DIE FURCHE · 51/524 Das Thema der Woche In aufgewühlter Zeit21. Dezember 2023FORTSETZUNG VON SEITE 3„ Eine Verlierergeschichte kann man nichtheroisieren, die kann man nur vergessen.Das Christentum hingegen ist ,das‘Märtyrernarrativ schlechthin geworden. “gerichtet hat: Er meinte, nach dem 7. Oktoberseien die beiden Seiten vollkommen inihr Leid versunken, auch in ihren Zorn. Esgebe aber Leute, die nicht so betroffen seien,und die könnten jetzt weiterdenken. Hararisagte: „Seid nicht intellektuell faul undauch nicht emotional faul, indem ihr immernur eine Seite dieser schrecklichen Realitätseht! Haltet einen Raum offen für einenzukünftigen Frieden, weil wir diesenRaum jetzt gerade nicht offenhalten können.“Aber die Medien setzen auf Polarisierung,weil sie Emotionen bringt. Und daszerstört die Demokratie.DIE FURCHE: Nicht nur in den Nahostkonfliktspielt auch die Religion hinein. WelcheRolle messen Sie ihr bei?Assmann: Religion ist hier nicht ausgeschlossen,aber eingeklammert: Sehr vieleIsraelis definieren sich ja nicht primärdurch ihre Religion. Es geht vielmehr darum,dass man die Feiertage einhält – angefangenvom Schabbat. Das ganze Land istja vom Feiertagszyklus bestimmt. Bei denUltraorthodoxen gibt es natürlich Steigerungen.Aber gefährlich ist es erst, wennsich Religion mit einem exklusiven Ethno-Nationalismus verbindet. Das gab es bisvor Kurzem gar nicht. Wir haben selbst Anfangder 1990er Jahre in Israel gelebt, dahat sich inzwischen etwas radikal verschoben.Damit ist die Religion zu einem neuenFaktor geworden. Wobei das nicht von untenkommt und auch nicht flächendeckendist – sondern das ist durch die Politik hineingetragen worden! Auf der anderen Seiteverkörpert die Hamas die Gewalt einesglobalen Fundamentalismus, eines Dschihadismus,der eine neue Form des antiisraelischenAntisemitismus entwickelthat. Mit dieser Kraft oder „Partei“ ist überhauptkeine Zukunft zu machen.DIE FURCHE: Kommen wir von der Zukunftnoch einmal zur Geschichte – und zur Frage,wie sie geschrieben wird. Sie haben2020 in einem FURCHE-Interview gemeint:„Denkmäler erzählen Sieger-Geschichte“ .Wenn wir nun zu Weihnachten aufs Christentumschauen, so hat dieses seinen Ursprungin der Geburt Jesu in einer Krippe –und seinen Kulminationspunkt im Tod amKreuz. Zugespitzt könnte man das Christentumfür eine Verlierergeschichte halten ...Assmann: Das ist aber nicht der Fall, weiles im Christentum auch um eine Märtyrerbzw.Opfergeschichte geht. Das spielt inDas Interview„Denkmälererzählen Sieger-Geschichte“(15.7.2020) vonDoris Helmbergermit AleidaAssmann findenSie auf furche.at.einen ganz anderen semantischen Raumhinein, die Heiligen sind ja alle Märtyrer!Es gibt auch politische Beispiele: Die Serbenetwa haben ihre Niederlage von 1389am Amselfeld, dem Kosovo, nicht als Verlierergeschichteerinnert, sondern alsOpfer geschichte heroisiert und ein religiösesNarrativ entwickelt. Eine Verlierergeschichtedagegen kann man nicht heroisieren,die kann man nur vergessen – wieNapoleons Niederlage bei Waterloo. DasChristentum hingegen ist das Märtyrernarrativschlechthin geworden. Wobei esdie Kirche war, die als Institution diesesNarrativ in der Geschichte stark gemachthat. Und das kann zu Problemen führen:Denn wer von einem Opfer ausgeht, stelltauch die Frage: Von wem geht die Bedrohungaus? Und dann kommt die Erzählung,dass die Juden Jesus ans Kreuz geschlagenhaben. Insofern tragen wir mitdieser Opfergeschichte auch einen gefährlichenemotionalen Ballast mit uns herum.DIE FURCHE: Im Nationalsozialismus führtedie Antwort auf die Frage „Von wem gehtdie Bedrohung aus?“ zur Schoa. Deutschlandstellte sich dieser Verantwortung vielgrundsätzlicher als Österreich. Doch derzeitkommt es überall zu einem Erstarkenvon Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.Wie ist das zu erklären?Assmann: Wir hatten in Deutschland imvergangenen August eine Episode um denstellvertretenden bayerischen MinisterpräsidentenHubert Aiwanger, bei der„ Die FriedensnobelpreisträgerinMaria Ressa sagte: Es sei die Aufgabeeines Diktators, dafür zu sorgen, dassjede Geschichte nur eine Seite habe.So funktioniert auch Polarisierung –ganz ohne Diktatur. “plötzlich ein antisemitisches Flugblatt ausden 1980er Jahren auftauchte. Es enthielteine ekelhafte Auschwitz-Pornografie. DiesesFlugblatt verschwand auch gleich wieder,aber Aiwanger hat sich in keiner Weisedistanziert. Im Gegenteil: Er ging im Wahlkampfunmittelbar zur Gegenoffensiveüber und sah sich als Opfer einer Schmutzkampagne– was ihm bei der Wahl vieleStimmen brachte. An dieser Episode zeigtsich die Stimmung imLand: Wir lassen unsvon dieser Elite nichtmehr sagen, was wiraufzuarbeiten haben.Wir wollen „normale“Deutsche sein, die sichnicht mit den altenDingen herumschlagenmüssen. Die deutscheErinnerungskulturhat sich also nichtflächendeckend ausgebreitetund ist auchnicht überall in dieTiefe gegangen.„ Die Sache mit dem,Gräben zuschütten‘hat noch nie funktioniert.Man kannnicht dort nivellieren,wo noch nichts aufgearbeitetwurde.Besser ist Bildungdurch Begegnung. “DIE FURCHE: Aber wenn das so ist und dieDemokratie in Gefahr ist, wie Sie zuvor betonthaben: Welche Form von Erinnerungskulturist dann überhaupt sinnvoll?Assmann: Ich sage nicht, dass die bisherigeErinnerungskultur umsonst war. Aberwir sehen jetzt einfach genauer, wie die Lageist. Es gibt eben viele Menschen, die wollen,dass über das Vergangene nicht mehrgesprochen wird. Und diese Menschenwird man nicht mehr einholen können, dabin ich pessimistisch. Aber diese Gruppenverkörpern nicht den gesamten Trend imLand – der geht insbesondere bei der jüngerenGeneration in die Gegenrichtung.Das muss man dagegenhalten. Und da sindwir wieder beim Problem der Einseitigkeit,die unsere Diskussionen verzerrt. Erst unlängstbin ich auf einen großartigen Satzder philippinischen Friedensnobelpreisträgerin2021, Maria Ressa, gestoßen. Siesagte, es sei die Aufgabe eines Diktators,„dafür zu sorgen, dass jede Geschichte immernur eine Seite hat“. So funktioniertauch Polarisierung – ganz ohne Diktator!Die Erinnerungskultur könnte dazu beitragen,dass wir unsere Perspektiven erweiternund das, was andere ausgrenzen,mit aufnehmen.DIE FURCHE: Kommenwir am Ende noch zueiner besonderen Polarisierung,nämlichjener durch die Pandemie.Auch hier geht esum Erinnerung. „Wirvergessen nicht!“, lautetdas Motto vielerImpfgegner im Bezugauf die Maßnahmen.Österreichs Regierunghat versucht, daraufmit der Devise „Gräbenzuschütten“ zu reagieren.War das klug?Assmann: Die Sache mit dem „Gräben zuschütten“hat noch nie funktioniert. Mankann nicht einfach dort nivellieren, woman noch nichts aufgearbeitet hat. Ich ziehehier die Möglichkeit der Kommunikationvor, insbesondere die Bildung durchBegegnung. Diese beiden Bs möchte ichdem dritten B, dem Bekenntnis, entgegensetzen.Das führt uns auch wieder zurückzum Nahostkonflikt: In Deutschlandgibt es ein Tandem, das nennt sich „Salamund Schalom“. Zwei junge Männer gehenan Schulen und erzählen, was es bedeutet,ein Jude oder Muslim zu sein – und ermöglichendadurch Begegnung und Bildung.Gerade junge Leute interessieren sichja erst für etwas, wenn sie einen persönlichenKontakt haben. Hier ist noch nichtalles verloren.ZU DEN BILDERNSchrift-Ikonen vonSehnsucht & TrostHeribert Friedl, eigentlich für seine„nonvisualobjects“ bekannt, malt inden letzten Jahren in einer „Druckwelle“von Inspiration Sprachverdichtungenvon ungeheurer Einfachheitund Schönheit. Ursprünglichaus existenzieller Trauer begonnen,werden die auf Englisch gehaltenenPoeme (die meist nur aus einemWort bestehen) zu sprachlichenIkonen. Die auf kleinen MDF-Plattengemalten Wörter weisen in ihremSchriftschnitt auf eine andere Zeit.Heribert Friedl: 100 PoemsAusstellung im KULTUMUSEUM,8020 Graz, Mariahilferplatz 3/1Sa 30.12., 11 Uhr: KünstlergesprächDi–Sa 11–17 Uhr. Bis 6.1. • kultum.atFotos: KULTUM / J. Rauchenberger
DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023Das Thema der Woche In aufgewühlter Zeit5Dass Weihnachten rund um die längste Nacht im Jahr gefeiert wird, weil die Christen die heidnische Feier der Wintersonnenwende inkulturierthätten, klingt als These überzeugend – ist aber wissenschaftlich nicht belegt. Wurzel bleibt die prophetische Überlieferung des Judentums.Das Fest der „neuen Sonne“Von Hans FörsterDas zentrale Fest derChristenheit, Ostern,geht eindeutig auf dasjüdische Passa-Festzurück, das mit demTag des ersten Vollmonds nachder Tagundnachtgleiche des Frühlingsbeginnt. Das christliche Festwird, auf dem jüdischen Kalenderaufbauend, am Sonntag nach dem„Frühlingsvollmond“ gefeiert.Weihnachten hingegen hat einenfixen Termin im JulianischenKalender und fällt auf den Tag desrömischen Winter-Solstitiums:In der längsten Nacht des Jahresgedenkt man der Geburt Christi.Die Sonnensymbolik ist seit denAnfängen des Festes im viertenJahrhundert von zentraler Bedeutung.Jesus wird in Anspielungauf den Propheten Maleachi alsdie „wahre Sonne der Gerechtigkeit“bezeichnet (Mal 3,20). Textedes Propheten Jesaja, in denenvom „Volk, das im Finstern wandeltund ein großes Licht sieht“,(Jes 9,1) die Rede ist, gehören zuden Festlesungen dieses Tages. Indirekter Anspielung auf die Wintersonnenwendewird auch vonder „neuen Sonne“ gesprochen.Kein vorchristliches FestDie Vermutung liegt nahe, dasseine ursächliche Verbindung zwischeneinem Sonnwendfest undWeihnachten besteht. Die Kirche,so scheint es, hat sich im viertenJahrhundert von einer verfolgtenMinderheit zur Religion des RömischenReiches entwickelt und dabeidie römische Welt inkulturiert.Das Sonnwendfest sei, so eine wissenschaftlicheMeinung, so tief imrömischen Volk verwurzelt gewesen,dass die Christenheit eine Alternativedazu bieten musste. Wiesehr die Sonnenwende die Völkerschon immer faszinierte, zeigtsich angeblich auch am Julfest,dem nordischen Sonnwendfest.Dieses sei seit Urzeiten im NordenEuropas gefeiert worden.Das klingt sehr überzeugend, istaber keinesfalls wissenschaftlichbelegt. Ein Blick in die Kirchenväterzeigt: In der Tat faszinierte dieSonnenwende in der Antike – allerdingsdie Sommersonnenwende.Dies ist durchaus verständlich,denn im Winter zog man vor, zuHause zu bleiben. Im Mittelmeerwurde die Schifffahrt mit demHerbst eingestellt und erst wiederim Frühjahr aufgenommen.Das Winterwetter machte Reisenzu gefährlich. Die Apostelgeschichteberichtet, dass dasSchiff, auf dem sich Paulus befand,in See stach, obwohl die „Schifffahrtbereits gefährlich wurde“(Apg 27,9). Schließlich sei der Hafenvon Lasaia auf Kreta, wo Paulussich befand, zum Überwinternungeeignet gewesen (Apg 27,12).Ein Schiffbruch ist die Folge. Dasist keine Zeit für Feste im Freien.In der Tat findet sich bei den Kirchenväternnur Kritik an den Sonnwendfeierndes Sommers. Es findensich nur wenige außerchristlicheBelege für ein Fest des „unbesiegtenSonnengottes“ am 25. Dezember.Ein vorchristliches Julfestleitet man aus der nordischen Bezeichnungfür Weihnachten ab.Erstaunlich ist, wie sehr sichheute auch Vertreter von Kirchenbemüßigt fühlen, einen Bezug zuvorchristlichen Festen herzustellen,um die Integrationsleistungder Kirche zu betonen. Aus historischerSicht ist das falsch, es wurdekein vorchristliches Fest umgestaltet.Aus ideengeschichtlicherSicht ist das befremdlich, das „Julfest“wurde schließlich im DrittenReich als „deutsche Alternative“zum Weihnachtsfest propagiert.Nazis propagierten „Julfest“Die Frontzeitung des NS-Lehrerbundesvon Nikolsburg veröffentlichteim Heft 6/1942 beispielsweiseeinen Brief des GauwaltersWinkler an die „Kameraden“ ander Front. Er übermittelt dort „imNamen der Erzieherinnen und ErzieherEures Heimatgaues Niederdonaudie herzlichsten Grüße zumJulfest“. Unter dem Brief ist das Gedicht„Deutsche Weihnacht“ vonHermann Claudius abgedruckt.Dort heißt es: „Wir wollen fest stehenauf unserm deutschen Land,um den Führer geschart, den unsdas Schicksal hat gesandt.“Die vorchristlichen Wurzelndes „deutschen Weihnachtsfestes“gehören eindeutig zu einer völkischenWissenschaftstradition desNationalsozialismus. Man wollteeine völkische Religion schaffen.Hierfür eignete sich besondersdie Betonung vermeintlicher vorchristlicherWurzeln des Festes,das man so aus der kirchlichenTradition herauszubrechen hoffte.Ein Blick in die Predigten derKirchenväter des vierten/fünftenJahrhunderts eröffnet ein Fensterin die Vergangenheit, bei demman zumindest erahnen kann,was die Menschen damals bewegte.Ähnlichkeit besteht dabei zuOstern und Passa: Die Christenheitund die jüdischen Geschwisterfeiern mit dem Auszug ausÄgypten ein historischen Ereignis– anfangs sogar am gleichenTag. Zu Weihnachten gedenkt mandes historischen Ereignisses, dassJesus in Bethlehem geboren wurde– und zwar in dieser Nacht. Daskatholische Osterlob, das Exsultet,geht auf altkirchliche Wurzeln zurückund ruft in Erinnerung, dass„dies die Nacht ist“. Ebendiese Betonungfindet sich in zahlreichenWeihnachtspredigten anlässlichder Geburt Jesu, mit der aus christlicherSicht ein neuer Abschnittder Heilsgeschichte beginnt.Das historische Ereignis der GeburtChristi wird nun in der Tatmit dem kosmologischen Geschehender Wintersonnenwende theologischverknüpft. Jesus als die„neue Sonne“ stellt eine Verbindungmit der Schöpfungsgeschichteher. Hier zeigt sich dann, wennman aufmerksam die Texte liest,dass die Theologen des viertenJahrhunderts in ihren Predigtenmit einem ganz anderen Problemals der „Inkulturation“ eines heidnischenFestes zu kämpfen hatten.Das Christentum war eine jungeReligion, aus einer jüdischenBewegung heraus war es entstanden.Was neu ist, war in der Antikesuspekt. Je länger die Überlieferungwar, umso mehr Ansehenhatte eine Religion. Mit der Deutungder Geburt Jesu als der „neuenSonne“ konnte man bis auf die Erschaffungder Welt zurückgreifen.„ Die Theologen des viertenJahr hunderts hatten in ihrenPredigten mit einem ganz anderenProblem als der ‚Inkulturation‘eines heidnischen Festeszu kämpfen. “Einer der zentralen Texte diesesFesttages stammt aus dem ProphetenJesaja (Jes 9,4–6): „Dennjeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,und jeder Mantel, durchBlut geschleift, wird verbranntund vom Feuer verzehrt. Dennuns ist ein Kind geboren, ein Sohnist uns gegeben, und die Herrschaftist auf seiner Schulter; under heißt Wunder-Rat, Gott-Held,Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ Dassim Weihnachtsgottesdienst auchaus der hebräischen Bibel gelesenwird, weist auf die jüdischenUrsprünge des Christentums hin.Der nächste Fokus:Angesichts der Ereignisse der vergangenenMonate mag es schwerfallen,an die Möglichkeit eineswirklichen und dauerhaften Friedensim Nahen Osten zu glauben.Und doch gehört die Hoffnung aufeinen umfassenden Frieden zumchristlichen Weihnachtsfest –theologisch ist diese Botschaftdas Gegenteil des oben zitiertenGrußes an die Front: Dort standdas Julfest in der Mitte. Vielleichtsollten der christliche Kern desFestes und seine Verwurzelungin der prophetischen Überlieferungdes Judentums gerade zurzeitwieder betont werden.Der Autor lehrt an der Uni Wienund leitet ein Forschungsprojektdes FWF an der Kirchl.-Pädag.Hochschule (KPH) Wien/Krems.Lesen Sieauch FriedrichHeers literarischeReflexionenzur Weihnachtvom 21.12.1978, nachzulesenunter „Die Stadt im Lichterglanz“auf furche.at.Der Sturm auf das Kapitol in Washington, D.C. jährt sich am 6. Jänner 2024zum dritten Mal. Welche Lehren lassen sich aus diesem, in der US-Geschichteeinzigartigen Vorgang ziehen, und wie lässt es sich erklären, dass imSuperwahljahr 2024 Donald Trump erneut die Hauptrolle spielen könnte?
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