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DIE FURCHE 21.12.2023

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DIE FURCHE · 51/5228

DIE FURCHE · 51/5228 Kultur21. Dezember 2023Von Julia DanielczykSie hat beinahe das gesamte historischund politisch bewegte 20.Jahrhundert miterlebt und auchmitgeprägt, stand für die Verbindungzwischen Tradition und Moderne,vor allem aber setzte sie sich unerschrockenfür alles ein, was man unterdem „humanen Aspekt“ betrachten kann.Lotte Tobisch, eigentlich Lotte Tobischvon Labotýn, bekannt als elegant-schöneOpernball-Lady, wusste verschiedene politischeund ideologische Seiten und Milieuszu integrieren. Doch viel zu kurz istdiese Zuschreibung gefasst, wie sie selbstbetonte und der Publizist Harald Klauhs inseiner bei Residenz erschienenen Biografie„Dame wider Willen. Die sieben Lebender Lotte Tobisch“ schreibt. Lotte Tobischwar vor allem deswegen eine ungewöhnlicheFrau, weil sie mutig dachte und agierte,weil sie sich gegen jede Form von Opportunismuswandte, stets mit einem offenenHerzen und wachem, messerscharfem Verstanddie gesellschaftlichen und politischenVerhältnisse beobachtete und entsprechend(re)agierte.Echtes InteresseFEDERSPIELAm 22.4.1965schrieb LotteTobisch überLudwig vonFicker: „‚DerBrenner‘: Passund Feuer“,furche.at.Schwarze WeihnachtenDie Gruppe der Weihnachten-Feierndengliedert sich in vier Untergruppen:1. Die Kinder, die noch an das Christkindglauben und deren Freude wohl das Schönstean Weihnachten ist. 2. Die, die nicht mehr daranglauben und sich trotzdem über Geschenkefreuen. 3. Die Erwachsenen, die es allen rechtmachen wollen (den Kindern, Eltern und Großeltern)und schon seit Tagen und Wochen herumflitzen,um noch alles hinzukriegen. Und4. jene, die Weihnachten ignorieren, weil espurer Stress ist.Aber es gibt auch eine fünfte Gruppe: die, diekein Weihnachten haben und nichts davon haben.Früher galt ihnen in der Wohlstandsgesellschaftnoch etwas Aufmerksamkeit. Und auchwenn es vielleicht auch immer ein wenig naivund verlogen und herablassend war, von denenzu sprechen, die wenig oder nichts haben, undihnen zu spenden, so war doch das soziale Bewusstseinin meiner Kindheit, das sich immerhinmit der Existenz der Armut beschäftigt hat,größer als heute. Heute ist von den Armen nichtMit Klugheit und Witz hat sich Lotte Tobisch in ÖsterreichsKulturgeschichte eingeschrieben. Harald Klauhs’ Biografie„Dame wider Willen“ erzählt davon.Hinter demSchillerndie Rede. Das heißt: Es istschon von ihnen die Rede,wenn sie in Wahlkampfredenerwähnt werden,zum Beispiel als Flüchtlinge,die abgeschoben, aufgehalten und überhauptweniger werden müssen und die mannicht retten soll, wenn sie im Meer ertrinken.Das mangelnde und stets sinkende Bewusstseindafür, dass unser Wohlstand auf der Ausbeutunganderer Menschen und der Umweltbasiert, geht mit dem Dauergequatsche überUmweltschutz und soziale Gerechtigkeit einher,die beide in den letzten vierzig Jahren plakatiertwurden, aber keinerlei konsequentesund effizientes Handeln nach sich gezogen haben.Die westliche Welt ist nicht bereit, etwaszu geben – und daher bekommt sie auch nichts.Es sind schwarze Weihnachten, und der Unfriede,der uns umgibt, ist das Ergebnis unsereseigenen Egoismus.Der Autor ist Schriftsteller.Von Daniel WisserCourageund HaltungLotte Tobisch (links)am 16. Februar1996 mit „ DameEdna-Megastar“beim Opernballin der WienerStaatsoper.Niemals war Vorteilnahme auch nur inirgendeiner Hinsicht ein Faktor in ihrenFreundschaften und Beziehungen, sondernstets stand echtes Interesse am Gegenüberund an der Sache im Vordergrund.Dass sie ihren Mut, ihre Furchtlosigkeitund eine klare Haltung auch günstig alsPolitikerin einsetzen hätte können, zähltezu den Versäumnissen ihres Lebens, diesie am Ende bisweilen bedauernd nannte,vielleicht auch deshalb, weil sie die Wirkkraftihrer Äußerungen und ihres Tuns erkannte.Als Achim Benning, viele Jahre TobischsKollege am Burgtheater und späterauch „ihr“ Direktor, auf ihre Einladung hindie Laudatio anlässlich ihres 90. Geburtstageshielt, betonte er: „Sie hat unprätentiösund ohne jedes opportunistische Kalkül,ohne jeden Anflug von selbstverliebterWichtigtuerei und ohne die grassierendeSelfie-Kultur auch nur den geringsten Tributzu zollen, mit leuchtender Klarheit undrhetorischer Brillanz ihre Lebensgedankender Öffentlichkeit angeboten, berührendeund erhellende Einblicke in das weiteLand ihrer neun Jahrzehnte und in dieTiefe ihres Lebens gewährt und ihre berühmtenLebens- und Nebenmenschen aufdie Bühne der Erinnerungen gerufen.“Benning spielt auf die Publikationender Vorjahre an, auf den 2013 bei Brandstättererschienenen Band „Langweiligwar mir nie. Warum es sich lohnt, neugierigzu bleiben“ sowie auf das 2016 beiAmalthea herausgegebene Buch „Alter istnichts für Phantasielose“. Drei Jahre späterverstarb Tobisch im Alter von 93 Jahren,ihren schriftlichen Nachlass hatte sie bereitsviele Jahre zuvor der Wienbibliothekvermacht, die nach der Übernahme des Bestandesdie Ausstellung „Wiener Salondame?Ein Albtraum!“ zeigte, zu der auchein Katalog erschien.„ Dass sie ihren Mut, ihreFurchtlosigkeit und eine klareHaltung auch günstig alsPolitikerin einsetzen hättekönnen, zählte zu den Versäumnissenihres Lebens. “Doch wenn sie nicht als Opernball-Ladyund auch nicht als Salondame wahrgenommenwerden wollte, was machte Tobischin ihrem Selbstverständnis aus? HaraldKlauhs versucht die Fäden ihres Lebenszu verweben und geht dem öffentlichen Interessean ihrer Person nach, deren Überzeugungenin ihren Handlungen erkennbarwaren.Dabei schildert er in seiner Biografie dieStationen eines zutiefst einsamen Kindes.Foto: APA / Herbert PfarrhoferIhre Mutter, Nora Krassl von Traissenegg(ihrem Vater Johann Anton Krassl wurde1913 vom Kaiserhaus das Prädikat „vonTraissenegg“ verliehen), führte eine kurzeEhe mit dem böhmischen Beamten undArchitekten Karl Tobisch-Labotýn, zeit ihresLebens war die Beziehung zu beidenElternteilen voller Spannungen. Trotz ihrerschnellen Auffassungsgabe flog Lotteaus einigen Schulen, ihr „renitentes“ Verhaltenerschien als unzumutbar. Als jungeErwachsene fand sie am Theater einenOrt, an dem sie sich zu Hause fühlte undihre Talente entfalten konnte. Bereits als19-Jährige wurde Lotte Tobisch ans Burgtheaterengagiert. Dort begegnete sie demChefdramaturgen Erhard Buschbeck, mitdem sie bis zu seinem Tod 1960 eine innigeLiebe verband. Klauhs erzählt – erfreulicherweiseganz ohne den Blick unter dieBettdecke – von dieser unkonventionellenBeziehung. Erst viele Jahre nach BuschbecksTod sollte sie sich ein weiteres Malverlieben, in den israelischen BotschafterMichael Simon. Auch diese Liebe währtenur einige Jahre, Simon starb 1976.Seine Demenzerkrankung gab den Anstoßfür Lotte Tobischs Engagement in derÖsterreichischen Alzheimer Gesellschaft,deren Ehrenpräsidentin sie war, ebenso warsie mit unermüdlichem Einsatz für das Hilde-Wagener-Künstlerheim in Baden tätig.Mit genauem Blick erzählt Klauhs vonihren Freundschaften mit Menschen, dieihr vertrauten und die zu ihr hielten, wobeiniemals der soziale Status der jeweiligenPerson relevant war, sondern Haltung,Loyalität und echte Auseinandersetzung.Bekannt ist die „Hundefreundschaft“ mitBruno Kreisky: Der langjährige Bundeskanzlerhat den Albino-Boxer-Welpen namens Bianca– Nachkomme von Tobischs Hund Dagobert– übernommen, und so waren sie in dergemeinsamen Betreuung der kleinen Hundefamiliemiteinander verbunden.Freundschaft mit AdornoWichtig waren ihr die Gespräche mit demReligionshistoriker Gershom Scholem, nahestand ihr Burgtheater-Kollegin AnnemarieDüringer, auch Elias Canetti, derzunächst – wie Klauhs treffend schreibt –„als bulgarischer Schriftsteller“ keine Beachtungim Kunst- und Kulturbetriebfand und plötzlich nach Erhalt des Literaturnobelpreisesals bedeutender Österreichereinverleibt wurde. Bekannt istauch ihre Freundschaft mit Theodor W.Adorno, der veröffentlichte Briefwechselerzählt vom Austausch zur österreichischenKulturpolitik in den 1960er Jahrenund zeigt Tobisch als unbestechliche Beobachterinihrer Zeit.Harald Klauhs thematisiert die Gerüchterund um die Männerfreundschaften dieserinteressanten Frau, die die hartnäckigeZuschreibung der „Muse erfolgreicherIntellektueller“ strikt ablehnte und als Abwertungtiefer Beziehungen empfand. Erlässt erfreulicherweise auch Lücken in derBiografie zu bzw. widersteht dem Versuch,diese mit Spekulationen zu füllen. Klauhsfächert vielmehr die facettenreiche Persönlichkeitdieser beeindruckenden Frauauf, „die hierzulande unversehens wie eineSensation empfunden wird“ (Benning)und die auch politisch eine klare Haltungvertrat, etwa bei den Demonstrationen gegenden antisemitischen UniversitätsprofessorTaras Borodajkewycz.Damit erzählt Klauhs nicht nur von denschillernden Seiten einer faszinierendenFrau und Künstlerin, sondern bringt esauf den Punkt: Courage, Witz und Haltungzeichnen die einzigartige Position LotteTobischs in der österreichischen Kulturgeschichteaus.Dame wider WillenDie sieben Leben derLotte TobischVon Harald KlauhsResidenz 2023256 S., geb., € 28,–

DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023Film29Alice Rohrwacher erzählt in „La chimera“ vom sehnsuchtszerfressenen Arthur, der durcheine besondere Gabe antike Artefakte in Mittelitalien aufspüren kann. Ein Märchen von einem Film.Mitten unter GrabräubernVon Otto FriedrichMit ihrem vorletztenZauberkunststück,„Glücklichwie Lazzaro“, konnteAlice Rohrwacherdie Viennale eröffnen.Fünf Jahre später reüssierte siemit dem Nachfolger „La chimera“gleichfalls auf dem Wiener Filmfest:Und es war einmal mehr einSeherlebnis, der auf 35 mm, 16mm und Super 16 analog gedrehteFilmerzählung im Wiener Gartenbaukinobeizuwohnen. Nunkommt die cineastische Schimäreauch weihnachtlich regulär indie Lichtspieltheater des Landes.Auch in „La chimera“ frönt Rohrwachereinem Mix aus mythischenund modernen Elementen, die siezu einer Geschichte mit Bezügenzusammenwebt. Namentlich hatsie diesmal den Orpheus-Mythosim Gepäck, also jene Geschichte,in der der antike Held seine verflossenenGeliebte durch sein Singenaus der Unterwelt – leider nurbeinahe – zurückholte. Die Schimäre,das Trugbild der Eurydike,geistert bekanntlich seither durchdie Kulturgeschichte.Unterwelt in den 1980er JahrenIn „La chimera“ heißt der unglücklicheHeld Arthur (JoshO’Connor), der ins mittelitalienischeEtrurien der 1980er Jahrenach einem Gefängnisaufenthaltzurückkehrt. Arthur hat den Verlustseiner großen Liebe Beniamina(Yile Vianello) nicht überwunden,ihr gibt er weiter nach undsucht die Verlorene immer noch.Dabei ist Arthur eine besondereGabe zu eigen: Er kann mittelseiner Wünschelrute archäologischeArtefakte, die in der etruskischenErde zuhauf versteckt sind,aufspüren. Das macht sich eineBande von Tagedieben und Grabplünderern– Tombaroli – zunutze,denen Arthur hilft, ihr illegalesAuskommen zu finden. DasEindringen in die antiken Totenortegehört zur Suche nach demEntschwundenen, der sich Arthurverschrieben hat. In der Schattenweltder Gräber verliert sich derUnglückliche in die Sehnsucht,die ihn immer noch umtreibt.Bei Alice Rohrwachers „Glücklichwie Lazzaro“ ist es ums Eindringender modernen Welt indie archaische, unberührte Existenzeiner Gruppe von Menschenim Mezzogiorno gegangen. In „Lachimera“ nimmt die Regisseurindie ungleiche Verteilung derSchätze der Welt aufs Korn, indemsie dies an den „legalen“ Grundbesitzernbzw. dem Staat und dengesetzlosen Underdogs exemplifiziert,die bei Nacht und Nebel dieantiken Preziosen aus dem Untergrundhervorholen und auf denAntiquitätenmärkten der Umgebungoder bei Kunsthändlerinnen„ Auch in ‚La chimera‘ frönt Rohrwacher einem Mixaus mythischen und modernen Elementen, die siezu einer Geschichte mit Bezügen zusammenwebt.Diesmal hat sie den Orpheus-Mythos im Gepäck. “wie der mondänen Spartaco (AlbaRohrwacher) verscherbeln. AntiheldArthur ist dabei der Grenzgängerzwischen Diesseits undJenseits, dessen überirdische Talentedies alles erst ermöglichen.Rettung vom Weltschmerz?Doch nicht nur die EurydikehafteBeniamina treibt OrpheusArthur um. Im nahen heruntergekommenenSchloss vonGräfin Flora, der Mutter von Beniamina,trifft er die lebensfroheItalia (Carol Duarte). Die Assistentinder von Isabelle Rossellinigrandios verkörperten Gräfin hatselbst zwei Kinder, die sie der Herrinverheimlicht. Ob Italia denvon Weltschmerz und Todessehnsuchtübermannten Arthur rettenkann? Damit setzt sich „La chimera“schließlich auseinander.Einmal mehr arbeitet RegisseurinRohrwacher mit einem Retrolookund mit exzessiven Landschaftseinstellungen,die dasMythische der Filmerzählung authentischmachen. Einmal mehrgelingt hier die Verbindung zwischenTraum(a) und Realität in einemarchetypischen Setting. Einmalmehr kommt die Poesie nichtzu kurz. Im Gegenteil.La chimeraI/F/CH 2023. Regie: Alice RohrwacherMit Josh O’Connor, Isabella Rossellini,Carol Duarte, Yile VianelloStadtkino. 130 Min. Ab 22.12.DOKUMENTARFILMJ. S. Bachin der SeeleAuf allen Kontinenten dieserErde werden Johann SebastianBach und seine Musik gefeiert– viele Musiker verehren denKomponisten geradezu frenetisch,wie der Film „Living Bach“ von AnnaSchmidt zeigt. Darin folgt die Regisseurinetlichen Musikern aus derganzen Welt, deren Ziel es ist, zumLeipziger Bachfest anzureisen – wosie einander kennenlernen können.Doch bis dahin ist es ein langerWeg: Die Regisseurin begleitet ihreProtagonisten im musikdominiertenAlltag, reist nach Mexiko, Malaysia,Japan oder bis in entlegene WinkelAustraliens. Sie spürt der Faszinationfür Bachs Musik nach, verbindetdabei ganz emotional Sinnsuche imLeben und Begeisterung für Musikmiteinander, als wäre es genau das:Musik als sinnstiftender Lebensinhalt,Klänge und Töne, die die Herzenberühren, die Glück versprühen!Genau so baut Schmidt auch ihreneinfühlsamen Film auf: Sie nähertsich mit großem Respekt fürihre Protagonisten über deren Alltagdem Kern der Musik Bachs underzeugt für Bach-Fans und Laien,aber auch für Musikprofis einenSog, der Bachs Klänge einmal von einerganz eigenen Seite bildlich untermalt.Schmidt kommt drauf, wasdie Musik mit den Menschen, diesie spielen und die sie lieben, eigentlichmacht: Sie greift direkt auf ihreSeelen zu. (Matthias Greuling)Living BachD 2023, Regie: Anna SchmidtFilmladen. 114 Min.Regisseurin Anna Schmidt begleitet ihreProtagonisten im musikdominierten Alltag.DOKUMENTARFILMSchwimmender ZufluchtsortDer Dokumentarfilm „Auf der Adamant“ wurde bei der Berlinale 2023mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet.Die Überraschung war groß, als derDokumentarfilm „Auf der Adamant“bei der Berlinale mit demGoldenen Bären ausgezeichnet wurde.Ziemlich still war es nämlich um denfranzösischen Dokumentarfilmer NicolasPhilibert geworden, nachdem er 2002mit „Sein und Haben“ seinen größten Erfolggelandet hatte. Wie Philibert dorteine einklassige Dorfschule in der Auvergnemit der Kamera weitgehend kommentarlosdurch ein Schuljahr begleitet,so fängt er auch in „Auf der Adamant“mit geduldigem Blick den Alltag im titelgebendenTageszentrum für Erwachsenemit psychischen Störungen ein.Dieses befindet sich aber nicht an Land,sondern ist ein im Zentrum der hektischenMetropole Paris auf der Seine vorAnker liegendes mächtiges Holzschiff.Hier finden die am Rand der GesellschaftStehenden Ruhe und werden mit unterschiedlichenWorkshops gefördert.Das Betreuungspersonal, das nichtnur aus Psychiatern und Pflegern, sondernauch aus Kunsttherapeuten besteht,bleibt eher am Rande, denn der Fokusliegt auf den Patienten. Nah dran istdie Kamera an ihnen, doch nie kommtdas Gefühl von Voyeurismus auf, dennimmer ist die Empathie des Regisseursspürbar.Menschen die Würde zurückgegebenLange sieht er so einem fast zahnlosenMann beim Singen zu, beobachtet eineerst vor Kurzem eingebürgerte Bulgarinbeim Singen der Nationalhymne ihrerHeimat, bis sie in Tränen ausbricht, oderhält fest, wie eine Frau ein zunehmendflammendes Plädoyer für einen Körperworkshophält. In der Geduld, mit derauf diese schwer angeschlagenen Menschengeblickt wird, wird Respekt spürbar,werden sie ernst genommen und ihnenihre Würde zurückgegeben.Auf ein stringentes dramaturgischesKonzept verzichtet der 72-jährige Regisseur,der den Film zusammen mit derklinischen Psychologin und PsychoanalytikerinLinda De Zitter entwickelte. Losereiht er vielmehr Szenen aneinander,hält sich selbst weitgehend zurück undbegegnet den Besuchern dieses Tageszentrumsauf Augenhöhe.Nur mit ganz wenigen Fragen aus demOff meldet er sich zu Wort und verzichtetauch auf extradiegetische Filmmusik.Dieser Direct-Cinema-Stil erinnertan die Filme Fréderic Wisemans, dochim Gegensatz zum Amerikaner interessiertsich Philibert nicht für eine Durchleuchtungder Institution, sondern rücktdie Menschen in den Mittelpunkt. Indem Raum, den er dabei seinen nicht ingesellschaftliche Normen passenden, eigenwilligenund teils auch ziemlich verwittertenProtagonisten zugesteht, wirddie tiefe Menschlichkeit dieses Filmsspürbar, der diese schwimmende Zufluchtsstätteals einen Ort feiert, an demes möglich und erlaubt ist, anders zusein, und an dem man dennoch völlig akzeptiertwird. (Walter Gasperi)Auf der Adamant (Sur l’Adamant)F/J 2022. Regie: Nicolas PhilibertPanda Lichtspiele. 109 Min. Ab 21.12.

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