Aufrufe
vor 9 Monaten

DIE FURCHE 21.12.2023

  • Text
  • Frauen
  • Wien
  • Foto
  • Israel
  • Weihnachten
  • Dezember
  • Welt
  • Zeit
  • Furche
  • Menschen

DIE FURCHE · 51/5214

DIE FURCHE · 51/5214 Gesellschaft21. Dezember 2023Von Stefan T. Hopmann1843 wurde Charles Dickens’ „Geistergeschichte zum Christfest“erstmals veröffentlicht. 180 Jahre später fragt man sich: Wosteht die Gesellschaft? Ein etwas anderer Rück- und Ausblick.Krisen wieaus einemRomanVon Victoria SchwendenweinBildungs- und Kinderarmut, Arbeitslosigkeit,soziale Kälte:Nein, das sind nicht die Stichwortefür den Jahresrückblick2023, sondern die Themen einerder wohl weltweit bekanntesten Weihnachtsgeschichtenvon Charles Dickens.„A Christmas Carol. In Prose“, auf Deutsch„Ein Weihnachtslied. In Prosa“ oder „eineGeistergeschichte zum Christfest“, hat am19. Dezember 1843 seinen Siegeszug angetreten.Dickens, der als Kind selbst bittereArmut erlebt hatte, prangerte in seiner Literaturdie harte Realität an und fordertesoziale Änderungen ein.180 Jahre später sind seine Themen immernoch präsent, gewinnen sogar an Aktualität.Die eingangs genannten Stichwortesind kein Jahresrückblick, aber siekönnten es sein. Immerhin hat die „Gesellschaftfür deutsche Sprache“ (GfdS) den Begriff„Krisenmodus“ zum Wort des Jahresgekürt, dicht gefolgt von „Antisemitismus“und „leseunfähig“. „Der Ausnahmezustandist längst zum Dauerzustand geworden“,lautete die Begründung der GfdS. Zur„ Bildungs- und Kinderarmut,Arbeitslosigkeit,soziale Kälte sind hiernicht Stichworte für denJahresrückblick, abersie könnten es sein.“Erinnerung: In Österreich setzte sich das„Kanzlermenü“ – und damit auch ein Synonymmangelnder Maßnahmen gegen Kinderarmuthierzulande – vor „Gierflation“und „Klimakleber“ durch.Die Jury der GfdS nahm im ablaufendenJahr 2023 eine zunehmende Radikalisierungder Sprache im öffentlichen Raumwahr. Es falle vielen Menschen schwer, damitumzugehen, dass nicht bewältigte Krisenwie die Erderhitzung, der Russland-Ukra ine-Krieg oder die Teuerung laufendvon neuen Krisen eingeholt würden – undes dennoch immer noch einflussreicheMenschen gibt, die das alles nicht zu berührenscheint. Die Kluft zwischen den sozialenSchichten wird zunehmend größer.Drei zeitlose GeisterDas führt zurück zu Charles Dickens undseiner berühmt gewordenen Weihnachtsgeschichte.Die drei Geister der Weihnachtführen dem gierigen Kaufmann EbenezerScrooge anhand seiner Vergangenheit, Gegenwartund möglichen Zukunft vor Augen,wie kaltherzig er ist. Dickens hat denMenschen und der Politik damals einenSpiegel vorgehalten. Doch wo steht die Gesellschaft180 Jahre später? Und was müsstesich heute ändern? Der Geist, der dievergangenen 20 Jahre Bildungsreform zusammenfasst,jener, der die gegenwärtigeArbeitsmarktsituation beleuchtet, und jener,der Wegweisendes aus der sozialen Arbeitaufzeigt, geben auf dieser Doppelseiteanalog zu Dickens’ „Christmas Carol“ einenÜberblick zum Status quo anno 2023 –und somit einen Ausblick darauf, was geschieht,wenn alles beim Alten bleibt.Illustration: Rainer Messerklingererfreulich“ fand der Bildungsminister die Ergebnisseder letzten PISA-Studie, obwohl Österreich keineswegs„Durchausbesser als bisher abgeschlossen hatte. Wir dürfen uns besserfühlen, weil Österreich sich durch die Pandemie weniger verschlechterthabe als etwa Deutschland, das in der letzten PISA-Runde arg gebeuteltwurde. Außerdem würden durch die Ergebnisse die vom Ministeriumgesetzten Maßnahmen wie die Sommerkurse bestätigt, obwohldie PISA-Forschung selbst solche Kausalschlüsse ausdrücklich aus -geschlossen hatte. Keine Erwähnung wert war ihm dagegen, dass diesoziale Schere, die in Österreich ohnehin weiter klafft als in fast allenvergleichbaren Ländern, noch weiter auseinandergegangen ist.Seit dem ersten PISA-Schock vor zwanzig Jahren„ Standardisierung undKompetenzorientierungnach dem Vorbild PISAsollten Abhilfe schaffen.Genutzt hat das nichts.Das ändern auch dieneuen Lehrpläne nicht. “werden laufend immer neueReformen gesetzt, durch diedie Schulleistungen steigenund die sozialen Abstände abgebautwerden sollen. Standardisierungund Kompetenzorientierungnach demVorbild PISA sollten Abhilfeschaffen. Genutzt hat das allesnichts (vgl. dazu auch Seite11). Im Gegenteil: Bei allenfallsstagnierenden Schulleistungen wachsen seitdem die durch diesoziale Herkunft bedingten Unterschiede. Das wird auch die vorerstletzte Maßnahme nicht ändern: Die in diesem Jahr verabschiedetenneuen, in tausende Kompetenzen zerstückelten Lehrpläne werden inKombination mit einschlägigen Schulbüchern und Kompetenzüberprüfungenim Gegenteil die innerschulischen Gräben noch vertiefen.Überraschend ist diese Entwicklung nicht. Sie ist von PISA-kritischenForschern wie mir vorhergesagt worden.Daran wird auch die vom Minister groß angekündigte Lesekampagnewenig ändern. Der Einsatz von Schönheitsköniginnen und Profiboxernals Lesepaten in allen Ehren: Aber dadurch ändert sich ander Lebenswirklichkeit und den Lernerfahrungen der Kinder undJugendlichen außer- und innerschulisch nichts. Dazu bedürfte eseher gezielter Maßnahmen gegen Kinderarmut und sozialer Hilfen.Verlorengegangene ReformjahreAuch Ganztagsschulen werden der Forschungslage nach an derungleichen Verteilung von Bildungschancen nichts grundlegend ändern,wenn sie nicht mit erheblichen Ressourcen für mehr Förderungausgestattet werden. Das ist aber nicht geplant.Nach zwanzig Jahren gescheiterter Reformen wäre vielleicht derZeitpunkt gekommen, sich zu fragen, ob der gewählte Ansatz der richtigeist. Viel zu viele Jugendliche verlassen die Pflichtschule ohne ausreichendeGrundlagen für eine erfolgreiche Lehre. Gleichzeitig fehltes im ganzen Land an Fachkräften. Dazu bräuchte es Unterricht, beidem man in der Schule lernen kann, was es für die Schule braucht,unabhängig von häuslicher Unterstützung. Dort, wo mehr Differenzierungnötig ist, müsste es entsprechend deutlich mehr Lehrkräfteund anderes Unterstützungspersonal als bisher geben. Lehrkräftemüssten die Freiheit haben, den Unterricht an die konkrete Situationin ihren Klassenzimmern anzupassen. Davon will aber die Dreifaltigkeitvon PISA-Forschung, Schulbuchindustrie und Schulbürokratienichts wissen. Zu sehr profitiert sie vom Standardisierungswahn, derihr Einfluss und Ressourcen sichert. Zu ihrer Entmachtung wird eseiner wagemutigen Partei oder einer starken Persönlichkeit im Amtbedürfen, die sich durch Mediengewitter nicht davon abbringen lässt,dem grausamen Spiel ein Ende zu bereiten. Solange es die nicht gibt,werden wir damit leben müssen, dass schöngeredet wird, was eigentlichnicht zu beschönigen sein sollte.Der Autor war Professor für Bildungs wissenschaftan der Universität Wien und ist nun Professor ander Universität von Südost-Norwegen.Stefan T. Hopmannhat in derVergangenheitoft die Standardisierungkritisiert. Lesen Sie dazu auch dasInterview „Wettlauf um unnützesWissen“ (18.4.2013) auf furche.at.

DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023Gesellschaft15Von Sabine RehbichlerEs weihnachtet. Das alte Jahr geht zu Ende, Zeit, Bilanz zu ziehen.Die Welt am Arbeitsmarkt scheint in Ordnung zu sein. Jedenfallsvordergründig. Nach schockierenden Arbeitslosenzahlenvon bis zu 500.000 etwa im März 2020 während der Covid-Pandemiehat die Wirtschaft einen unerwartet raschen Aufschwung erlebt, undder Arbeitsmarkt hat sich wieder erholt. Auch wenn wir zurzeit wiedereinen Anstieg verzeichnen, ist die aktuelle Zahl von knapp 276.000arbeitslosen Menschen im Vergleich zur Zeit während der Pandemienicht dramatisch hoch. Die Diskussion hat sich zudem von der Sorgeum hohe Arbeitslosenzahlen zum Thema Arbeitskräftemangel verschoben.Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit dem Rekordhochvon über 154.000 Betroffenen im März 2021 auf rund 73.000 Menschenzurückgegangen. Dazu haben auch zielgerichtete Programmeder Arbeitsmarktpolitik wie „Sprungbrett“ mit Fokus auf langzeitarbeitslosenMenschen beigetragen.Aktuell scheint man mit dem Niveau von (Langzeit-)Arbeitslosigkeitzufrieden zu sein. Jedenfalls liegt dieser Schluss nahe, wenn erfolgreicheProgramme nicht verlängert werden und Soziale Unternehmen,die gegen Langzeitarbeitslosigkeit kämpfen, in ganz Österreichum die Weiterführung der Förderungen im kommenden Jahr zitternmussten – und wohl auch für 2025 fürchten müssen.Die blanke Wahrheit der GegenwartIn der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens zeigt der Geist derGegenwart hinter der äußeren Fassade eine andere Welt auf. Es ist eineWelt aus Armut, Elend und Unwissenheit. Dieser Blick hinter dieabstrakten Zahlen des Arbeitsmarktes ist genauso real: Die Arbeitslosigkeitnimmt zu, der Anteil von langzeitbeschäftigungslosen Menschenan allen Arbeitslosen ist mit 27 Prozent beständig hoch, und vorallem sind diese Menschen besonders häufig von Armut betroffen. Die200 Sozialen Unternehmen im Netzwerk von „arbeit plus“ nehmen bereitswahr, dass sich die Wirtschaft in einer Rezession befindet, derDruck am Arbeitsmarkt steigt.Wer nicht mithalten kann, istschnell wieder ohne festen Arbeitsplatz.Der Geist der Gegenwart hatdie Rolle, die ungeschönteWahrheit aufzudecken, um dieWeichen für die Zukunft zustellen. Hier liegt das Potenzialfür den Arbeitsmarkt: DennMenschen wollen arbeiten –aber die Rahmenbedingungendafür müssen passen.Das ist die einhellige Erfahrungvon Sozialen Unternehmen in ganz Österreich, die jährlich rund25.000 Menschen vorübergehend beschäftigen und 200.000 beraten.Viele davon schaffen den Sprung in den Arbeitsmarkt. Für andere passendie Bedingungen (noch) nicht.Entweder läuft die Unterstützung nicht ausreichend lang oder Umständewie eine verlässliche und ausreichende Kinderbetreuung sindnicht gelöst. Soziale Unternehmen könnten das Potenzial von mehrMenschen heben, sie in den Erwerbsarbeitmarkt bringen und damitArmutsgefährdung verringern. Dazu brauchen sie aber Spielraumund eine längerfristige Finanzierung. Um das umzusetzen, brauchtes eine mutige und entschlossene Politik mit dem Interesse, bewährteund innovative Ansätze wie Stufenmodelle, niederschwellige Beschäftigungsmöglichkeitenund Ausbildungen in den Regelbetrieb zuübernehmen. Sodass Langzeitarbeitslosigkeit endlich zum Märchenaus der Vergangenheit wird.Die Autorin ist Betriebswirtin mitErfahrung im Profit- sowie Non-Profit-Bereich und leitet „arbeit plus –Soziale UnternehmenÖsterreich“.„ Die 200 SozialenUnternehmen im Netzwerkvon „arbeit plus“ nehmenbereits wahr, dass sichdie Wirtschaft in einerRezession befindet,der Druck am Arbeitsmarktsteigt. “Von Miriam MayrhoferAmar Rajkovic blickt nach vorn: „Wir haben Corona, Kriege, Inflationund Isolation erlebt. Die Menschen sehnen sich wieder nachsozialen Kontakten“, sagt der Projektleiter von Community Workbei der Volkshilfe Wien. Seit 2022 beackern er und sein Team Favoritenund versammeln Menschen, „die etwas zurückgeben wollen an ihreUmgebung, ihr Grätzl“. Ob Gratishaarschnitt für Kinder, Filmfestivaloder Mobilitätsworkshops – die Initiativen haben einen gemeinsamenNenner: Sie sollen den sozialen Zusammenhalt in der Nachbarschaftstärken. Die Ideen kommen von Communityleadern, ehrenamtlich tätigenMenschen, die etwa eine Fahrschule betreiben, einen „exotischen“Supermarkt leiten oder einen Haarsalon besitzen.Hat die Gesellschaft eine Zukunft? Die Angst, „fremd im eigenenLand“ oder „benachteiligt“ zu werden, wird gesellschaftspolitisch instrumentalisiert.„Wir sinduns selbst die Nächsten“ oder„Jeder ist seines eigenen GlückesSchmied“, lauten die Devisennach neoliberalem Zeitgeist.Doch viele Menschenringen mit den Folgen desUkra ine-Kriegs, der Pandemieund der Teuerung. Sie sind aufUnterstützung angewiesen,auf einen gesellschaftlichenRück- und Zusammenhalt.Hier setzt Community Work an.Menschen aus den Communitysgehen mit offenem Blick und gutem Beispiel voran und werdenaktiv. Der Fahrschulbesitzer, der sich mit einem Fahrradgeschäft zusammentut,um Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass die Straßefür alle da ist, ebenso wie der mehrsprachige Frauenchor oder die„Black Movie Days“: Sie wollen Role models sein, ihre Communitys empowernund zeigen, dass es auch anders geht – nämlich miteinander.Die Zukunft ist keine UtopieEine Community definiert sich über ihre Gemeinsamkeit – sei dieseeine Leidenschaft fürs Essen, die zu Kochsessions der anderen Art mitvielseitigen Gästen wird, oder aber das Bedürfnis nach strukturellerVeränderung, das eine Gruppe motiviert, Aktionen gegen Gewaltan Frauen umzusetzen. Community Work will Menschen in und ausverschiedensten Communitys dabei unterstützen, ihre Ideen, Projekteund Konzepte umzusetzen. Dabei ist die Black Community genausopräsent wie die erste Generation der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter,die Generation Y ist ebenso involviert wie Pensionistinnenund Pensionisten. Die Initiativen widmen sich verschiedenen Zielsetzungen:Sie können künstlerisch, sozial, pädagogisch oder auch alltagskulturellmotiviert sein.Das Konzept erinnert an die klassische Gemeinwesenarbeit? Richtig.Sie ist keine neue Erfindung – allerdings durch die Herausforderungender vergangenen Jahre zu einem Auslaufmodell geworden. DieRessourcen werden stetig weniger, und das Engagement verläuft sich.Community Work geht anders vor: „Die Leute in den Communitys habendie Ideen – und wir haben die Mittel und die Kontakte, die Netzwerkeund auch die Nerven, Genehmigungen einzuholen“, sagt Amar Rajkovic.Beteiligte sollen entlastet – und das Engagement wieder attraktivwerden. Weil es die Herzensprojekte der Communityleader selbstsind, sind die Motivation und der Erfolg nicht an äußere Hierarchienoder Strukturen geknüpft, erklärt Rajkovic. Und er ergänzt: „Natürlichhaben die Communityleader selbst auch etwas davon. Die Glücksforschungsagt nicht umsonst: Anderen zu helfen, macht nachhaltigglücklich.“ Das Engagement und die Motivation der Communitys weckenjedenfalls Hoffnung. Die Zukunft, so scheint es, baut auf frischentfachten Zusammenhalt auf, denn: Neue Helden braucht die Stadt.Die Autorin ist freie Journalistinsowie Expertin für Soziale Arbeitund lebt in Wien.„ Das Engagementund die Motivation derCommunitys weckenHoffnung: Die Zukunftbaut auf frisch entfachtenZusammenhalt auf, denn:Neue Helden brauchtdie Stadt. “Am 28.3.2013diskutierten UnternehmerHannesOffenbacherund PsychologePeter Hofmann in „Unterm Rad dermodernen Zeiten“ über „schöne,neue Arbeit“. Zu lesen auf furche.at.Lesen Sie auffurche.at, wiedie Welt in rund30 Jahren aussehenkönnte:Utopien von vier Persönlichkeiten in„Vier Briefe ans Christkind – oder:Visionen für 2050“ (21.12.22).

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023