte er beispielsweise unmissverständlich „die Dummheit als Volksbewegung“ gegeißelt: „Stoßt auf mit hellem hohem Klang! / Nun kommt das dritte Reich! / Ein Prosit unserem Stimmenfang! / (…) Wir brauchen eine Diktatur / Viel eher als einen Staat / Die deutschen Männer kapieren nur, / wenn überhaupt, nach Diktat“. Bruchlinie Werke wie „Emil und die Detektive“ machten ihn berühmt. Nach dem Krieg konnte Erich Kästner nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Zum 125. Geburtstag Erich Kästners: Tobias Lehmkuhl untersucht die Rolle des Autors im Dritten Reich und zeigt dessen Weg zwischen Anpassung und Widersetzlichkeit. Tarnkappe und Tennis Die Rache kam prompt: Am 10. Mai 1933 rief Joseph Goebbels auf dem Berliner Opernplatz dazu auf, Schriften von zu „undeutsch“ erklärten Autoren öffentlich zu verbrennen. Unter dem Gejohle einer aufgepeitschten Menge rief der Propagandaminister den Namen Kästner als dritten auf, was der als „Asphaltliterat“ Denunzierte aus einiger Entfernung selbst beobachten konnte. „ Nach dem Krieg blieb Kästner ein wachsamer Mahner vor einem Rückfall in autoritäre Entwicklungen, Sprecher eines politischen Humanismus. “ Gänzlich überrascht von den Vorgängen konnte er nicht gewesen sein: Ein Jahr vor der NS-Machtübernahme hatte er sich in Briefen in eine Zeit gestellt gesehen, „wo man damit rechnen muss, dass das Schreiben bald nur noch unter ganz strenger Zensur möglich sein wird“. Im Oktober 1934 war es dann so weit: Über Kästner wurde das Publikationsverbot in Deutschland verhängt. Dennoch verließ er das Land nicht. Er wollte Stoff sammeln für einen späteren Roman über die Naziherrschaft, bekundete er im Nachhinein. Ein triftigerer Grund war wohl die Foto: Getty Images / Ullstein Bild / Mähler Sorge um seine psychisch labile Mutter, für die er sich zeitlebens verantwortlich fühlte. Hauptsächlich aber dürfte es sein politischer Leichtsinn gewesen sein, mit dem er als vielbeschäftigter pseudonymer Autor reichlich selbstgewiss durch die Zeit segelte, viel Tennis spielte und etliche Liebschaften absolvierte. Auch unter Pseudonym blieb Kästner ein Kraftwerk der Bücher- und Drehbuchproduktion. Erleichtert wurde dem Vielund Schnellschreiber die Fortsetzung seiner einträglichen Tätigkeit nicht nur durch verdeckte Drehbuchaufträge, sondern vor allem durch eine bis 1936 gültige Sondergenehmigung, seine Bücher in der Schweiz drucken und in Deutschland verkaufen zu dürfen. In seiner jüngst veröffentlichten Studie „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“ folgt der Literaturpublizist Tobias Lehmkuhl dem Autor kenntnisreich auf seiner Gratwanderung zwischen Anpassung und Widersetzlichkeit in der NS-Zeit. Der Kollege sei schon „von Temperaments wegen kein Umstürzler“, hatte Weltbühne-Kritiker Rudolf Arnheim bereits früh konstatiert. Als Diener der Unterhaltungskunst lieferte Kästner über Strohmänner im Dritten Reich auch der Ufa unbekümmert manch leichtgewichtigen Filmstoff. Dass ausgerechnet der seit Beginn der Naziherrschaft verfemte und mit Publikationsverbot belegte Erfolgsautor Kästner 1943 als Skriptverfasser des Jubiläumsfilms „Münchhausen“ zum 25-jährigen Bestehen der Ufa auserkoren wurde, hat damals nicht wenige überrascht – am meisten Kästner selbst. Aber Propagandaminister Goebbels höchstpersönlich hatte den Verfasser des erfolgreich verfilmten Romans „Emil und die Detektive“ als unverzichtbar für sein Prestigeprojekt erklärt und ihm mit einer Ausnahmegenehmigung die Arbeit unter Pseudonym ermöglicht. Kästner nutzte den Auftrag zur Unterbringung von Konterbande: „Die Zeit ist kaputt!“ Diesen Satz legte der anonym gebliebene Drehbuchautor Kästner im „Münchhausen“-Film dem auf seiner Kanonenkugel bis zum Mond reitenden Baron, verkörpert durch Hans Albers, in den Mund. Der alarmierende Ausruf musste am 3. März 1943 bei der Festpremiere des hochambitionierten Farbfilmprojekts im Berliner Ufa-Palast für Hellhörige überraschend gegenwartsnah geklungen haben: Kurz zuvor war die Schlacht um Stalingrad verloren worden. Es gab noch andere subversive Passagen in Kästners Drehbuch. In ungewöhnlich klaren Worten grenzt sich etwa der fantastische Hasardeur Münchhausen von seinem Gegenspieler, dem machthungrigen Menschenmanipulator Cagliostro, ab: „In einem werden wir zwei uns nie verstehen: in der Hauptsache! Sie wollen herrschen, ich will leben. Abenteuer, Krieg, fremde Länder und schöne Frauen – ich brauche das alles. Sie aber missbrauchen es!“ Nicht einmal Kästners Pseudonym „Berthold Bürger“ durfte im Abspann des Films genannt werden. „Wann wird aus dem, der den Kopf einzieht, ein Wendehals?“, fragt Lehmkuhl in seiner gut recherchierten biografischen Studie, die auch viel Aufmerksamkeit dem in Kästners Werk häufig verwendeten Doppelgängermotiv widmet. Den Kopf über Wasser halten Er sei ein Hedonist gewesen, resümiert Lehmkuhl die Haltung des Autors, der letztlich nur daran interessiert gewesen sei, den Kopf über Wasser zu halten. Er habe sich in der NS-Zeit geschickt und nicht ohne opportunistische Zugeständnisse durchgeschlagen, letztlich aber nicht das Knie gebeugt vor den Nazis. Nach dem Krieg ersetzte Kästner seinen früheren Lebensmittelpunkt Berlin durch München. Er blieb ein wachsamer Mahner vor einem Rückfall in autoritäre Entwicklungen, Sprecher eines politischen Humanismus. Aber an seine früheren Erfolge konnte er bis zu seinem Tod am 29. Juli 1974 nicht mehr anknüpfen. Den Roman über die Nazidiktatur hat er nie geschrieben, es war kein Stoff für ihn. Doch sein Augenzeugenbericht über das Novemberpogrom 1938 wiegt schwer genug: „Als ich am 10. November 1938, morgens gegen drei Uhr, in einem Taxi den Berliner Tauent zien hinauffuhr, hörte ich zu beiden Seiten der Straße Glas klirren. Es klang, als würden Dutzende von Waggons voller Glas umgekippt. Ich blickte aus dem Taxi und sah, links wie rechts, vor etwa jedem fünften Haus einen Mann stehen, der, mächtig ausholend, mit einer langen Eisenstange ein Schaufenster einschlug. War das besorgt, schritt er gemessen zum nächsten Laden und widmete sich, mit gelassener Kraft, dessen noch intakten Scheiben. [...] Glaskaskaden stürzten berstend aufs Pflaster. Es klang, als bestünde die ganze Stadt aus nichts wie krachendem Glas. Es war eine Fahrt wie quer durch den Traum eines Wahnsinnigen.“ Der doppelte Erich Kästner im Dritten Reich Von Tobias Lehmkuhl Rowohlt 2023 304 S., geb., € 24,70
DIE FURCHE · 8 22. Februar 2024 Theater 19 Mit seiner Inszenierung von Thomas Bernhards Stück „Heldenplatz“ bietet Regisseur Frank Castorf ein Theaterepos voller Pathos, Sentimentalität sowie absurder Ideen und liefert damit im Burgtheater neue Perspektiven und Denkanstöße. Nächste Station Heldenplatz Von Christine Ehardt Na, jetzt hammas durchgestanden!“ lautete der erleichterte Kommentar eines Theaterbesuchers am Ende der Vorstellung. Die hoffnungsfrohen Befürchtungen waren groß bei dieser Premiere. Schon im Vorfeld hatte Frank Castorf Erwartungen geschürt, von einer „Explosion“ gesprochen und mit einem Skandal -Battle zwischen ihm und Claus Peymann kokettiert. Die vorbestellten Buhrufe schreibt er sich gleich zu Beginn des Abends selbst ins Stück. Marcel Heuperman tritt als Alter Ego Castorfs lauthals buhend auf die Bühne und fordert vom Publikum angemessene Mitarbeit ein. Da hatte es Peymann bei der Uraufführung leichter, die bekam er von Presse, Pöbel und Politik frei Haus geliefert. Sie alle machten aus Thomas Bernhards Auftragswerk zum „Bedenkjahr 1988“ diesen einen legendären Theaterskandal, der mit Stückzitaten wie „sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige“ oder „Jetzt ist alles noch viel schlimmer als vor fünfzig Jahren“ in die österreichische Geschichte einging. Für Heiner Müller, auf den Castorfs Arbeiten immer wieder verweisen, war diese Inszenierung das einzig Bemerkenswerte an Österreich. Mix aus Liedern, Texten, Zitaten Den Bühnenklassiker hat Regie-Altmeister Castorf dem Haus am Ring selbst vorgeschlagen. Nach Elfriede Jelineks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ und Peter Handkes „Zdeněk Adamec“ soll Bernhards „Heldenplatz“ seine „Österreich-Trilogie“ vervollständigen. Dass dabei kein stückgetreues Reenactment entstehen würde, war klar. Dass Castorf mit so viel assoziativer und politischer Kraft darangehen würde, begeistert und verwirrt gleichermaßen. Zwischen übergroßen Reklametafeln mit Fotos von Al Capone und den Beinen Marilyn Monroes sind auf der ausgeklügelten Drehbühnenkonstruktion von Aleksandar Denić ein U-Bahn-Abgang zur New Yorker Station „Borough Hall“ sowie zwei originalgetreue Plakate der von amerikanisch-deutschen Nazis organisierten „Mass Demonstration for the true Americanism“ (die am 22. Februar 1939 im Madison Square Garden stattfand) sowie das obligatorische Kabäuschen für die per Videowall übertragenen Esszimmerszenen der Familie Schuster untergebracht. Den Bühnenhintergrund füllt die Schwarz-Weiß-Fotografie einer NS-Massenkundgebung aus. Unterm Bühnenboden, ebenfalls per Livebildern zugespielt: ein kompletter U-Bahn-Waggon, an dessen Fenstern Landschaften vorbeiziehen. Genauso ungeordnet wie der Bühnenaufbau ist wie immer auch die Szenenfolge. Auf die erste längere „Heldenplatz“-Passage muss man warten. Castorf zwängt Bernhards Stück in losen Fragmenten zwischen Kurzgeschichten von Thomas Wolfe und den Tagebuchaufzeichnungen des jungen J. F. Kennedy ein. Das ist gut so, denn aus dem Text lässt sich sonst wohl nur mehr Klischeehaftes herausholen. Zwischen Bernhards hellsichtigen Kommentaren über Österreichs „ Castorf zwängt Bernhards Stück in losen Fragmenten zwischen Kurzgeschichten von Thomas Wolfe und den Tagebuchaufzeichnungen des jungen J. F. Kennedy ein. Das ist gut so. “ verdrängte Nazivergangenheit und der aktuellen Zunahme antisemitischer Anfeindungen sowie dem Erstarken populistischer Autokratie weltweit ist so vieles passiert, dass auf sein Werk mittlerweile vorwiegend mit großmütiger Abgeklärtheit reagiert wird. Stattdessen liefert Castorf einen wilden Mix aus Zitaten, Texten und Liedern aus unterschiedlichen Zeiten und Orten, um neue Perspektiven und Denkanstöße zu liefern. Bernhards Stück überlässt er inklusive Bügelexzessen am Hemd des verstorbenen Professors Josef Schuster der ironischen Überzeichnung durch das sechsköpfige Ensem ble, und das gelingt vor allem Birgit Minichmayr wunderbar. Von der Geschichte der jüdischen Familie, die aus dem Exil nach Österreich zurückgekehrt ist, aber weiterhin antisemitischen Attacken sowie den Traumata des erlebten Grauens ausgesetzt ist, bleibt zwar nicht viel übrig, doch es reicht, um darin Bernhards Sprachgewalt zu erkennen und für den Höhepunkt des Abends zu sorgen: eine mit weißen Bandagen als Mumie verkleidete Minichmayr, die mit Verve den zentralen Monolog von Robert Schuster über dessen Resignation und Enttäuschung brüllend, lallend und herrlich larmoyant („Ich protestiere gegen überhaupt nichts mehr!“) zum Besten gibt. FEDERSPIEL Auch aktuelle Bezüge sind nur sparsam eingestreut, Castorf verweist vielmehr auf die Geschehnisse vor 1938, als Amerika fassungslos und fasziniert zugleich auf den Faschismus in Europa blickte. Kennedy, der als Sohn des Londoner Botschafters durch Deutschland reiste, notierte anerkennend, „Hitler scheint hier sehr beliebt zu sein“, und selbst bei dem von Bernhard hochgeschätzten Schriftsteller und mehrfachen Deutschland-Besucher Wolfe folgte die Einsicht über die Brutalität des nationalsozialistischen Regimes erst spät. Zwanzig-Sekunden-Video Zu viel wurde schon vom Kulturpessimismus gesprochen und geschrieben. Wir können nicht immer auf der Stelle treten. Die Rede sei nun endlich einmal von den Kulturoptimisten. Unlängst begegnete ich einem Vertreter dieser der Zukunft freudig zugewandten Spezies. Dem allgemeinen Tenor der versammelten Gruppe, die bedauerte, dass man in einer Diskussion über politische Ethik nicht vom „kategorischen Imperativ“ sprechen könne, ohne zu erklären, was das sei und woher der Begriff komme, entgegnete der Kulturoptimist: „Die jungen Leute lesen nicht mehr. Aber das macht nichts. Nach dem Lesen kommt eben etwas anderes.“ Ich bewunderte seinen Mut, der Zukunft ins Auge zu sehen. Und ich fragte mich und schließlich ihn, was denn dieses andere sei. Die Antwort: „Zum Beispiel TikTok-Videos.“ Ich muss mich nun auch in dieses Medium einarbeiten, denn ich bin schon gespannt darauf, die Lektüre von Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ durch ein zwanzig Sekunden langes TikTok-Video zu ersetzen. Noch dazu, Meister des Schauspiels Spielgewaltig folgt das sechsköpfige Ensemble, da runter Birgit Minichmayr und Branko Sa marovski, Frank Castorfs Neuinszenierung. Foto: Matthias Horn Wie wurde „Heldenplatz“ 2010 inszeniert? Lesen Sie die Theaterkritik „Die Ohnmacht des Vergangenen“ von Patric Blaser vom 16.9.2010 auf furche.at. Beklemmend Inge Maux’ Interpretation des jüdischen Widerstandsliedes „Es brent, briderlekh, es brent!“, das nahtlos in eine gesungene Variation von Bernhards Sätzen übergeht, oder Szenen aus Wolfes Sammelband „From Death to Morning“ von 1935 über den Tod eines jüdischen Passagiers in einem Zugabteil zwischen München und der Schweiz. Danach stimmt Marie-Luise Stockinger „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“ an, und Branko Samarovski steht verloren mit dem Stadtplan von Brooklyn in der Hand vor dem Waggon. Abend mit Tiefgang „Wir haben uns die Vergangenheit so schön eingerichtet“, heißt es an einer Stelle im Stück. Dem möchte Castorf mit seiner anachronistischen Reise entgegentreten. Wolfes Beschreibung über die Beiläufigkeit, mit der dem Tod begegnet wird, bedrückt dabei besonders und verdeutlicht das Vergessen der Opfer von Gewalt und Terror zu allen Zeiten. „Sie glauben doch nicht, dass wir sie so billig davonkommen lassen?“, meint Franz Pätzold nach der ersten Hälfte im zweiten Teil: Was dann allerdings noch folgt, hätte auch getrost weggelassen werden können, wie das comichafte Geplänkel zwischen Heuperman und Pätzold, die als Lessing’sche Lustspielkontrahenten nur mit Anonymous-Maske bekleidet in übergroßen Samttäschchen über die Bühne jagen. Mit einer Vollbremsung in der Pariser Station „Stalingrad“ geht dieses Theaterepos voller Pathos, Sentimentalität und „absurder Ideen“ nach fünf Stunden zu Ende, jede Minute davon hingebungsvoll vom Ensemble gespielt. Das Premierenpublikum spendet freundliche Buhs und langanhaltenden Applaus für einen skandalbefreiten Abend mit Tiefgang. Heldenplatz Burgtheater, 24.2., 3., 28.3. wo das Video, das ja „die Menschen dort abholt, wo sie sind“, zunächst in den ersten vier oder fünf Sekunden erklären muss, was Philosophie ist, danach, was Ethik ist, und sich erst in den letzten Sekunden der eigentlichen Frage widmen kann. Ich frage mich, ob der Umweg über das Lesen nicht doch eine Abkürzung ist. So verlockend die Vorstellung auch ist, die Philosophiegeschichte in ein paar Minuten durch das Anschauen von Videos erledigt zu haben, so sehr habe ich Zweifel an der Nachhaltigkeit dieser videotischen Vernunft. Und was passiert, wenn in vierzig Jahren die heute Jungen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: „Es ist ein Wahnsinn mit den jungen Leute heutzutage – sie schauen überhaupt keine TikTok-Videos mehr!“ Ich würde sagen, auch das wäre nicht schlimm. Danach kommt eben etwas anderes. Der Autor ist Schriftsteller. Von Daniel Wisser
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