DIE FURCHE · 8 16 Diskurs 22. Februar 2024 NACHRUF Von der Ägyptologie zur Menschheitstheorie IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Hass-Fasten: Geht das? Von Doris Helmberger Zunächst geht es um Beziehung Von Golli Marboe Nr. 7, Seiten 1 und 21 sowie allgemein Er war der personifizierte Aufweis dafür, dass auch ein akademisches „Orchideenfach“ wie die Ägyptologie enorme gesellschaftliche Relevanz entwickeln konnte. Jan Assmann gehörte zu den führenden Intellektuellen im deutschen Sprachraum. Die kulturtheoretischen Überlegungen, die sich aus seinem Fach speisten, strahlten global über den akademischen Diskurs weit hinaus. Am 19. Februar ist Jan Assmann 85-jährig verstorben. Von 1976 bis 2003 lehrte Assmann an der Universität Heidelberg. Seine aus seinen ägyptologischen Forschungen entwickelten und mit der Kompetenz eines Polyhistors ausgestatteten Bücher „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“ (1992) und „Religion und kulturelles Gedächtnis“ (2000) zählen zu den auch Laien zugänglichen Standardwerken, wie Vergangenheit in der Gegenwart hineinspielt. Aufregung rief Assmann mit seiner Theorie der „Mosaischen Unterscheidung“ (2003) hervor, in der er die Entstehung des Monotheismus mit dem Aufkommen der religiösen Gewalt in Verbindung brachte. Assmann sah sich dabei auch mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert, den er aber in der Folge entkräftete. Auch im FURCHE-Interview 2012 merkte er an, dass er keineswegs die Unausweichlichkeit von Gewalt im Monotheismus behauptet habe, sondern die Möglichkeit von Gewalt durch Religion, die bis heute fortwirke. 2015 näherte sich Assmann in seiner fulminanten Interpretation des biblischen Buches Exodus der Entstehung des Eingottglaubens als eines „Monotheismus der Treue“, der auch politische und gesellschaftliche Konsequenzen bis heute zeige. Vor allem die ideengeschichtliche Verbindung von den antiken Hochkulturen im alten Orient zu Denken und gesellschaftlichem Handeln heute und die Fähigkeit, dies auch außerhalb seines Fachpublikums plausibel zu machen, sind ein Verdienst Jan Assmanns, das nicht hoch genug einzuschätzen ist. Die Theo rien des kulturellen Gedächtnisses wurden komplementär von Assmanns in Konstanz als Kultur- und Literaturwissenschafterin lehrenden Ehefrau Aleida mit entwickelt. Das Forscher- und Denkerpaar Assmann, das fünf Kinder hat, wurde für seine Erkenntnisse auch gemeinsam gewürdigt – so mit dem Theologischen Preis der Salzburger Hochschul wochen 2016 oder dem Karl-Jaspers-Preis 2017. Höhepunkt war zweifelsohne der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Jan und Aleida Assmann 2018 entgegennehmen konnten. (Otto Friedrich) sender Faktor gewesen sein. Der eine Tropfen, der zu viel war. Unser digitales Zeitalter hat vieles erleichtert, aber auch den Respekt vor dem Gegenüber verwässert. Personen sehen einander beim Kommunizieren nicht mehr in die Augen, sondern lesen einen eingespeicherten Text. Den Menschen dahinter zu visualisieren, haben viele – zu viele – verlernt. Magdalena Tschurlovits, 1220 Wien Wie gestalten wir uns selbst? Von Ursula Baatz, Nr. 7, Seite 9 Danke dafür, den Blick auf den eigenen Körper und den Einfluss der digitalen Medien auf unser Gehirn aufzuzeigen. Es braucht Menschen wie Ursula Baatz, die nicht aufhören, Dinge aufzuzeigen, die vielen gar nicht bewusst sind. Sylvia K. Kummer, via Mail Ein Mann des Ausgleichs Von Hellmut Butterweck Nr. 7, Seite 17 Weil ich immer sehr gern in Wien und auch schon beim Karl-Marx-Hof spaziert bin, mich sehr für Geschichte interessiere, es toll finde, was Danke für die vielen neuen unterschiedlichen Themen, die DIE FUR- CHE in den letzten Monaten aufgreift. Es ist eine sehr bunte, artenreiche Wiese geworden, durch die DIE FURCHE zieht und uns eine große Auswahl an zu Pflückendem bietet. Danke auch für Ihren Leitartikel: „Nicht selbsternannte Jäger, sondern unabhängige Instanzen müssen prüfen, ob und in welchem Ausmaß Standards verletzt wurden.“ Leuten, die aus verletzter Eitelkeit, Neid und Rachsucht zu selbsternannten „Jägern“ mutieren, ist wahrscheinlich nur per Gesetz die Freude an der Sache zu verderben. Golli Marboe ist ebenso zuzustimmen, dass Suizid nie nur eine Ursache hat, jedoch könnte es im Fall Föderl-Schmid ein auslödie Sozialdemokraten in Österreich geschaffen haben und zwei meiner Nichten mit ihren Familien in Wien wohnen, habe ich den Artikel besonders interessant gefunden. Es ist bewundernswert, wie mutig Karl Seitz war und wie viel er auf sich genommen hat. Sehr interessant war es auch zu lesen, welche und wie viele Schulfächer in Österreich-Ungarn verboten waren. Gerhard Lehner, Linz Dämme der Demokratie Von Otto Friedrich, Nr. 6, Seite 1 Vielen Dank für diesen Leitartikel, der ein schönes Zeugnis ist für den Qualitätsjournalismus unseres Landes. Ja, ich muss Ihnen vollkommen zustimmen, dass es „sträfliche Geschichtsvergessenheit“ ist, sich nicht wirklich mit den Ereignissen des Februar 1934, ja überhaupt mit den dann noch folgenden Ereignissen (Juli 1934) auseinanderzusetzen. Es kommt mir oft so vor, als hätte man sich nach dem Krieg stillschweigend darauf geeinigt, das gemeinsame Ziel des Wiederaufbaues bestmöglich umzusetzen und die (unangenehme) Vergangenheit weitgehend ruhen zu lassen. Ein typisches Beispiel dafür ist die jüngste Diskussion rund Jan Assmann, geboren am 7. Juli 1938, gestorben am 19. Februar 2024, gehörte zu den wichtigsten Kulturtheoretikern der letzten Jahrzehnte. Lesen Sie die wichtigsten Beiträge über und Interviews mit Jan Assmann in der FURCHE im Online- Dossier „Zum Tod von Jan Assmann“, siehe furche.at/dossier/zum-tod-von-jan-assmann. um das Geburtshaus von Engelbert Dollfuß in Texing. Nur in einem kleinen Punkt kann ich nicht mit Ihnen übereinstimmen, nämlich jenem, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Sie mag sich zwar hinsichtlich der Februarereignisse von 1934 in Österreich nicht wiederholen, aber in größeren Zusammenhängen, also europaweit oder global gesehen, wiederholt sie sich meiner Meinung nach immer wieder. Peter Weichselbaumer, via Mail Sarma MOZAIK von Manuela Tomic Nr. 7, Seite 23 Beim Lesen dieses Beitrags von Manuela Tomic über die Krautwickel ihrer Mutter ist mir regelrecht das Wasser im Mund zusammengelaufen. Ich erinnere mich, während meiner häufigen dienstlichen Aufenthalte in den 1970er und 1980er Jahren in Wien immer wieder das Restaurant „Doubrovnik“ aufgesucht zu haben. Auf der Speisekarte stand stets die – vermeintlich – kroatische Spezialität Sarma (laut obigem Artikel türkischen Ursprungs). Mit Vorliebe habe ich – ob zu Mittag oder am Abend – die empfehlenswerte Sarma bestellt. Es war vorzüglich! Alfred Eisner, 9020 Klagenfurt Foto: APA / dpa / Silas Stein EuroDreams Special exklusiv für Österreich 10.000 Euro monatlich für ein Jahr Die Österreichischen Lotterien führen jetzt bei EuroDreams eine ganz spezielle Aktion exklusiv für Österreich durch: Unter allen Euro- Dreams Tipps, die in Österreich für die Ziehungen am Montag, den 26. Februar und Donnerstag, den 29. Februar 2024 abgegeben werden, wird zusätzlich ein Gewinn von Euro 10.000 Euro pro Monat für die Dauer eines Jahres ausgelost. Tipps für EuroDreams können zum Preis von 2,50 Euro in allen Annahmestellen der Österreichischen Lotterien sowie über win2day und auch über die Lotterien App abgegeben werden. EuroDreams wird seit Oktober des Vorjahres in Österreich sowie in den sieben weiteren Ländern Frankreich, Spanien, Portugal, Irland, Belgien, Luxemburg und der Schweiz angeboten. 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Bei EuroDreams sind jetzt exklusiv in Österreich 10.000 Euro pro Monat für ein Jahr zusätzlich zu gewinnen Foto: Österreichische Lotterien IN KÜRZE RELIGION ■ Rom setzt deutsche Bischöfe massiv unter Druck Aufregung unter den deutschen Bischöfen: Unmittelbar vor deren Frühjahrsvollversammlung traf ein von drei führende Kurienkardinälen unterzeichneter Brief ein, in dem die Bischöfe vor der Einrichtung eines Synodalen Rats aus Bischöfen und Laien, der die Bischöfe beraten soll, als dem kirchlichen Recht widersprechend gewarnt wurden. Die Bischöfe kamen der Aufforderung nach, das Vorhaben von der Tagesordnung ihrer Vollversammlung zu nehmen. Seitdem herrscht Empörung, zumal alle Beteiligten versichert hatten, die Einrichtung des Synodalen Rates würde sich auf dem Boden des Kirchenrechts bewegen und Papst Franziskus habe für Amazonen ein Statut genehmigt, in dem ein ähnliches Beratungsgremium verankert sei. Bischofskonferenz-Vorsitzender Georg Bätzing, aber auch die Theologin Julia Knop sowie Deutschlands oberste Ordensfrau Katharina Kluitmann äußerten sich tief enttäuscht über das Vorgehen Roms. Zuvor hatte auch der Wiener Kardinal Christoph Schönborn auf der Plattform communio.de seine deutschen Mitbrüder gedrängt, von ihrem Vorhaben abzulassen. Knop nannte die Vorbehalte, die in Deutschland gegangenen Schritte würden das sakramentale Bischofsamt unterwandern, „theologisch haltlos“. Damit werde „ein Pappkamerad aufgebaut, mit dem die Bischöfe unter Druck gesetzt werden“. WISSEN ■ Masern: WHO schlägt Alarm Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt wegen stark steigender Masern-Infektionszahlen Alarm: Im vergangenen Jahr wurden weltweit mehr als 306.000 Masernfälle gemeldet, wie die WHO kürzlich mitteilte. Das sei ein Anstieg von 79 Prozent gegenüber dem Jahr 2022. Masernfachleute seien angesichts dieser Zahlen „äußerst besorgt“, sagte Natasha Crowcroft, die bei der WHO für Masern und Röteln zuständig ist: „Das laufende Jahr wird angesichts dieser Entwicklung eine große Herausforderung.“ Die Expertin geht zudem von einer deutlichen Dunkelziffer aus, da bei weitem nicht alle Maserninfektionen gemeldet werden. BILDUNG ■ Containerklassen in Wien Die Schulen in Wien stehen an ihren Kapazitätsgrenzen. Obwohl in den letzten zehn Jahren etwa 1200 neue Klassenräume errichtet wurden und im kommenden Schuljahr 103 neue Räume dazukommen, muss die Stadt auch auf Containerklassen setzen. Als Gründe für die angestiegene Nachfrage werden Migration aus Kriegsgebieten, Familienzusammenführungen und mehr Bedarf in der Sonderpädagogik genannt. An sieben Standorten werden jetzt temporäre Schulklassen mit jeweils bis zu zwölf Bildungsräumen aufgebaut. Fertig werden sollen sie vor dem kommenden Schuljahr. Kostenpunkt: 14 Millionen Euro.
DIE FURCHE · 8 22. Februar 2024 Literatur 17 Mittelalterliche Machtverhältnisse kommen wieder, eine Retro- Gesellschaft setzt sich durch: Der Roman „Sinkende Sterne“ von Thomas Hettche ist ebenso rätselhaft wie anspielungsreich. Von Anton Thuswaldner Literatur vermag es, die Welt aufzuschlüsseln und den Zugang zu Lebenswelten zu eröffnen, zu denen man selbst keinen Zugang hat. Dann tritt sie mit dem Anspruch auf, im Sinne der Aufklärung Verständnis zu schaffen für eine weitgehend unbekannte Wirklichkeit. Literatur vermag es aber auch, unsere Welt, wie wir sie kennen, zu verrätseln. In diesem Fall bildet sie Welt nicht ab, sondern nimmt diese zum Ausgangspunkt, um darüber eine Möglichkeitsrealität zu spannen. Sie führt nicht zu Begegnungen mit Menschen, denen man sowieso über den Weg läuft, sie erschafft welche, die damit beschäftigt sind, sich zurechtzufinden in einem uns wenig vertrauten, ins Schräge verschobenen Alltag. Thomas Hettche gehört zur Spezies dieser Abbildverweigerer. In seinem jüngsten Roman „Sinkende Sterne“ führt er in eine recht nahe Zukunft, wo die Karten neu gemischt sind. Der Erzähler heißt Thomas Hettche, arbeitet als Schriftsteller und ist dennoch nicht der Mensch aus Fleisch und Blut, der sich gefestigt durch sein Leben bewegt und mit dem man bei Lesungen ins Gespräch kommen kann. Den Roman-Hettche hält es nicht in seiner bürgerlichen Art, er schreibt sich heraus aus der gemäßigten Lage seiner Existenz, er geht im Denken das Risiko ein, sich auf die dunkle Seite des Menschseins vorzutasten, die nicht so recht erforscht ist. Etwas unheimlich geht es dort zu, der gewöhnlichen Erfahrung fehlen die Begriffe für das, was sich in den Tiefen des Herzens abspielt. Also ist ein Autor vom Schlage Thomas Hettches – des lebendigen, nicht des Doppelgängers aus dem Buch – angewiesen auf Umwege. Mythen kommen ins Spiel und eine ins Archaische zurückgeworfene Menschheit. Foto: Getty Images / Universal Images Group / Sepia Times Dunkle Seite Ein Erdrutsch hat im schweizerischen Kanton Wallis die Topo grafie gravierend verändert: Wo Siedlungsgebiet war, ist jetzt ein See. Von Demokratie ist nichts mehr zu sehen. Bild: „Bergsee mit Möwen“ von Arnold Bocklin (1847). Wenn alle Sicherheiten wegbrechen Radikal veränderte Umgebung Der Roman beginnt klassisch. Ein Mann kommt nach Jahren zurück an den Ort, der ihn mit seiner Kindheit verbindet, doch der Kompass von früher passt nicht mehr zur inzwischen radikal veränderten Umgebung. Also kommt er über Begegnungen mit Menschen, Sichten von Erinnerungsstücken im Ferienhaus, das verkauft werden soll, und Erkundungsgänge durch das Gelände zu einer erneuten Landnahme der unvertraut gewordenen Gegend. Das geht einher mit einer Weitung des Bewusstseins, in dem sich vergangene Erfahrungen mit den soeben ausgekundschafteten neuen Umständen mengen. Und weil Hettche, der eine wie der andere, ein Mann der Literatur ist, mischt Gelesenes als eine selbstverständlich genommene eigene Wirklichkeit auch noch mit. Das Doppelgängermotiv, die dunkle Seite der Existenz, die das bürgerliche Dasein unterminiert, eine Gegenwelt als Parallelwirklichkeit mit der Fähigkeit, ins Normalleben hineinzufunken – man sieht, Thomas Hettche ist ein verkappter Romantiker. Nicht abwegig, ihm einen Hang zur Spiritualität nachzusagen. Der Erzähler kommt im schweizerischen Kanton Wallis an, wo ein gewaltiger Erdrutsch die Topografie gravierend verändert hat. Wo früher Siedlungsgebiet war, ist jetzt ein See. Im Dorf auf der Höhe, wo sich der Erzähler zurückzieht, ist von der Demokratie, die die Schweiz so vorbildlich umgesetzt hat, nichts mehr zu sehen. Mittelalterliche Machtverhältnisse kommen wieder, das Sagen haben der Uradel und die Kirche. Hettche ist als Zugereister unerwünscht. Als Hettche auf dem Amt vorstellig wird, stößt er auf Barrieren und wird hingehalten, als hätte sich die Obrigkeit Kafka-Lektüren angeeignet. Ein windiger Notar macht sich anstellig, ihn rauszuwerfen. Eine Retro-Gesellschaft hat sich durchgesetzt, ein Hinweis darauf, dass in extremen Krisen die Untertanenmentalität durchbricht. Naturkatastrophen machen dem Einzelnen seine Mickrigkeit bewusst, er gibt sich auf, macht sich zum Handlanger der Usurpatoren von Macht. Störenfriede Es gibt sie, die abseits lebenden Störenfriede. Sie machen sich weitgehend frei vom Observierungsdruck der Herrschenden. Marietta, eine ehemalige Freundin aus Kindheitstagen, und ihre Tochter Serafine zählen dazu. Sie scheinen mehr mit den Mächten der Natur zu kooperieren als mit jenen der Menschen. Hettche findet sich gut aufgehoben unter ihnen, in ihrer Unabhängigkeit. Der Mythos der wilden Frau, eine Spielart von Zur Möglichkeitsrealität der Literatur: „Und auf einmal ist doch vieles möglich“ von Brigitte Schwens-Harrant, 15.12.2016, furche.at. „ Naturkatastrophen machen dem Einzelnen seine Mickrigkeit bewusst, er macht sich zum Handlanger der Usurpatoren von Macht. “ Hexe, lebt hier auf, womit wir uns im Reich der Mythen, Märchen und Legenden finden. Das wird beglaubigt durch den Roman: „Jeder, der liest, ist Opfer eines Sirenengesangs, einer feindlichen Übernahme seines Körpers und seines Geistes durch den Text.“ Über den Sirenengesang wird ein Bezug zu Odysseus hergestellt, der in seiner Irrfahrt die klandestine Figur abgibt, die den Roman im Zentrum steuert. Der antike Held nimmt alles auf sich, um „seine Seele zu retten“, wie es zu Beginn des Epos von Homer heißt. Nichts anderes unternimmt die Hettche-Gestalt im Roman. Er sucht seine Seele zu retten, indem er sich noch einmal seiner Vergangenheit stellt, reinen Tisch macht. Er lebt in Texten, sie setzen ihm wahrlich zu. Die Reise in die Schweiz kommt einer Flucht gleich, wurde er doch von der Hochschule suspendiert. „Meine Fixierung auf Texte eines westlichen Kanons, mein Beharren auf überholten Qualitätsvorstellungen und mein sexistischer Sprachgebrauch“ hätten ihn untragbar werden lassen. Die Odyssee, Schnee von gestern? Nicht für Hettche, der ein Ur-Gefühl darin aufgehoben sieht, „denn alle Menschen haben dieselben Sehnsüchte und Ängste“. Revolutionärer Furor Mit seinem neuen Roman legt Thomas Hettche ein so rätselhaftes wie anspielungsreiches Buch vor. Aus einer Rückkehr ins Haus der Eltern wird die Suche nach einem Ich, das sich in der Literatur Rückendeckung verschafft, um gegen alle Widrigkeiten einer Zeit bestehen zu können, die mit revolutionärem Furor neue Gegebenheiten schafft. Es sieht so aus, als würde der Erzähler am Ende verschwinden in einer Fiktion, die ihn der Gegenwart enthebt. Das kommt dann einer doppelten Fiktionalisierung gleich. Thomas Hettche wird zu einer Kunstfigur in einem Roman von Thomas Hettche, der sich am Ende verabschiedet in eine Fiktion nach eigenem Ermessen. Er nimmt Platz im Chalet des Malers Balthus am Genfer See, der ihn unvermittelt als David Bowie anspricht. Thomas Hettche als David Bowie? Warum nicht! Im Denken wie in der Literatur ist alles möglich, Konjunktivwelten sowieso. Sinkende Sterne Roman von Thomas Hettche Kiepenheuer & Witsch 2023 224 S., geb., € 25,70
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