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DIE FURCHE 21.12.2023

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DIE FURCHE · 51/5222

DIE FURCHE · 51/5222 Diskurs21. Dezember 2023ERKLÄRMIR DEINEWELTVor sich selbstnicht die AugenverschließenDen gesamten Briefwechselzwischen Hubert Gaisbauerund Johanna Hirzberger könnenSie auf furche.at bzw. unterdiesem QR-Code nachlesen.Hubert Gaisbauerist Publizist. Er leitete dieAbteilungen Gesellschaft-Jugend-Familie sowieReligion im ORF-Radio.Den Briefwechsel gibt esjetzt auch zum Hören unterfurche.at/podcastWenn ich in diesen Tagen den Postkasten öffne undeinen Blick auf die einlangende Post werfe, gehtes mir gar nicht so gut. Teils sind es befreundeteMenschen, die mir/uns schöne Feiertage wünschen. Mancheoriginell, andere bieder, alle gewiss gut gemeint. Danndie aufdringlichen Bettelbriefe mit Bei gaben. Von Hundeeinkaufstaschenbis zu Kugelschreibern mit Namensaufdruck,deren Schreibfähigkeit aber kaum die Lebenserwartungeiner Stubenfliege erreicht. Da fällt mir dieFreundin ein, die einmal empört nach Ausräumen ihresPostkastens ausgerufen hat: „Ich hauden ganzen Krempel in den Mist undkauf jetzt im Internet einen Ochsenoder einen Esel für Burundi!“ Alsomit der zweiten Aktion hat sie meineZustimmung. Nicht nur, weil Weihnachtenist.GewissenserforschungUnd noch etwas verschafft mir Unbehagen,gerade in diesen Tagen. Ichbewältige es einfach nicht mehr, allemeine Beziehungen von einst undjetzt so zu pflegen, wie ich es mir eigentlichwünsche. Etwa mit einem richtigen Brief. Das Erledigender Weihnachtspost wird so zu einer Gewissenserforschung.Und weil Sie, liebe Frau Hirzberger, vomSchämen geschrieben haben: Ja, ich schäme mich dafür,dass ich manche Freundschaft vernachlässigt habe. Undnatürlich für einiges andere auch noch. Was glauben Sie,wie viele Gründe zum Schämen da im Laufe eines längerenLebens zusammenkommen! Glücklich der Mensch,der sagen kann, ich habe noch nie jemanden so enttäuscht,dass ich mich dafür schämen müsste. Den gibt es nicht.Aber da ist mir – wie so oft in meinem Leben – ein Trost„ Ich schäme michdafür, mancheFreundschaft vernachlässigtzu haben.Was glauben Sie, wieviele Gründe zumSchämen im Lebenzusammenkommen! “„zugefallen“. Just an dem Tag, an dem ich Ihren Brief gelesenhabe. In einem Interview mit der deutschen Tageszeitungtaz spricht der von mir hochgeschätzte neunzigjährigeTheologe Fulbert Steffensky in seiner Lebensrückschauauch über Schämen und Scham: „Wenn ich mein Lebenüberdenke, komme ich über meine Scham nicht hinweg.[….] Es gehört zur Würde des Menschen, vor sich selbst dieAugen nicht zu verschließen. Scham oder Reue sind Begriffeder Größe und Schönheit des Menschen.“ Das hat mich,liebe Frau Hirzberger, an Ihren Spiegel in der Gesangstundeerinnert. Ich glaube, es ist gut fürJung und Alt, sein Leben und seineHaltung immer wieder „in einemSpiegel“ zu kontrollieren. Dass manjeder Verkrümmung und Verkrampfungentgegenwirke.Übrigens, um noch einmal dasThema zu wechseln: Dass Sie mirvon Ihren Gesangstunden schreiben,begeistert mich. Und dass Siean deutschsprachigen WeihnachtsliedernGefallen finden. Es sind jawirklich Perlen unter den Texten zufinden. Mir fallen natürlich die Advent-und Weihnachtslieder des Dichters Friedrich Speeein. Es gibt darin nämlich nicht nur die Süße von „Zu Bethlehemgeboren“, sondern auch harte Bilder von Irregehen,Finsternis, Verzweiflung, Schloss und Riegel. Im Lied „OHeiland, reiß die Himmel auf“ sind es Hilferufe als kraftvolleImperative: reiß, lauf, gieß, brich, schlag aus undkomm! Die vorletzte Strophe geht dann voll Zuversicht so:„O klare Sonn, du schöner Stern / dich wollten wir anschauengern; / o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein / in Finsterniswir alle sein.“ Damit wünsche ich Ihnen und IhrerFamilie frohe Weihnachten!Von Jakob Weinbacher Fast scheint es, als könnten wir in diesem JahrIn FURCHE Nr. 52nicht frohe Weihnachten feiern. Jedenfalls nicht38007. Dezember 1975 unbeschwert!Am 30. April 1975 marschierten nordvietnamesischeKommunisten in Saigonein: Südvietnam kapitulierte bedingungslos.So endete der Vietnamkrieg. Die Bilanz:Millionen von Kriegsopfern in Südvietnamund eine von ihrem Präsidenten zutiefstenttäuschte Nation, die USA. Der ehemaligeWiener Weihbischof Jakob Weinbacherbeschäftigt sich in seinem Text aus diesemgeschichtsträchtigen Jahr mit der Frage, wieman Weihnachten in Zeiten von Gewalt undTerror trotzdem feiern kann.Ringsum Unfrieden, Terror, Gewalt:Realitäten, die uns so anschreien,daß wir unsere Ohren ihnen zuverschließen nicht imstande sind. Unrastund Hektik lassen uns auch nicht nachdenken.So wird Weihnachten gefeiertdurch ein paar freie Tage, und nicht mehr.Im Grund aber freudlos!Ja, haben wir denn ganz vergessen,daß Weihnachten ein Geburtstag ist?Und daß das „Geburtstagskind“ – manverzeihe den Ausdruck! – an diesem Tagin besonderer Weise denen zugetan ist,die diesen Tag mit ihm feiern? Und daßdas eine Realität ist, die allerdings nichtschreit und brüllt! Also trotzdem Weihnachten!Mit dem geschärften Ohr fürUnd trotzdemWeihnachten ...die unsichtbaren Tatsachen, mit dem wachenAuge, das sich richtet auf den Christus,den Erlöser und Heiland. Kurzerhandund ganz unmodern ausgedrückt:wir brauchen den Glauben. Mit diesemGlauben tun wir – so hat Kardinal Königdas kürzlich ausgedrückt – den Schrittin eine zerrissene Welt. Zehn Jahre sindvergangen, seit das II. Vaticanum abgeschlossenwurde, damals wurde der ersteSchritt getan in die Welt, das Gesprächwurde begonnen mit den Christen andererKirchen, mit den Nichtchristen undauch mit den Nichtglaubenden. Zögerndzwar, aber doch nicht ohne Erfolg.Das Wesentliche dabei aber ist, daßwir selbst, daß jeder einzelne von unsdiesen Schritt mit vollzieht – denn dieKirche sind wir alle. Daß die Kirche„noch immer mit Klerus und Hierarchieidentifiziert wird“ (Kardinal König),ist ein landläufiger, nicht aber deswegenverzeihlicher Irrtum. So liegt es anuns, daß wir mit dem bekennenden Mutmit Christus, dem Gottmenschen, denSchritt in die Welt tun, ihr die Botschaftder Weihnacht verkünden: den Frieden.Die Waffen des FriedensDer Christ hat auch Waffen, aber Waffendes Friedens. Am kommenden Neujahrstagwird der Heilige Vater, Paul VI.,seine Botschaft an die Welt richten über„die echten Waffen des Friedens“, die dasind „Güte des Herzens, Barmherzigkeitund Liebe“.Mit diesen Ausdrücken begrüßt BundespräsidentKirchschläger den Friedensappelldes Papstes. Nochmals: TrotzdemWeihnachten! Das glitzernde undFoto: Fotoliagemütvolle Fest mag uns wohltun,täuscht aber nicht hinweg über die rauhenWirklichkeiten des Lebens, die Verbundenheitaber mit dem Gottmenschen,dessen Geburtstag wir zu Weihnachtenbegehen, läßt uns tiefer blicken und erfülltuns mit Mut. So sind wir eben Wirklichkeitsmenschen,mit der Wirklichkeitrechnend, daß Christus uns geboren ist,treten wir ein in die Festtage.AUSGABENDIGITALISIERTVON 1945BIS HEUTEÜBER 175.000ARTIKELSEMANTISCHVERLINKTDEN VOLLSTÄNDIGENTEXT LESEN SIE AUFfurche.atMedieninhaber, Herausgeberund Verlag:Die Furche – Zeitschriften-Betriebsgesellschaft m. b. 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DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023Diskurs23Wenn in den großen politischen Debatten die Mitte verstummt, dann ergreifen die Ränder das Wort.Ein Plädoyer für die Bereitschaft zur differenzierten Betrachtung – und zur Toleranz.„Friede den Menschen,die guten Willens sind“Haben Sie heute schon offen IhreMeinung kundgetan und klargestellt,auf wessen Seite Sie stehen?Auf jener der Ukrainer? Der Palästinenser?Für oder gegen die Impfgegner?Ich meine nicht öffentlich, sondern inder Großfamilie oder bei guten Freunden. Odergehören Sie zu jenen 27 Prozent der Menschenin Österreich, die mittlerweile Angst vor Verurteilunghaben, im privaten Kreis ihre Meinungzu vertreten, und damit Selbstzensurüben? Dieses ernüchternde Ergebnis hat dasGallup-Institut letzte Woche bekanntgegeben.Auch ich bin in manchen Situationen vorsichtigergeworden. Als Skeptiker fällt mir die zurückhaltendeÄquidistanz nicht besondersschwer. Etwas frei nach Montaigne gesprochen,„genieße ich es, hin und her zu überlegen undnachzudenken, die Freuden zu genießen undmich meiner körperlichen und geistigen Fähigkeitenzu bedienen“. Außerdem nehme ich dasVorrecht in Anspruch, „zu entsagen, die Wahrheitfestzulegen, zu reglementieren und zuschulmeistern“. So sehe auch ich mich als Produktder liberalen und aufgeklärten Demokratie,in der eine Vielzahl an Meinungen Gültigkeithaben darf. Und bin stolz darauf.Um die eigene Meinung zu schärfen, hat esmir früher Vergnügen bereitet, einseitige Diskussiondurch das Einnehmen der je anderenPositionen aufzumischen. Das ständige Abwägenhat es für mich bis heute nicht erforderlichgemacht, sofort eine klare Meinung haben zumüssen. Das hat sich geändert: Heute wird manbeim Einnehmen einer Position der Mitte alsFeigling gesehen. Allein die Verwendung desWortes „aber“ als Hinweis darauf, dass es auchandere Sichtweisen geben mag, erzeugt Fassungslosigkeit.Gewünscht ist das Bekenntnis:sofort und ohne Wenn und Aber.Bekenntniszwang der KunstAuch in Kunst und Kultur hat dieser Bekenntniszwangerschreckende Ausmaße angenommen.Als gäbe es in Österreich nicht schonzwei Millionen Fußballtrainer und Operndirektoren,müssen Künstlerinnen und Künstlernun auch Expertinnen für Nahost- und Russland-Fragensein. Selbst Intellektuelle äußernsich jetzt seltener, weil sie Gefahr laufen, einenFoto: Sabine HauswirthShitstorm zu ernten. So hat es mir der Freundeines streitlustigen Denkers berichtet.Für die Unterzeichnung eines Friedensaufrufsmusste sich William Kentridge den Vorwurfdes Antisemitismus aussetzen und selbstbei einer Veranstaltung in Wien vor wenigenTagen dafür rechtfertigen. Die Frage, was dennKünstlerinnen und Künstler in Zeiten von Kriegentun sollten, beantwortete der südafrikanischeKünstler und Friedensmensch sehr souveränmit der Aussage: „Gute Kunst machen.“Auch der britische Jurist und Autor PhilippeSands, dessen Familie 1938 aus Wien vertriebenund zum Teil ermordet wurde, hat sich inDIESSEITSVON GUTUND BÖSEVonChristian Kircher„ Heute wird manbeim Einnehmen einerPosition der Mitte alsFeigling gesehen.Gewünscht ist dasBekenntnis. Sofort.“seinen Büchern mit der Täterseite beschäftigt,um Erklärungen für das Verhalten von Menschenzu finden, die mit Sicherheit nicht seinerMeinung waren. Mittlerweile ist Sands derRechtsbeistand für die Palästinenservertretervor dem Internationalen Gerichtshof. Für seineHaltung wurde der Autor kürzlich mit dem Ehrenpreisfür Toleranz im Denken und Handelnausgezeichnet. Beiden Künstlern, Kentridgeund Sands, durfte ich in den letzten Wochen begegnen,und sie haben mich mit ihrer Überzeugungbeeindruckt, dass Meinungsvielfalt undDifferenzierung mehr denn je notwendig sind.Die Weihnachtswünsche der ÖsterreichischenBundestheater 2024 stammen von TeresaPräauer: Sie beschreibt ihre Zuversicht, diesie als Kind beim Basteln zu Weihnachten mitSchere und Papier gewonnen hat, nämlich etwasauseinanderschneiden und neu zusammenklebenzu können. „Ich übte mich im Bastelnund Denken. Das hilft mir jetzt.“Pax hominibus bonae voluntatisMir hilft die Erinnerung an die Zeit gemeinsamenMusizierens im Chor. Meine erste Musikproduktionmit Nikolaus Harnoncourt war1985 Bachs h-moll-Messe. Wie in fast allenMessvertonungen macht sich im Gloria nachden aufgeregten „Ehre sei Gott“-Rufen eine Ruhebreit, wenn der Chor et in terra pax homnibisbonae voluntatis singt. Bach war vermutlich diezu seiner Zeit gebräuchliche Übersetzung ausdem Lateinischen („Friede den Menschen aufErden, die guten Willens sind“) vertrauter alsdie heutige als gültig anerkannte Einheitsübersetzungaus dem Griechischen („Und Friede aufErden den Menschen seines Wohlgefallens“).Mir ist die Version der „Menschen, die gutenWillens sind“ deshalb lieb, weil sie von unsSelbstbestimmung einfordert und dadurch zuAkteuren macht. Für Gläubige sind die Menschennach seinem Wohlgefallen geschaffen.Mit dem guten Willen aber haben wir es in derHand, einen Beitrag zum Frieden zu leisten.Das stimmt hoffnungsfroh, würden nicht jeneStimmen an Lautstärke gewinnen, die selbstden guten Willen um eine differenzierte Betrachtungals gegnerisch diskreditieren. Wennaber die Mitte verstummt, ergreifen die Ränderdas Wort. Und in der Mitte muss man widersprüchlichePositionen ertragen, um Gerechtigkeitzu erlangen, so William Kentridge in einemkürzlich erschienenen Standard-Interview.Es ist Zeit, sich laut zu bekennen: zur Beruhigungder Gemüter, zu einem Miteinander, zuToleranz und einem uneingeschränkten Humanismus.Damit wir in Zukunft wieder lauteDiskussionen über unsere verschiedenen Ansichtenführen können. Ohne Angst. Bis dahinkann es hilfreich sein, Bach zu hören.Der Autor ist Geschäftsführer der Bundestheaterholding.VersöhntQUINT-ESSENZVon Brigitte QuintDer Heilige Abend ist für mich miteiner Erinnerung verbunden. Miteinem Bild, das sich eingeprägthat. Die Familie versammelt sich umden Christbaum. Der Baum ist eine Fichte,geschmückt mit Strohsternen, zehn,zwölf roten Kugeln, schlichten weißenKerzen, einigen Anhängern, die irgendjemandirgendwann im Kindergartenoder in der Schule gebastelt hat.Meine Oma sitzt auf der Bank vor demKachelofen. In der Stube ist es unangenehmwarm. Meine Mutter lässt die Türzum unbeheizten Gang offen. Das Lied„Stille Nacht“. Meine Schwester spielt Blockflöte.Alle anderen singen. Am schönstensingt meine Oma. Und sie weint.Die Fichte, die Blockflöte, das Lied„Stille Nacht“, die weinende Oma mit ihrerroten Bluse und der goldenen Ketteauf der Kachelofenbank. Das sehe ich,wenn ich über Weihnachten nachdenke.Meine Oma ist seit elf Jahren tot. Nunweine ich. Es sind nur ein paar Tränen,die mir herunterlaufen. Etwa wenn ichmorgens im Bad einen dieser amerikanischenchristmas songs höre. Dann binich wieder 14 Jahre alt. Ich bin ein Mädchen,das nicht weiß, wohin mit sich. Ichhabe Angst, ich habe Träume. Ich will zuden Sternen greifen, wohlwissend, dassich stattdessen entsprechen soll.Schon als Kind spürte ich, dass meineOma am Heiligen Abend ihren Träumennachgeweint hat. Wie konkret diesewaren, weiß ich nicht. Ich kenne nurDetails. Ich stelle mir immer vor, sie hättegerne eine heile Welt gehabt. Stattdessendurchlebte sie den Krieg, musstezwei ihrer Kinder begraben, erlitt Demütigungen,Verrat, den Verlust ihrergroßen Liebe. Auch schmerzten sie dieZwistigkeiten in der Familie.Am Heiligen Abend erlaubte sie sich,sich ihren Gefühlen hinzugeben. EineFrau, von der die Leute sagen, sie seistark, lebenstüchtig, nüchtern, kontrolliertgewesen. Sie entsprach eben, mussteentsprechen. Im Gegensatz zu mirhatte sie keine Wahl gehabt.Die Familie, die sich um den Christbaumversammelt. Das Ertönen der Blockflöte.Das gemeinsame Singen von „StilleNacht“. Die Fichte aus dem eigenen Wald.Die überhitzte Stube. In diesem Momentwar meine Oma mit der Welt versöhnt.PORTRÄTIERTDer verurteilte KardinalBislang war solches schlicht undenkbar: Ein Kardinalund langjähriger Oberer der römischen Kuriewurde von einem vatikanischen Gericht, das sichaus Laien und nicht aus Klerikern zusammensetzte, zumehr als fünf Jahren Haft verurteilt. Im Pontifikat vonFranziskus ist auch solche Entwicklung möglich, diejedenfalls auf den ersten Blick die Hoffnung nährt, dasses in der Couloirs an der Spitze der katholischen Kirchedoch so etwas Ähnliches wie Rechtsstaatlichkeit gibt.Giovanni Angelo Becciu kommt die zweifelhafte Rollezu, dass an ihm als Erstem ein Exempel statuiert wurde:Becciu wurde vom Gericht in erster Instanz für schuldigbefunden, eine mit 100 Millionen Euro Verlust endendeFinanzinvestition in London durch das vatikanischeStaatssekretariat nicht ausreichend beaufsichtigt zuhaben. Außerdem wurde Becciu angelastet, eine halbeMillion Euro an eine Bekannte als Lösegeld für einen entführtenPriester in Afrika übergeben zu haben, wobeidiese das Geld für private Einkäufe genutzt hatte. Auchdie Unterstützung eines von seinem Bruder auf Sardiniengeleiteten Sozialprojekts wurde Becciu angekreidet.Der Kardinal beteuerte auch nach dem Urteil seineUnschuld – und berief gegen das Verdikt.Der 75-jährige gebürtige Sarde wurde 2011 durchBenedikt XVI. „Substitut“ im Staatssekretariat und damiteiner der politisch, aber auch finanziell mächtigstenMänner der Kurie. Die Scharmützel, die er sich mit demkonservativen Hardliner Kardinal George Pell († 2023),den Papst Franziskus als Oberaufseher über die wirtschaftlichenAktivitäten der Kurie eingesetzt hatte, lieferte,waren legendär. Franziskus ernannte Becciu 2018zum Präfekten der Heiligsprechungskongregation undzum Kardinal. Bereits ein Jahr zuvor hatte der PapstBecciu als Sonderbeauftragten zum Malteser-Ritterordengeschickt, bei dem es große innere Spannungen gab.Wegen des Finanzskandals trat Becciu Ende 2020 vonseinen Ämtern zurück und verzichtet auf alle Rechte einesKardinals, insbesondere auf das Recht zur Papstwahl;Franziskus beließ ihm allerdings die Kardinalswürde.Ob Becciu aber tatsächlich hinter Gitter muss, ist zweifelhaft.Denn zum einen wird der Instanzenweg nach derBerufung noch Jahre dauern – die Richter sind nun abernicht mehr Laien, sondern Geistliche und Angehörigeder Kurie. Und selbst wenn der Schuldspruch bestätigtwerden sollte, kann der Papst das Strafausmaß herabsetzenoder den Verurteilten begnadigen. (Otto Friedrich)Foto: APA / AFP / Filippo MonteforteKardinal AngeloBecciu (75) wurdeim vatikanischenFinanzstrafverfahrenzu fünfeinhalbJahren Gefängnisverurteilt. Er beriefgegen das Verdikt.

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