DIE FURCHE · 8 14 Diskurs 22. Februar 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Die Armbanduhr meiner Mutter lebt! Den gesamten Briefwechsel zwischen Hubert Gaisbauer und Johanna Hirzberger können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Hubert Gaisbauer ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft- Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Nachdem ich am Abend – ja, es war am Aschermittwoch – Ihren jüngsten Brief gelesen hatte, träumte ich nachts, ich hätte bei einem Vortrag die Forderung erhoben, doch endlich dem Wort „Sanftmut“ auch den männlichen Artikel zu gestatten. Warum sollte Sanftmut nur weiblich sein dürfen! Der Sanftmut, das wäre doch auch ein Trainingsprogramm gegen den herrschenden Hate Speech, oder? Vielleicht hat Ihre Klage darüber meinen Traum inspiriert, dass es neben der Frau Sanftmut einen Herrn gleichen Namens geben soll. Unkonventionell. Der unermüdliche Jorge Mario Bergoglio hat ja schon vor gut zehn „ Neben der alten Uhr wird mein Handy ganz klein und schamrot; mit all dem, was so an ,News‘ und ,Fakes‘, an Unnötigem und Unmenschlichem in ihm lauert. “ Jahren als frischgekürter Bischof von Rom gesagt: Habt Mut zur Zärtlichkeit! Und gemeint hat er natürlich die Männer. In erster Linie. Dass es aber böse Herzenskälte auch weiblichen Ursprungs – in Netz und Print – gibt, wird niemand abstreiten. Am Aschermittwoch habe ich zufällig eine Entdeckung gemacht. Beim Kramen in einer Lade habe ich die Armbanduhr meiner Mutter gefunden. Ein kleines, unscheinbares Ding. Irgendwie sanftmütig. Sanftmütig, das hätte auf meine Mutter in der herkömmlich verwendeten Redeweise überhaupt nicht gepasst. Sie war eher nüchtern und zupackend und ist mit fast 97 Jahren gestorben. Jetzt habe ich ihre schlichte Armbanduhr aufgezogen, nachdem sie seit ihrem Tod vor zwanzig Jahren unberührt in meiner Lade gelegen war. Und siehe: Sie geht, die Uhr! Daneben wird mein Handy ganz klein und schamrot; mit all dem, was so an News und Fakes, an Unnötigem und Unmenschlichem in seinem Inneren lauert. Die Armbanduhr meiner Mutter hat nur eine kleine mechanische Feder, ihr Herz. Sie lebt, wenn ich die Geduld aufbringe und sie jeden dritten Tag aufziehe. Und sie zeigt mir das Wichtigste: wie spät es ist. Liebe Frau Hirzberger, vielleicht ist es meine selektive Wahrnehmung, wenn ich in letzter Zeit immer öfter vom „sehr hohen Alter“ reden höre, auf das unsere Gesellschaft zustrebt. Und in einschlägigen TV-Dokumentationen werden mir ständig Männer vor Augen geführt, die mit 95 noch Kraftübungen auf dem Hochreck vollbringen, die ich als Zwanzigjähriger nicht zuwege gebracht habe. Ihr strahlend weißes Gebiss zeigt mir dann allerdings, dass auch sie nicht ganz von den Verschleißerscheinungen des Alters verschont geblieben sind. Aber man will ja nur unser Bestes, liebe Frau Hirzberger, wenn man uns rät, mit regelmäßigen Übungen unsere Verspannungen zu lockern. Und uns gesund zu ernähren, um eben jenes „hohe Alter“ zu erreichen. Apropos: Die Lieblingsspeise meiner Mutter war – noch mit 90 – ein Gselchtes, ein bissl fett, mit Kraut und Knödeln. Warum nur fällt mir das gerade am Beginn der Fastenzeit ein! Doch wenn ich die biblischen Propheten richtig verstanden habe, dann kommt es beim Fasten eh nicht so sehr darauf an, was wir Mund und Bauch zuführen, sondern eher darauf, was wir aus unserem Herzen oft herauslassen. Das wäre – meinen die Propheten – eine bessere Gelegenheit zum Fasten: einmal auf alle hässlichen Reden zu verzichten und uns das Papagenoschloss an die Lippen zu hängen, wenn ihnen eine Bosheit entfahren möchte. Und zum Schluss noch eine Aschermittwochfreude: Auf dem Weg in den Wald die ersten Kuhschellen entdeckt! Ach ja, Valentinstag! Alles Liebe, Von Martin Schenk Wer nicht erwerbstätig, in der Ehe versorgt In FURCHE Nr. 23 oder österreichischer Staatsbürger ist, fällt durchs 3800 10. Juni 1999 Sozialsystem, kritisiert der Autor Martin Schenk. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert das System der Sozialhilfe in Österreich. In einem aktuellen Report wird etwa der Zugang als zu restriktiv und umständlich beschrieben. Auch wird der geltende Modus mit Obergrenzen für die Leistung als inadäquat geschildert. Entsprechende Hürden würden oft auch dazu führen, dass die Sozialhilfe letztlich gar nicht bezogen werde, auch wenn man anspruchsberechtigt wäre. Martin Schenk, Sozialexperte und stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich, hat sich schon 1999 Gedanken zum Thema Armut und Sozialhilfe gemacht. Armut ist Demütigung Wer heute arm ist, gehört zu den Verworfenen. Armut ist nicht Entbehrung, sondern Demütigung. Vor allem bietet sie eines nicht mehr: den Aspekt des Aussteigens. Es ist fast irreführend, Arme als „Ausgegrenzte“ zu bezeichnen. Zwar sind sie von den materiellen Segnungen unseres Wirtschaftssystems gründlich ausgeschlossen, aber nicht von diesem System selbst. Vielmehr sind sie seinen Zwängen am meisten ausgeliefert. Gerade die, die liegengelassen wurden, werden nicht mehr losgelassen. Die am meisten Ausgeschlossenen sind die am meisten Eingeschlossenen. Wer nicht über die drei zentralen Säulen unseres Sozialsystems gesichert ist – 1. Erwerbsarbeit, 2. Ehe, 3. Staatsbürgerschaft –, fällt durch. Die am stärksten von Armut betroffenen Gruppen der Wohnbevölkerung sind demnach auch Arbeitslose, Frauen und Migrantinnen. Ein Viertel aller Arbeitslosen lebt in armen Haushalten. Das Armutsrisiko ist fünfmal höher als in der Gesamtbevölkerung. Bei Alleinerzieherinnen beziehen nur 57 Prozent ein regelmäßiges Erwerbseinkommen, zehn Prozent sind arbeitslos, 14 Prozent in Karenz, 19 Prozent leben von Unterhalts zahlungen oder anderen Sozialleistungen. 70 Prozent der Familien, die zugewandert sind, müssen in Substandardwohnungen leben und arbeiten im Niedriglohnbereich. Die Erosion der „Normalfamilie“ geht Hand in Hand mit einer Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“. Früher hieß der Weg: Schule, Ausbildung, Beruf; und das 40 Stunden in der Woche bis zur Pension. Diese zum größten Teil für Männer typischen Erwerbsbiografien lösen sich in vielen Bereichen auf. Zunehmende geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit und Niedriglohnjobs stürzen Familien trotz Erwerbsarbeit in schwere Probleme. „Wird ein sozialpartnerschaftlich organisiertes Sozialsystem, das familienorientiert ist, gut bezahlte Vollbeschäftigung für Männer, die Familienerhalter sind, zu sichern versuchen und eine weite Streuung der alternativen Beschäftigungsformen auf Jugendliche, Frauen und ältere Arbeitskräfte forcieren?“, fragt die Ökonomin Gudrun Biffl vom Foto: APA / Hans Klaus Techt Wirtschaftsforschungsinstitut. Was passiert, wenn Frauen zunehmend Familienerhalter sind? Wenn der Großteil der Männer in Zukunft infolge von befristeten Beschäftigungsverhältnissen ähnliche unterbrochene Arbeitskarrieren haben wird wie derzeit etwa 15 Prozent aller Erwerbspersonen (meist Frauen), wird der Wohlfahrtsstaat diese arbeitslosen Phasen überbrücken? AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Philipp Axmann, Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.), Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Magdalena Schwarz MA MSc, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. (FH) Manuela Tomic Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: +43 1 512 52 61-52 aboservice@furche.at Jahresabo (inkl. Digital): € 298,– Digitalabo: € 180,–; Uniabo (inkl. Digital): € 120,– Bezugsabmeldung nur schriftlich zum Ende der Mindestbezugsdauer bzw. des vereinbarten Zeitraums mit vierwöchiger Kündigungsfrist. 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DIE FURCHE · 8 22. Februar 2024 Diskurs 15 Nach zwei Jahren intensiver Verhandlungen tritt Österreichs Wirtschaftsminister Martin Kocher plötzlich gegen EU-weite Sorgfaltspflichten für Unternehmen auf. Warum? Ein Gastkommentar. Lieferkettenregeln: Aus auf den letzten Metern? Vor zwei Jahren, am 23. Februar 2022, hat die EU-Kommission ihren Vorschlag für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit präsentiert. Mit ihr sollen große Unternehmen (man geht von etwa 14.000 Unternehmen aus, das sind weniger als ein Prozent aller EU-Betriebe) dazu verpflichtet werden, die negativen Auswirkungen auf Menschenrechte und Umwelt durch ihre Geschäftstätigkeit in ihren Wertschöpfungsketten zu minimieren. Bei Zuwiderhandeln drohen Verwaltungsstrafen und allenfalls zivilrechtliche Verfahren. Dem Vorschlag vorausgegangen sind jahrelange Überlegungen, eine öffentliche Konsultation mit fast einer halben Million Stellungnahmen aus ganz Europa, intensive Beratungen mit den Sozialpartnern und eine ausführliche Studie der EU-Kommission zu Sorgfaltspflichten entlang der Lieferketten. Allen Beteiligten und Betroffenen war also seit geraumer Zeit bekannt, dass eine solche EU- Richtlinie in Vorbereitung ist. Bis dahin hatten bereits Frankreich und Deutschland eigene Rechtsvorschriften zur Sorgfaltspflicht entlang der Lieferketten eingeführt, andere Mitgliedstaaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg und Schweden) planten dies in naher Zukunft, die Niederlande haben zudem bereits ein zielgerichteteres Gesetz über Kinderarbeit eingeführt. So gesehen gab es also auch den Bedarf für eine EU-weite einheitliche Grundsatzregelung. Unternehmen wären anderenfalls mit unterschiedlichen Vorschriften und Anforderungen konfrontiert, wenn sie im EU- Binnenmarkt tätig werden. Nein zum verhandelten Kompromiss Seit zwei Jahren wird nun also dieser Vorschlag für eine EU-Lieferkettenrichtlinie in den zuständigen EU-Gesetzgebungsgremien Ministerrat und Europaparlament ausführlich diskutiert. Am Ende konnte man sich im Dezember des Vorjahres nun endlich zwischen Kommission, Rat und Parlament auf einen Kompromisstext einigen. Dieser Kompromiss stand am 9. Februar auf der Tagesordnung des zuständigen EU-Botschafterausschusses zur Foto: Privat finalen Abstimmung. An sich nur noch eine Formalität. Doch plötzlich ließ Wirtschaftsminister Kocher damit aufhorchen, dass er diesem Kompromiss nicht zustimmen könne. Österreich würde sich daher bei der Abstimmung der Stimme enthalten. Was war passiert? In Wien ist man offenbar der Meinung, der aktuelle Entwurf – also das Ergebnis von zwei Jahren intensiver Verhandlungen, bei denen Österreich jede Woche mit am Tisch gesessen ist – sei nicht umsetzbar, zumal viele Pflichten und Haftungsrisiken auf kleine und mittlere Unternehmen übergewälzt würden. Da Österreichs Wirtschaft zu 99 Prozent aus KMUs bestehe, sieht DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Stefan Brocza „ Der Kampf gegen Kinderarbeit sowie für Menschenrechte und Umweltstandards ist ins Hintertreffen geraten. “ Kocher die Gefahr, dass diese weltweit aus den Lieferketten gedrängt würden. Zur Unterstützung dieser Argumentations linie wird auf eine Studie des Komplexitätsforschers Peter Klimek und seines „Supply Chain Intelligence Institute Austria“ (ASCII) verwiesen. Dass KMUs explizit von der EU-Lieferkettenrichtlinie ausgenommen sind (wie übrigens bereits auf den ersten Seiten der erläuternden Bemerkungen zum Kommissionsvorschlag prominent ausgeführt wird), will man in Kochers Ministerium wie auch in der österreichischen Wirtschaftskammer nicht wahrhaben. Stattdessen wird damit argumentiert, dass all die übrigen EU- Mitgliedstaaten sowie das Europaparlament dies eben nicht erkennen würden. Man fordere eine Rückkehr an den Verhandlungstisch, um Verbesserungen und eine praktikable Lösung zu erzielen. Dass dies nach zwei Jahren und einem Kompromiss mit dem Europaparlament de facto das Ende des Vorschlags bedeuten würde, scheint offenbar gewollt. Österreich agiert hier aber auch als politischer Trittbrettfahrer. Denn auch in Deutschland regt sich Widerstand gegen Lieferkettenregeln. Dort jedoch aus einem anderen Grund: Der kleinste der drei Regierungspartner, die FDP, kämpft ums politische Überleben und sucht sein Heil in radikalen Entbürokratisierungsforderungen. Da kommen künftige EU- Regeln, die die Einhaltung von Menschenrechten und den Kampf gegen Kinderarbeit bei Zulieferern vorschreiben, nur gelegen. Verhinderte Diskussion Von der medialen Berichterstattung aufgeschreckt, haben Österreichs Parteien jedenfalls hektisch Position bezogen: Der grüne Regierungspartner fordert die Zustimmung zum EU-Lieferkettengesetz, verhinderte jedoch letzte Woche eine diesbezügliche Diskussion im EU-Ausschuss des Bundesrates mit dem Hinweis, man habe keine Zeit dafür. Im ebenfalls stattgefundenen EU-Unterausschuss des Nationalrates fand ein eilig eingebrachter SPÖ-Antrag auf Bindung des Ministers gemäß Artikel 23e B-VG – also die Verpflichtung zur Zustimmung im EU-Ministerrat – keine Mehrheit; vorab haben die grünen Mandatare in einer vom Zaun gebrochenen Geschäftsordnungsdebatte gleich noch versucht, das Thema nicht einmal zur Diskussion zuzulassen. FPÖ und Neos lehnen den EU-Vorschlag ab. Der Kampf gegen Kinderarbeit, Zwangsarbeit, für Menschenrechte sowie die Einhaltung von Umweltstandards bei der Warenproduktion ist damit ins Hintertreffen geraten. Stattdessen wird gegen angebliche EU-Bürokratisierung polemisiert. Der Wahlkampf ist eröffnet. Der Autor ist Experte für Europarecht und internat. Beziehungen. Aktuell tätig in Lehre und Forschung an Unis im In- und Ausland sowie als politischer Berater, Publizist und Gutachter. ZUGESPITZT Herren im eigenen Haus! Es muss kein Jägerzaun mehr sein. Und auch keine Thujenhecke. Über solche Geschmacklosigkeiten sind wir gottlob längst hinweg. Geschichtete Steinwälle hinter Gittern sind auch ganz hübsch. Aber alles eine Frage der Prioritäten. Dann stellt sich natürlich die Gretchenfrage: Eine oder zwei Garagen? Es geht ja nicht nur um die Autos, sondern um alles Mögliche: die Ski, die E-Bikes, das Zeug für den Pool, den Rasenroboter. Davor, im Freien, würde denn die Wärmepumpe stehen, aber das muss auch nicht sein und muss auch nicht so heißen. Wir sind technologieoffen! Wegen der Finanzierung machen wir uns jedenfalls keine Sorgen mehr: Mit dem Geld von der Oma und den 100.000 Euro vom Eigenheimbonus könnte sich der Kredit irgendwie ausgehen. Zum Glück gibt es noch Leute mit Hausverstand wie den Mahrer und den Muchitsch, sonst wüsste man ja gar nicht mehr, wo man als kleiner Häuslbauer bleibt! Wie das mit dem „Regimewechsel“ hin zu „weniger Förderungen“ zusammengeht, müssen Sie halt den Nehammer fragen. Wie das zu mehr Gerechtigkeit für „die vielen“ passt, müssen Sie den Babler fragen. Wie damit weniger Zersiedelung und Flächenfraß erreicht werden sollen, können Sie gleich beide fragen. Und ob sie noch Herren im eigenen Haus sind, am besten auch. Doris Helmberger NACHRUF Johan ohne Land, aber mit Friedensvision Der Titel, den Johan Galtung seiner Autobiografie gab, beschreibt seine Lebensphilosophie: „Johan ohne Land“ oder „Johan uten land“, wie das Buch auf Norwegisch heißt. Geboren am 24. Oktober 1930 in Oslo, am selben Tag, an dem 15 Jahre später die Vereinten Nationen gegründet wurden, blieb Galtung sein Leben lang ein „Niemandsland-Mensch“. Einer, der sich auf keine Seite schlug, sondern im Dazwischen blieb, ein Grenzgänger, der sein Lebenswerk darin sah, die Grenzen zwischen Menschen, Völkern, Nationen zu entminen, bevor sie zu Konfliktlinien werden und in kriegerischen Auseinandersetzungen explodieren. Galtungs Berufungserlebnis zur Friedensforschung fand in den 1950ern in einer Bibliothek in Finnland statt. Er fragte die Bibliothekarin nach Friedensliteratur, sie fand nichts, rief in der Mutteruniversität im schwedischen Uppsala an und erhielt zur Antwort, man habe nur Bücher über die Kriegsforschung. Diese Leerstelle in der Forschung wollte Galtung von nun an füllen. „Hier, Johan, habe ich zu mir selbst gesagt, hast du deine Lebensaufgabe!“, beschrieb er diese Entscheidung. 1600 Bücher, von ihm geschrieben oder mit Beiträgen von ihm, stehen seither in den Bibliotheken auf der ganzen Welt, machen ihn, so wie seine Institutsgründungen, zum Vater der Friedensforschung. Aufgewachsen in einer Arztfamilie, analysierte er Kriege mit den Augen eines Mediziners: So wie die Gesundheit ist auch Frieden kein Ereignis, sondern ein Prozess. Wie bei Gesundheit geht es um Diagnose, Prognose und Therapie. Die „Krankheit“, die es laut Galtung in Friedensprozessen zu heilen gilt, ist nicht nur die Gewalt, die ein Symptom ist, sondern die zugrundeliegenden Konflikte. Daran anschließend entwickelte er das Konzept des „positiven Friedens“, der Schaffung gerechter Verhältnisse, eines Friedens, der weit über das Schweigen der Waffen („negativer Friede“) hinausgeht. „Was haben wir getan?“, sagte Galtung, der auch gerne Gast auf der Friedensburg Schlaining und Interviewpartner der FURCHE war, müsse am Anfang jeder Konfliktforschung stehen. Mit dieser Fragestellung löste er auch viel Kritik aus. Doch Galtung war weder Anti amerikaner noch Antisemit, Galtung war ein Pro-Friedens-Ermöglicher, der dem Gandhi-Wort folgte: „Sei heute die Zukunft, die du gerne sehen möchtest.“ Am Samstag voriger Woche ist Johan ohne Land, aber mit Friedensvision 93-jährig verstorben. (Wolfgang Machreich) Foto: Niccolò Caranti (cc by-sa 3.0) Johan Galtung (1930–2024), norwegischer „Vater der Friedensforschung“, hatte am selben Tag Geburtstag wie die UNO.
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