DIE FURCHE · 51/528 International21. Dezember 2023Graubereichewerden aktuellausgeblendet,sagt der KonfliktforscherBenziman.Es ginge nurnoch um „uns gegensie“, um Gutgegen Böse – einePolarisierung,die nicht zu einerbesseren Zukunftbeitrage.Foto: iStock/Niall_MajuryDas Gespräch führteMarkus SchautaSeit mehr als zehn Wochendauert der Krieg inGaza – ausgelöst durchden Angriff der Hamasauf Israel am 7. Oktober –mittlerweile an. Welche Szenariensind für die Zeit danach denkbar?Darüber sprach DIE FURCHEmit dem israelischen KonfliktforscherJuval Benziman. So vielvorweg: Trotz allem ist für ihndie Zweistaatenlösung die einzigelangfristige Option.Der Gaza-Krieg könnte zur Einsicht führen, dass es eine Veränderung braucht, sagt KonfliktforscherJuval Benziman. Ein Gespräch über Abzugsbedingungen, Pufferzonen und einen Staat Palästina.„Einen Sieg fürIsrael wird esDIE FURCHE: Premierminister BenjaminNetanjahu versprach, einenvollständigen Sieg über dieHamas im Gazastreifen zu erringen.Wie realistisch ist das?Yuval Benziman: Zu sagen, dasses in diesem Krieg einen Sieg gebenwird, war ein Fehler. Das ruftin der Bevölkerung Erinnerungenan frühere Kriege wach. Kriege,in denen Israel durchschlagendemilitärische Erfolge erzielte.Aus mehreren Gründen wird sichdas nicht wiederholen: zum einenaufgrund dessen, was amTag des Hamas-Angriffes passiertist. Ganz gleich, wie der Exit aussehenwird: Mit all den Todesopfernauf israelischer Seite könnenwir niemals siegreich sein. Zweitenswissen wir nicht, wie einSieg konkret aussehen soll. Natürlichist die Schlagkraft der IDF(Israels Militär, Anm. d. Red.) ungleichgrößer als jene der Hamas.Aber es gilt, jenen zwei MillionenPalästinensern in Gaza eine Perspektive zu geben. Dafür brauchtes mehr als nur die Auslöschungder Hamas. Drittens bezweifle ich,dass alle Geiseln, die jetzt nocham Leben sind, zurückkommenwerden. Und es wird sehr langedauern, bis die Soldaten in Gefangenschaftin Freiheit sind. Zur Erinnerung:Nachdem der Soldat GiladSchalit 2006 von der Hamasentführt worden war, kam er erstnach fünf Jahren frei. Mag sein,Lesen Siedas Interviewmit SumayaFarhat-Naser„In unserer Existenzmehr undmehr bedroht“(31.3.2002) auffurche.at.nicht geben“dass die Lage am Ende des Kriegesbesser ist als vorher – aber einenSieg wird es nicht geben.DIE FURCHE: Welche Perspektivensehen Sie für Gaza nach demKrieg? Könnte die palästinensischeAutonomiebehörde die Regierungübernehmen?Benziman: Eine palästinensischeAutonomiebehörde, die mithilfeeiner israelischen Militäroperationin Gaza an die Machtkommt, wäre für die Menschenunglaubwürdig. Das wird nichtpassieren. Abgesehen davon hatIsrael im Moment überhaupt keinVertrauen in irgendetwas, das mitden Palästinensern zu tun hat.Unabhängig davon, ob Netanjahubleibt oder nach dem Krieg andereregieren: Israel wird jedenfallsdie militärische Kontrolle„ Es werden Siedlungen bestehen bleiben.Im Austausch werden die Palästinenser vonIsrael Land in anderen Gebieten erhalten.“über den Gazastreifen behaltenwollen. Entweder indem die israelischeArmee in Gaza für die Sicherheitzuständig ist und die Palästinenserdie Zivilverwaltungausüben; oder indem Israel imGazastreifen Sicherheitszoneneinrichtet, so wie früher im Südlibanon– etwa in Form einer fünfKilometer breiten Pufferzoneentlang der Grenze, die die Palästinensernicht betreten dürfen.Ich denke, das ist es, was aktuelleund künftige israelische Regierungenim Sinn haben.In meinen Augen wäre es besser,sich aus Gaza zurückzuziehen.Und die einzige Militärmacht,der Israel vertraut und diean seiner Stelle die Sicherheitsverantwortungin Gaza übernehmenkönnte, ist die US-Armee. Esgibt die Idee, dass in Gaza Koalitionstruppenarabischer Staatenwie Saudi-Arabien und Ägyptenfür die Sicherheit sorgen. Ichkann mir vorstellen, dass Israeldem zustimmt, wenn die USAsich bereiterklären, ebenfalls Soldatenzu entsenden, und garantieren,dass keine neuen Waffennach Gaza gelangen. Unter diesenBedingungen ist es vorstellbar,dass das israelische Militär ausdem Gazastreifen abzieht.DIE FURCHE: Der Gaza-Krieg polarisiertweltweit – wie ist die Stimmungin der israelischen Gesellschaft?Benziman: Erstmals seit demJom-Kippur-Krieg 1973 fürchtetIsraels Gesellschaft um dieExistenz des Staates. Das hat dasLand in den vergangenen 50 Jahrennicht mehr erlebt. Zwar hatdas, was am 7. Oktober geschah,Israels Existenz nicht wirklichgefährdet – aber es geht um dasGefühl, das in der Bevölkerungvorherrscht. Trotz der Vielfaltvon links und rechts, von säkularund religiös hört man seit demMassaker keine anderen Stimmenals die, die Hamas zu eliminieren.Das ist der Mainstream.Selbst diejenigen, die sich politischMitte-links verorten undsich für eine Zweistaatenlösungaussprechen, setzten primär aufdie militärische Operation underst sekundär darauf, über einepolitische Lösung zu sprechen.Ich glaube, dass in der palästinensischenGesellschaft dasselbepassiert. Denn wenn jetzt aufgrunddes Abkommens zwischenIsrael und der Hamas Palästinenseraus israelischen Gefängnissenentlassen werden und zurückins Westjordanland und nach Ostjerusalemgehen, wird das dieHamas stärken. Es wird heißen,dass weder die palästinensischeAutonomiebehörde noch die Fatahdie Freilassung bewirkt haben,sondern die Hamas. Aus diesemGrund entfernen sich beideSeiten immer noch weiter voneinander.Auch verhärten sich dieFronten, wenn ein Konflikt intensiver,ein Krieg gewalttätigerwird. Grauzonen werden dannausgeblendet. Es geht nur nochum „uns gegen sie“, Gut gegen
DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023International9Böse. Die Menschen sind entwederpro-israelisch oder pro-palästinensisch– das ist nicht nur inIsrael oder in Palästina beobachtbar,sondern auf der ganzen Welt.Diese Polarisierung trägt nichtzu einer besseren Zukunft bei. Esbleibt zu hoffen, dass dieser Extremismusmit der Zeit etwas abnimmtund sich andere StimmenGehör verschaffen können.DIE FURCHE: Ist nach dem Angriffder Hamas und dem Krieg in Gazaeine Zweistaatenlösung nochrealistisch?Benziman: Die Zweistaatenlösungist auf lange Sicht die einzigeOption. Nur wenn die Palästinenserihren eigenen Staat erhalten,wird Israel in Frieden lebenkönnen. Die Ereignisse vom 7. Oktoberhaben diese Möglichkeit allerdingsin weite Ferne gerückt.Selbst diejenigen, die daran glauben,sagen, dass wir noch einenlangen Weg vor uns haben, bis wirauch nur ansatzweise wieder einVertrauen aufbauen können. Dennochglaube ich nicht, dass es eineandere Lösung gibt. Auf Grundlageder saudischen Friedensinitiativemüssten weitere arabischeStaaten mit Israel Frieden schließen.Langfristig bleibt zu hoffen,dass die Palästinenser eine eigeneRegierung bilden, die gemäßigterist als die Hamas. Davonausgehend gilt es dann, über einenzukünftigen Staat Palästinazu verhandeln.Israel hat seit 1967 diesbezüglichnie eine klare Politik verfolgt. Einerseitshat es das Westjordanlandund den Gazastreifen nie annektiert.Andererseits hat es denBau von Siedlungen vorangetrieben.Dabei spielte es keine Rolle,ob es sich um Regierungen des politischlinken oder politisch rechtenSpektrums handelte – sie allehaben Siedlungen gebaut. Ineiner zukünftigen Zweistaatenlösungwerden einige dieser Siedlungenbestehen bleiben. Im Austauschwird der palästinensischeStaat in anderen Gebieten von IsraelLand in derselben Größe erhalten.Andere Siedlungen wirdman aufgeben müssen. Das wirdnicht einfach und zu großen Demonstrationenund Zusammenstößeninnerhalb Israels führen.Ich glaube aber, dass das die einzigeMöglichkeit ist. Zur Begleitungdieses Prozesses sollte eineinternationale Truppe in die Regionkommen. Diese kann Gewaltverhindern und gleichzeitig Israeldazu zwingen, den Bau neuerSiedlungen zu stoppen – oderzumindest die Ausweitung bestehenderSiedlungen verhindern.DIE FURCHE: Gibt es etwas, dastrotz all der Eskalation und denverhärteten Fronten hoffen lässt?Benziman: Blickt man auf dieBeziehungen zwischen Israelund der arabischen Welt, gibt esunterschiedliche Erzählungen.Folgende sehe ich in der Tat alshoffnungsvoll: Ohne den Oktoberkrieg1973 hätten Israel undÄgypten kein Friedensabkommenunterzeichnet. Erst dieserKrieg brachte beide zu der Einsicht,dass es keine andere Möglichkeitgibt, als miteinander zusprechen. Ohne die erste Intifada(Auslöser für die gewalttätigenUnruhen war der Zusammenstoßeines israelischen Lastwagensmit zwei palästinensischen Taxisim Jahr 1987, Anm. d. Red.) hättenIsrael und die PLO (PalästinensischeBefreiungsorganisation,Anm. d. Red.) die Osloer Abkommen– so problematisch sie sind –nicht unterschrieben. Israel hättesich im Jahr 2000 nicht aus demLibanon zurückgezogen, wenn esden Terror der Hisbollah nicht gegebenhätte. Und ohne den Terrorder Hamas wäre Israel 2005 nichtaus dem Gazastreifen abgezogen.Was ich damit sagen will: Esbraucht in dieser Region allzu oftenorme Gewalt, um einen Wandelzu bewirken und die Akteure zuDingen zu bewegen, die sie vorhernicht bereit waren zu tun. Im FalleIsraels war die Antwort manchmalein einseitiger Rückzug, wieaus dem Libanon oder dem Gazastreifen.In anderen Fällen kames zu Friedensabkommen wie mitÄgypten. Daher könnte auch dieserKrieg zu der Einsicht führen,dass es eine große Veränderungbenötigt.Lesen Siehierzu auchden Klartextvon SusanneGlass: „Nahost:Liebe imewigen Konflikt“(21.6.2023) auffurche.at.DIE FURCHE: Das Oslo-Abkommenvon 1993, das zum Ziel hatte, einepalästinensische Selbstverwaltungzu etablieren und die Beziehungenzwischen Israel undPalästina zu verbessern, gilt alsgescheitert. Warum sollten Verhandlungenüber einen Staat Palästinadiesmal gelingen?Benziman: Oslo baute auf einenFahrplan auf, der stufenweiseabgearbeitet werden sollte. Zuersterreicht man Stufe eins, dannStufe zwei, dann lernt man, einanderzu vertrauen, und irgendwannendet das Ganze mit einerZweistaatenlösung. Das hat nichtfunktioniert. Grund war die Vereinbarung,die Kernproblemeinnerhalb des Prozesses auszuklammern:also nicht über denStatus von Jerusalem zu sprechen,nicht über die Flüchtlinge –man glaubte, es würden sich vonselbst Lösungen finden. Von nunan müssen wir von Anfang an dasZiel des Abkommens festlegen,sollten über alle Probleme redenund diese regeln. Eines davon istdie Siedlungspolitik Israels: ImWestjordanland und Ostjerusalemleben knapp 600.000 Israelisin über 200 Siedlungen. Ja, dieseSiedlungen sind sehr problematischfür eine Zweistaatenlösung.Yuval Benziman ist leitender Dozent im„Programm für Konfliktforschung“ an derHebräischen Universität Jerusalem.Foto: PrivatEB-S_Weihnachtsanzeige_Die.Furche_211x282_RZ_12.12.23.indd 1 13.12.23 01:24
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