DIE FURCHE · 51/5232 Wissen21. Dezember 2023Bücherfür alleDie Klärung desSchriftbilds, dieEntstehung derInterpunktion,die Entwicklungder Musiknotation,die Einführung arabischerZahlen: Alldas hat die SchriftundLesekultur inEuropa maßgeblichbeeinflusst.Von Jakob MoserEineinhalb Jahrtausende langherrschte in Europa ein blutigerKampf, der sich um die Lektüreder Bibel drehte. Der österreichischePhilosoph Leonhard Schmeiserzeichnet diesen Kampf in seinem neuenBuch „Europa. Das Reich des Lesens“schlaglichtartig nach. Lange Zeit konntennur die wenigsten lesen, sie stammten meistaus dem Klerus und hüteten ihr Privileg.Erst nach dem Aufkommen neuer Bildungseinrichtungenund der medialen Revolutiondes Buchdrucks geriet das Schriftmonopolder Kirche ins Wanken. Die Schrift und ihreDeutung wurden unkontrollierbar.In Siebenmeilenstiefeln verfolgt Schmeiserdiese Kulturgeschichte des Lesens vonden Klosterreformen der Karolinger bis zurVerankerung des Rechts auf Bildung in derErklärung der Menschen- und Bürgerrechteim Zuge der Französischen Revolution.Damit beteilige er sich an der Rekonstruktionder Vorgeschichte des „europäischenHeldenepos vom modernen Menschen“,wie Schmeiser augenzwinkernd schreibt.Aber wer sind seine Helden?Die europäische Kultur basiert auf der Entwicklung der Schriftund des Lesens. Zu verdanken ist das einigen Vordenkern,die den Grundstein dafür legten. Der Philosoph LeonhardSchmeiser widmet ihnen ein Buch.„Reiche ohneHerrscher“Kontrollverlust der SchriftEiner davon ist der frühmittelalterlicheGelehrte und Berater von Karl dem Großen,Alkuin. Am Hofe des fränkischen Königsverschrieb sich Alkuin der Erhaltunglateinischer Schriftkultur. Der TheologeAbaelard hingegen galt als Vorreiter derscholastischen Methode, Argumente überAutoritäten zu stellten. Der KirchenfürstAbt Suger ließ die Abteikirche von Saint-Denis,eines der ersten gotischen Bauwerke,als multimedialen Lektüreraum umgestalten.Oder der Franziskaner RogerBacon, ein Prophet empirischer Wissenschaft,propagierte die Vereinbarkeit vonbiblischer Autorität, sinnlicher Erfahrungund Magie. Vor dem Hintergrund dieserund weiterer Figuren erläutert Schmeiserdie Klärung des Schriftbilds, die Entstehungder Interpunktion, die Entwicklungder Musiknotation und die Einführungarabischer Zahlen.Das letzte Drittel des Buchs widmet sichreligiösen Revolutionären wie John Wyclif,Jan Hus, Martin Luther oder ThomasMünzer, welche die Bibel in Volkssprachenverbreiteten und das Lektüremonopol derrömischen Kirche erschütterten, ein Unterfangen,das der Buchdruck beschleunigte.Schlusslicht bildet der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, der mit seiner Theoriedes Gesellschaftsvertrags die Legitimitätvon Herrschaft hinterfragte und eineModerne einläutete, deren utopischer Kernals hierarchiefreier Leseraum „Reicheohne Herrscher“ gebiert.„ Die Kenntnis der Schriften unterLaien war verdächtig, galt im Mittelaltergar als Kennzeichen der Katharer undanderer Ketzer. “Foto: iStock/pavel068„Heldenepos“ ist ironisch, insofernSchmeiser die Geschichte eines Kontrollverlusterzählt: Mit der fortschreitendenVerschriftlichung und Beherrschung dereurozentrischen Welt wird ihr Ausgangspunkt,die Bibellektüre, immer unbeherrschbarer.Das ist nicht bloß Ausdruckunterschiedlicher Machtinteressen, dieauf einem Buchrücken ausgetragen wurden,sondern in der Struktur der HeiligenSchriften angelegt, die aus heterogenenSchichten besteht. Die Komplexität wirddadurch gesteigert, dass sich das Neue Testament,das selbst multiperspektivisch ist,teils als Relektüre des Alten Testamentsversteht. Hinzu kommen sprachliche undkulturelle Übersetzungsprobleme und dasunaufhaltsame Wuchern der Kommentare.Es wundert nicht, dass schon Abaelardin der Bibel und den Kirchenvätern 158 Widersprüchefeststellen konnte.Die Kirche wusste von Anbeginn, dassdie größte Gefahr im Herzen ihrer Machtschlummerte, im Inneren der Lektüre, aufdie sie sich berief. Von Anfang an betrachtetesie die Bibel sowohl als Quelle des Heilswie als Magneten für dissidente Leser, diesie dämonisierte und verfolgte. Die Kenntnisder Schriften unter Laien war verdächtig,galt im Mittelalter gar als Kennzeichender Katharer und anderer Ketzer.Neben inneren Widersprüchen provoziertedie Lektüre äußere Einsprüche. Siegeriet zunehmend in Konflikt mit der Erfahrunginstitutioneller Willkür. Nicht zuletztlöste sich die Wissenschaft aus dertheologischen Umklammerung und führtezu einem Bruch zwischen dem Buch derBücher und dem Buch der Welt.Das subversive Potenzial der Schrift beruht,so die wichtigste These des Buchs, aufder Konkurrenz zweier Arten der Lektüre:Die leichtere Navigation zwischen biblischenTexten und Kommentaren ermöglichteeine sprunghafte visuelle „hypertextuelle“Lektüre, die Kritik förderte. Diese konkurriertemit einer rein auditiven linearen Lektüre,die Kontemplation und Gehorsam forderte.Während Klöster und Kirchen Ortewaren, in denen die Schrift verkörpert undgesungen wurde, blühte die „hypertextuelle“Lektüre an den neu geschaffenen Universitäten.Die Spannung zwischen diesenbeiden Kulturen des Lesens ist laut Schmeiserein Ursprung des philosophischen Universalienstreitsund der Polarisierung vonGlauben und Wissen.Die Entstehung des HypertextesTreibende Kraft ist zweifellos die hypertextuelleLektüre, was im Zeitalter der Digitalisierungoffensichtlicher wird denn je.Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb gebärdetsich der Autor nicht als uneingeschränkter(postmoderner) Verteidiger des Hypertextes.Lieber kokettiert er mit MünzersKritik humanistischer Gelehrsamkeit odersympathisiert mit Rousseau, den er als „auditivenLeser aus eigenem Recht“ charakterisiert,der am Hypertext verzweifelt.Nach dem Vorbild von Rousseau verbannter alle Anmerkungen in Endnoten,ohne sich jedoch dort wie jener in weitläufigenExkursen und Hinweisen zu ergehen.Die Anmerkungen beschränken sichfast ausschließlich auf die nötigsten Quellenangabenund müssen hypertextuelleLeserinnen enttäuschen.Schmeiser selbst widmet sein Buch dem„gemeynen man“, womit er auf ein Zitat desradikalen Reformers Münzer anspielt, derim Unterschied zu Luther nicht allein dieLektüre der Kirchenväter, sondern gar dieder Bibel für überflüssig erklärt. Schrift istfür ihn nicht der einzige Weg zum Gotteswortund Lesen bloß ein notwendiges Übel,das man auf sich nehmen muss, um nichtvon anderen Lesenden in die Irre geführtzu werden: „Derhalben müstu, gemeynerman, selber gelert werden, auff das du nichtlenger verfüret werdest.“ Das Zitat erklärtzugleich, warum das besprochene Buchkeine populärwissenschaftliche Darstellungist: Leserinnen und Lesern wird nichtbloß vorgekautes Wissen serviert, sie werdenzur Gelehrsamkeit angespornt. NachvollziehbareKritik am akademischen Publikationssystemführte den Autor, wie erim Vorwort erklärt, dazu, seine Studie imSelbstverlag herauszugeben.Hoffentlich erweist sich das nicht alsFehler, damit das Buch, das an Materialfülleund Gedankenreichtum seinesgleichensucht, nicht zu Unrecht zum Reichohne Leser wird.Der Autor ist Philosoph und Stipendiatder Österreichischen Akademie derWissenschaften.EuropaDas Reich desLesensVon LeonhardSchmeiserepubli 2023244 S., kart.,€ 22,50
DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023Chancen33Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) stellt „ihre“ Forscherinnen in einer Sonderausstellung in den Mittelpunkt.Sie waren Pionierinnen in ihren Fächern, Nobelpreise blieben ihnen aber verwehrt. Was wir von ihren Lebensgeschichten lernen können.Schau, schau, eine Frau!Von Manuela TomicKennen Sie MariettaBlau, Lisbeth Schäferoder Maria Junker?Diese drei österreichischenForscherinnenhaben für die WissenschaftGroßes geleistet, sind danachaber, wie so oft bei Frauen, in Vergessenheitgeraten. Dem will dieÖsterreichische Akademie derWissenschaften (ÖAW) nun entgegenwirken.Sie widmet den Pionierinnendie Sonderausstellung „Forscherinnenentdecken: Frauen an derAkademie der Wissenschaften“,die bis 31. Jänner besucht werdenkann. Anlass der Ausstellung istdas 50-Jahr-Jubiläum der Wahlder Physikerin Berta Karlik zumersten weiblichen wirklichen Mitgliedder Akademie. Die Ausstellungwurde von den HistorikerinnenBrigitte Mazohl und SandraKlos gestaltet. Aber warum dauertees so lange, bis Frauen denWeg in die Forschung fanden?„In den habsburgischen Ländernkonnten Frauen ‚informell‘schon in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts Vorlesungen beiwohnen.Aber ‚offiziell‘ erfolgtedie Zulassung von Frauen zumUniversitätsstudium erst 1897,zu Beginn überhaupt erst für diephilosophische Fakultät. Die anderenFakultäten folgten später.Von nun an konnten sie auchAbschlüsse machen und die entsprechendenBerufe ergreifen“,erklärt Mazohl, Professorin fürGeschichte an der UniversitätInnsbruck.Foto: Hans PettersonsViele NominierungenDie Kernphysikerin Lise Meitneretwa war im Jahr 1948 die ersteFrau, die zum korrespondierendenMitglied der ÖAW im Auslandgewählt wurde. 1938 floh sieaus dem nationalsozialistischenDeutschland nach Stockholm, wosie bis 1946 am Nobel-Institut fürPhysik und danach an der KöniglichenTechnischen Hochschulearbeitete.Im schwedischen Exil veröffentlichtesie im Februar 1939 zusammenmit ihrem Neffen OttoFrisch die erste physikalisch-theoretischeErklärung der Kernspaltung,die Otto Hahn und dessenAssistent Fritz Straßmann am17. Dezember 1938 ausgelöst undmit radiochemischen Methodennachgewiesen hatten. Lise Meitnerwurde jahrzehntelang immerwieder für den Chemie-Nobelpreisund den Physik-Nobelpreisnominiert. Sie erhielt zwar keinenNobelpreis, aber zahlreicheandere Ehrungen.„Erst 25 Jahre nach ihr wurdeebenfalls eine Physikerin – BertaKarlik – im Jahr 1973 als wirklichesMitglied aufgenommen“, erklärtMazohl, „nur die wirklichenMitglieder haben in der AkademieSitz und Stimme und somitein Mitspracherecht. Daher wurdedie Ausstellung in diesem Jahrauch aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläumsder Wahl von Berta Karlikveranstaltet.“ Erst ab Mitte der1960er Jahre kamen in der Akademielangsam weitere Frauen hinzu.Noch immer würden die Forschungsleistungenvon Frauen inGeschichte und Gegenwart zu weniggewürdigt, sagte ChristianeWendehorst, Präsidentin der philosophisch-historischenKlasseder ÖAW. Ziel der Ausstellung seies, „Frauen in der Wissenschaftsichtbar zu machen“.Eine davon ist Marietta Blau.Sie war die Tochter des Juristenund Musikverlegers Mayer Blauund seiner Frau Florentine, geboreneGoldzweig. Nach ihrer Maturaam Mädchengymnasiumdes Vereins für Erweiterte Frauenbildung(Rahlgasse) im Jahr1914 studierte Marietta Blau bis1918 als eine der ersten Frauenin Österreich an der UniversitätWien Physik und Mathematik. Sieforschte zu Radioaktivität an derUniversität Wien und am Institutfür Radiumforschung der Akademieder Wissenschaften. IhrePromotion erfolgte 1919 über dasThema „Über die Absorption divergenterγ-Strahlung“. Fünf Malwurde sie für den Nobelpreis vorgeschlagen.Erfolglos.Als Jüdin war Marietta Blau1938 gezwungen zu emigrieren,was einen schweren Einbruchihrer wissenschaftlichenKarriere bedeutete. Sie wandtesich zunächst nach Oslo, wo sieam Chemischen Institut im Laborvon Ellen Gleditsch arbeitete,ging dann nach Ausbruch desZweiten Weltkrieges aber überVermittlung von Albert Einsteinan die Technische Hochschule inMexiko-Stadt. Da die Bedingungenin Mexiko die Forschung sehrerschwerten, nahm sie 1944 dieGelegenheit wahr, in die USA zuübersiedeln.Etwa zehn Jahre lang hatte sienur wenig Möglichkeiten zu längererernsthafter wissenschaftlicherArbeit, während ihre in Wienzurückgelassenen halbfertigenArbeiten durch ihre dortigen Kollegen,unter denen es auch nationalsozialistischGesinnte gab,weitergeführt und zum Teil publiziertwurden, ohne ihren Namendabei zu erwähnen. 1970 starbMarietta Blau völlig verarmt inWien an Krebs. Ihre Erkrankungwird mit jahrelangem ungeschütztemArbeiten mit radioaktivenSubstanzen sowie mit Zigarettenrauchenin Zusammenhanggebracht. In keiner wissenschaftlichenZeitschrift erschienein Nachruf.Keine Männergesellschaft„Die Akademie ist längst keineMännergesellschaft mehr – unddas ist gut so. Wissenschaft lebtvon Diversität“, erklärt ChristianeWendehorst heute. Zur Zeitder Zoologin Leonore Brecherwar dies noch nicht so. Im Oktober1923 versuchte Brecher sichals erste Naturwissenschafterinin Österreich zu habilitieren. Zudiesem Zeitpunkt konnte sie bereitsauf mehr als zwanzig wissenschaftlicheVeröffentlichungenverweisen. Ihr Gesuch um Erteilungder venia legendi für Zoologiewurde von der philosophischenFakultät der Universität Wienzunächst verschleppt und 1926schließlich abgelehnt. 1923 warin die Habilitationsordnung derUniversität Wien die Bestimmungaufgenommen worden, dass dieHabilitationskommission und dieFakultät nicht nur über die wissenschaftliche,sondern auch überdie persönliche Eignung der Bewerberabstimmen mussten.„ Die Akademie ist längstkeine Männergesellschaft mehr –und das ist gut so. Wissenschaftlebt von Diversität. “Christiane Wendehorst, ÖAWLesen Sie dazuauch den Text„Gendermedizin:Der große Unterschied“vonManuela Tomicvom 3. März2021 auffurche.at.Oft imHintergrundObwohl viele Forscherinnen,wie diePhysikerin MariettaBlau, Wichtigesleisteten, sind siebald nach ihremTod in Vergessenheitgeraten.Vor dem Hintergrund des bereitsin den 1920er Jahren an derWiener Universität herrschendenmassiven völkischen Antisemitismusdiente diese Bestimmungexplizit dazu, unerwünschte jüdischeBewerber auszuschließen.Auch Brecher, die als Frau, Jüdinund Osteuropäerin gleich dreifachenVorurteilen ausgesetztwar, wurde wegen fehlender persönlicherEignung abgelehnt, dasie „nicht geeignet sei, den Studentengegenüber die für einenDozenten erforderliche Autoritätaufrecht zu erhalten“. Nachdem Machtantritt der Nazis warBrecher aufgrund ihrer „nichtarischen“Abstammung von einerweiteren Förderung durch dieNotgemeinschaft der deutschenWissenschaft ausgeschlossen.Lise Meitner, Marietta Blauoder auch Leonore Brecher: Sie allestehen für weiblichen Mut, sichin der Männerdomäne Universitätnicht unterkriegen zu lassen.Und ihre Forschung und ihr Blickhaben zweifelsohne zu mehr Diversitätbeigetragen. Deshalb gibtes in der neuen Schau auch einenFokus auf die aktuelle Forschungvon Frauen an der Akademie.Vier Säulen sind den Forschungenvon Frauen heute gewidmet.Zahlreiche dieser Forschungenbringen genderrelevante Aspekteund Themen ein – eine innovativePerspektive, die ohne das forschendeFragen von Frauen kaumEinlass in die Wissenschaftengefunden hätte.Der weibliche BlickMit einer Art Erweiterung einesbestehenden Kunstwerks wurdezudem ein deutliches Zeichenfür „das lange Fehlen von Frauenin der Akademie“ gesetzt: Diebildende Künstlerin Tatiana Lecomteumrahmte ein nur Männerzeigendes Gemälde einer Akademiesitzungvon Olga Prager ausdem Jahr 1912 mit den Namenaller seit der Gründung der Akademiegewählten weiblichenMitglieder.Das Kunstwerk „Gegenüber“,im Clubraum der Akademie zufinden, wird laut ÖAW laufend umdie Namen neu gewählter Frauenund nichtbinärer Personen erweitert.Forscherinnen entdeckenÖAW, Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, WienBis 31. Jänner 2024www.oeaw.ac.at
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