DIE FURCHE · 51/526 International21. Dezember 2023Der EiseskälteausgesetztKein Strom, kein Wasserund nicht einmal ein Dachüber dem Kopf: Die Situationfür Geflüchtete in Calais,darunter viele Babysund Kleinkinder, verschlechtertsich ins besondere in denWintermonaten drastisch.Von Tobias Müller • CalaisAm 6. Oktober 2023steht Maarten Bruggein aller Frühe auf.Ein starker Westwindweht über Texel. IdealeVoraussetzungen für einenStrandgutsammler, denn dannwird auf der niederländischen Inselalles mögliche angespült: Holz,Bojen, Flaschenpost, Spielzeug.Es dämmert, als Maarten Brugge,43 und Strandgutsammler indritter Generation, in einiger Entfernungetwas leicht Gekrümmtesliegen sieht. „Ein toter Seehund“,denkt er sich, doch als erdavorsteht, erschaudert er: Es isteine schwarze Jogginghose, aucheine Unterhose steckt darin. Auseinem der Hosenbeine ragt derweiße Knochen eines Unterschenkels.Nach Nordosten getriebenEr benachrichtigt Notruf und Polizei.Später wird ein paar Kilometernördlich, bei Pfahl 21, ein Turnschuhgefunden, in dem nebeneiner Socke auch ein Fußknochensteckt. Ob beide zusammengehören,weiß Maarten Brugge, der mitseiner Frau auf der Insel ein Hotelbetreibt, nicht. Deutlich aberist für ihn: Die Leichenreste stammenvon einem oder mehreren Migranten,die rund 400 Kilometerentfernt versuchten, per Boot denÄrmelkanal von Frankreich nachEngland zu überqueren.Seit fünf Jahren werden auf Texelim Herbst und bei Westwindimmer wieder Rucksäcke undKleidungsstücke angeschwemmt,erzählt Brugge an einem regnerischenHerbsttag in seinemWohnzimmer. Ein Teil der Einrichtungist aus Treibholz gezimmert.Auch Schwimmwesten fander am Strand, einmal sogar dieFotos: Julia DruelleDas Thema Flucht prägte die öffentliche Debatte auchim Jahr 2023. Weniger beachtet als das Mittelmeer istallerdings eine andere Außengrenze: der Ärmelkanal.Die letztenDünen vorEnglandBodenplatte eines Schlauchboots.Woher all diese Dinge stammenmussten, wurde ihm klar, alser mehrfach auf Autoschläuchestieß. „Ich sah irgendwo ein Fotovon Bootsmigranten, die statt einerRettungsweste solche Dingerum den Körper trugen.“Tatsächlich begannen Geflüchtetean der Meerenge von Calais,dort, wo der Ärmelkanal nur 33Kilometer breit ist, Ende 2018 mitBooten gen England aufzubrechen.Zuvor versteckten sie sich„ Mehr als tausend Personen haben sichim Niemands land rund um den Canal deBourgogne niedergelassen.“auf oder unter Lkws, die per Fährenach Dover gelangten, oder versuchtenden Eurotunnel zu durchqueren.Jahr für Jahr wurden esseitdem mehr, von knapp 2000 imJahr 2019 bis weit über 45.000 imJahr 2022. Für die Schleuser, diedie Überfahrten regeln, entstanddamit in kurzer Zeit ein lukrativesGeschäft – auch wenn in derersten Hälfte des Jahres 2023 dieZahlen erstmals zurückgingen.Gegenstände, die bei einerÜberfahrt über Bord gehen, werdenim Herbst bei stürmischemWetter mit der Strömung nachNordosten getrieben. Das Gleichegeschah mit der Leiche des jungenSyrers Mouaz Al Balkhi, der,bekleidet mit einem Decathlon-Neoprenanzug, im Oktober 2014nach England schwimmen bzw.vom Meer aus an Bord einer Fähregelangen wollte. Auch er wurdeauf Texel angespült und auf demInselfriedhof begraben. Ein andererertrunkener Syrer, ebenfallsim wetsuit, landete an der norwegischenSüdküste.Die Kleidungsstücke und Rucksäcke,die Maarten Brugge nunauf seinem Laptop zeigt, erinnernstark an solche, die in den Jungles,den inoffiziellen Flüchtlingscampsam Ärmelkanal, ausgeteiltwerden. In manchen Rucksäckenfand Brugge ein zusammengefaltetesBlatt Papier. Darauf steht,zwischen einer französischenund einer britischen Fahne: „DieÜberfahrt nach Großbritannienist sehr gefährlich. Diese Informationkann ihr Leben retten.“Hilfsorganisationen in den HafenstädtenCalais und Dunkerqueverteilen diese Merkblätter. Sieenthalten Notfallnummern derKüstenwache und Warnungen vorgroßen Schiffen, Wellen von mehrals einem halben Meter und Windgeschwindigkeitenüber zehnKnoten – essenzielle Tipps für jene,die es trotzdem versuchen.In diesem stürmischen Herbstsind die Bedingungen am Ärmelkanalmanchmal wochenlang
DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023International7Dutzende verlassenallein oder in Gruppendas provisorische LagerLoon-Plage in der Nähevon Dunkerque undbewegen sich entlangstillgelegter Schienen.zu schlecht. Doch in einer NachtMitte November setzt der Regenaus. Am nächsten Morgen sindam Strand von Calais die Klippenvon Dover zu erkennen. Der Windweht noch, soll aber im Laufe desTages abnehmen, sagt der Wetterbericht.Was dazu führt, dassim Jungle bei Dunkerque zu Mittagemsige Betriebsamkeit eingesetzthat. In den letzten Jahren hatsich dieses Camp, das immer wiedergeräumt und danach erneutaufgebaut wird, zum größten derUmgebung entwickelt. Mehr alstausend Personen haben sich imNiemandsland um den Canal deBourbourg niedergelassen. Traditionellhalten sich in dieser Gegendkurdische Geflüchtete auf,und es sind kurdische Schleuser,die das Camp kontrollieren.„ Traditionell haltensich in dieser Gegendkurdische Geflüchteteauf, und es sind kurdischeSchleuser, die das Campkontrollieren. Überallducken sich Zelte zwischenniedriger Vegetation. “Von einer Brücke der Schnellstraße,die zum Hafen führt,schweift der Blick über das Gelände.Überall ducken sich Zelte zwischenniedriger Vegetation. Gruppenvon Menschen bewegen sichentlang stillgelegter Schienenstränge.Es ist unmöglich zu sagen,wer sich die Beine vertritt, werzum nahen Einkaufszen trum unterwegsist oder wer größere Plänehat. Alle müssen ihre Schrittevorsichtig setzen, denn der Junglehat sich in eine Wasserlandschaftverwandelt. Riesige Pfützen ziehensich hindurch, Gräben amWegrand sind vollgelaufen. Übereinen davon führt eine provisorischeBrücke aus zwei Einkaufswagen,die seitlich liegend aus demWasser ragen. Ein Mann mittlerenAlters klettert mühsam darüber,gestützt auf eine Krücke.Via Schlauchboot in See stechenUnten, auf dem Hauptwegdurch das unübersichtlicheCamp, ziehen Personen durch denMatsch oder balancieren auf Ästen.Sie tragen Schlafsäcke undPlastiksackerln, hier und da hältjemand eine Schwimmweste inder Hand. Hinter der Biegung einesPfades taucht eine Gruppeauf, vielleicht 20 Personen, diesich zielstrebig einen Weg zwischenBüschen und Wassergräbenbahnt. Unbewegte Gesichterziehen vorbei, die Augen nachvorn gerichtet. Die Blicke sind angespannt.Ein junger Mann bleibtfür einen Moment stehen, als erangesprochen wird. „Keine Zeit“,erklärt er. Wo er herkommt? „Iran.Die Schutzsuchendenwärmen sich dieHände an einem provisorischenFeuer.Teheran.“ Ob er auf dem Weg ist,um ein Boot zu nehmen? „Ja!“Später an diesem Tag, als esdunkel geworden ist, kommendutzende von Geflüchteten amBahnhof von Boulogne-sur-Meran, 70 Kilometer südwestlich vonDunkerque gelegen. Viele von ihnensind Stunden zuvor im Jungleaufgebrochen. Mehrere Gruppenmachen sich in Richtung derDunes de la Slack auf, etwa zehnKilometer zu Fuß zurück entlangder Küstenstraße. In dem einsamen,unübersichtlichen Gebietfinden sich viele Möglichkeiten,mit einem Boot abzulegen.Jenseits der Dünen hält sich zuBeginn der Nacht eine Gruppevon etwa 25 Kurden abseits vonder Küstenstraße versteckt. Inder Nähe liegt Ambleteuse, einDorf mit einem steinigen Strand,in dessen Brandung ein Fort ausdem 17. Jahrhundert steht. Vondort soll die Gruppe später mit einemSchlauchboot in See stechen.Es geht auf Mitternacht zu. Hassan*,ein Iraner um die 20, stehttelefonisch in Verbindung miteinem Mann, den er den „Boss“nennt. Die Ansage: Um zwei Uhrwerden die Schmuggler das Bootbei einem Feldweg abliefern.Doch die Übergabe scheitert.Eine Polizeistreife taucht auf, dieBeamten greifen das Boot ab undschlitzen es auf. Der Transporterder Schmuggler bleibt auf demtiefen Gelände stecken, die Insassenkönnen sich zu Fuß absetzen.Am nächsten Tag steht das Fahrzeugnoch immer verlassen auf einemmatschigen Grasstreifen nebendem Weg. Ein paar hundertMeter weiter in einem Gebüschist der Boden übersät mit Verpackungenund Kleidungsstückenvon Menschen, die sich hiervor einer versuchten Überfahrtversteckt hielten. Selbst eine Windelliegt zwischen dem Abfall.„ In einem Gebüsch ist derBoden übersät mit Verpackungenund Kleidungsstücken. EineWindel liegt zwischen dem Abfall.Hier hatten sich Menschen vorder Überfahrt versteckt. “Eine Stunde später erzähltHassan die Geschehnisse an einerStraßenkreuzung in Ambleteuse,das längst in tiefem Schlafliegt. Gemeinsam mit sechs Passagieren,die ebenfalls aus denkurdischen Teilen des Iran undIrak stammen, versuchen sie einAuto zu finden, das sie um dieseZeit zurück nach Calais oder Dunkerquebringt, von wo aus sie inden Jungle bei Loon-Plage laufenkönnen. Hassan, der sich tiefin einen dicken Schal vergrabenhat, studierte in Iran, sein Englischist nahezu fließend, er istLesen Sie dazuauch den Text„NebenschauplätzederFlucht“ vonAngela Huemer(26.6.2014) auffurche.at.das Sprachrohr der Gruppe. Ererzählt, sein Vater sei von denSchergen der Islamischen Republikverhaftet worden, niemandwisse, wo er festgehalten werde.Sein Onkel habe dann beschlossen,ihn außer Landes zu schaffenund nach Europa zu bringen.Für Hassan war es der sechsteVersuch mit einem Boot – undder erste von diesem Küstenabschnittaus. Weil dieser relativnahe an dem Kap liegt, von demaus der Abstand nach Englandam kürzesten ist, dauert es hier,wenn alles gutgeht, zwei Stunden,bis man britische Gewässer erreicht.Wer dort in Probleme gerät,ruft die britische Küstenwache anund wird folglich in Dover abgesetzt.„Von Dunkerque aus sind esdagegen sechs oder sieben Stunden“,rechnet Hassan. Das Risikoist deutlich höher, doch immermehr Menschen sind bereit, eseinzugehen.Schiffbruch überlebtDazu tragen auch die Lebensumständeim Jungle bei. „Im letztenMonat gab es wegen des Wettersnur zwei Chancen auf eineÜberfahrt. Nun wird es wiederzehn Tage dauern, bis sie ein neuesBoot für uns besorgen können.Bis dahin warten wir einfach imJungle. Das Leben dort ist nichtgut. Nachts hören wir oft Schüssein der Nähe unseres Zeltes.“ Warumsie schießen? Hassan zuckt mitden Schultern. „Ob sie sich untereinanderbekämpfen oder in die Luftschießen, um uns einzuschüchtern,weiß ich nicht. Es macht füruns auch keinen Unterschied.“Mazar* ist ein weiterer Iranervon Anfang 20. Zu Hause arbeiteteer als Barbier und in einemRestaurant. Das Land verließ er,als seine Beteiligung an den Protestengegen die Regierung zu gefährlichwurde. Weil er schwimmenkonnte, überlebte er einenSchiffbruch vor der griechischenKüste, bei dem 20 Menschen umsLeben kamen. Durch den Schneein den belarussischen Wäldernschaffte er es nach Polen. Nunsteht Mazar an einer Straßenkreuzungin Ambleteuse am Ärmelkanal,die Schwimmwestenoch in der Hand, und telefoniertmit seiner Mutter im Iran: „Mirgeht es gut“, sagt er. „Ich habe einenPlatz zum Bleiben. Und nein,ich friere nicht.“Knapp zwei Wochen später ertrinkenein Mann und eine Fraubei dem Versuch, südlich vonBoulogne auf ein Schlauchbootzu steigen – gemeinsam mit 58anderen Personen. Die niederländischePolizei gab inzwischenbekannt, dass die gefundenenmenschlichen Überreste auf Texelzu zwei verschiedenen Männerngehören. Identifiziert werdenkonnten sie bislang nicht.*Name von der Redaktion geändert
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