DIE FURCHE · 51/5212 Politik/Geschichte21. Dezember 2023Lernen SieGeschichte!Peter MichaelLingens (auf demFoto von 1975 aufeiner Bank lümmelnd)übte am„Medienkanzler“Bruno Kreisky heftigeKritik – auchund besonderswegen dessenhaltloser Vorwürfegegen SimonWiesenthal.Von Otmar LahodynskyDer Titel des Buches klingt anmaßend:„Zeitzeuge eines Jahrhunderts“.Auch der Untertitelentbehrt jeder Bescheidenheit:„Eine Familiengeschichte zwischenAdolf Hitler, Bruno Kreisky, DonaldTrump und Wladimir Putin“. Aber der JournalistPeter Michael Lingens, der im Altervon 84 Jahren seine durchaus spannendeBiografie vorlegt, hat sicherlich tieferenEinblick in die Geschichte Österreichs undEuropas genommen als so manche andereZeitzeugen.Wegen persönlicher Kontakte kann erauch bei globalen Krisen – vor allem beimNahost-Konflikt – mitreden. Der langjährigeHerausgeber und Chefredakteur des Profilund jetzige Kolumnist beim Falter warmit Simon Wiesenthal und mit einem engenVertrauten von PLO-Chef Jassir Arafat,Issam Sartawi, befreundet. Der Arzt Sartawisetzte sich in den 1980er Jahren für eineFriedenslösung zwischen Israel und einemPalästinenserstaat ein und wurde deshalbvon einem Killerkommando Abu Nidals erschossen.Nach dem Attentat auf den WienerStadtrat Heinz Nittel (SPÖ) durch dieseSplittergruppe landete auch Lingens auf einerTodesliste Abu Nidals. Profil hatte überdie Täterschaft der in Damaskus angesiedeltenTerrorgruppe berichtet, als andereMedien noch eine Eifersuchtstat nicht ausschließenwollten.Das Drama in NahostSo kann Lingens den Nahost-Konflikt inmehreren Kapiteln seines Buches mit Insiderwissenbeschreiben. Er sieht „Israelszentrales Problem“ in der erstarktenMacht der Ultrareligiösen: „Fanatische Religionist immer und überall – vom Iran derMullahs bis zu Donald Trumps USA – dasgrößte Hindernis für Vernunft. Spätestensin dem Moment, in dem religiöse Parteienals Zünglein an der Waage die Politik einerRegierung entscheiden, wird es lebensgefährlich.“Nach dem Oslo-Abkommen hätteIsrael alles tun sollen, um einen Palästinenserstaatzu ermöglichen. „Aber es tatmit dem Siedlungsbau das Gegenteil unddie Hamas tat das Gleiche, indem sie nichtaufhörte, Israel mit Raketen zu beschießenLesen Siezu diesemThema auch dieAnalyse „BrunoKreisky und dasJudentum“ (6.Dezember 2022)von Karl Pfeiferauf furche.at.Die Biografie von Journalistendoyen Peter MichaelLingens ist eine spannende Zeitreise durch österreichische,globale und auch persönliche Krisen.„Auch Kreiskywurde einbiss’l einAntisemit“„ Lingens verzieh Kreisky den Paktmit der FPÖ und die sie aufwertendeWahlrechtsänderung nie. Er habe dieFPÖ salonfähig gemacht, woranÖsterreich bis heute leide. “und Attentate durchzuführen.“ Lingens’Freundschaft zu Simon Wiesenthal war einerder Gründe für die harte Kritik an BrunoKreisky: Dessen haltlose und unbewieseneVorwürfe gegen Wiesenthal, er seiGestapo-Spitzel gewesen, waren dabei nurein Motiv. Lingens verzeiht Kreisky dessenPakt mit der FPÖ und die sie aufwertendeWahlrechtsänderung bis heute nicht. VieleReformen hätte Kreisky auch mit der ÖVPdurchführen können. So aber habe Kreiskydie FPÖ salonfähig gemacht, woran Österreichbis heute leide.Minutiös zeichnete Lingens die Profil-Enthüllung der Kriegsvergangenheit desÖVP-Bundespräsidentenkandidaten undfrüheren UNO-Generalsekretärs Kurt Waldheimim Jahr 1986 nach. Dass die ÖVP damalsWaldheim aufstellte, sei aus ihrer Sichtlogisch gewesen, meint Lingens: „Die Österreicherwürden einen Mann, der ein so hohesAmt bekleidet hatte, natürlich für einengroßen Mann halten. Auch wenn er diesesAmt genau umgekehrt voran seiner totalenBedeutungslosigkeit und der relativen BedeutungslosigkeitÖsterreichs verdankte.“Wiesenthal habe Waldheim gegen Vorwürfe,er sei in NS-Verbrechen direkt verwickeltgewesen, verteidigt. Dafür sei ervon der Kronen Zeitung, die nur einige Jahrezuvor Wiesenthal noch wegen dessenAufdeckung der Zugehörigkeit des FPÖ-Chefs Friedrich Peter zu einer SS-Mordbrigadedes Landes verweisen wollte, plötzlichgefeiert worden. Die VerteidigungWaldheims habe Wiesenthal den Friedensnobelpreisgekostet, ist sich Lingens sicher.Kurz: Perfekte PR statt PolitleistungenSebastian Kurz kommt im Buch erwartungsgemäßnicht gut weg: „Mit perfekterMessage-Control kann man den Eindruckerwecken, dass in der RegierungFoto: picturedesk.com / KURIER / Bissuti Kristian, Bissuti Kristiankein Streit herrscht; mit der perfekt vorgetragenenBehauptung, den bisherigen Postenschacherabzuschaffen, kann man mehrPostenschacher denn je betreiben; und mitder Behauptung, die bisherige Korruptionzu beseitigen, kann man ideale Bedingungenfür Korruption im staatsnahen Bereichaufbereiten und sie im Umgang mit Inseratenund Glückspiel zu greller Blüte führen.PR, so bewies Kurz, kann politische Leistungerstaunlich lange perfekt ersetzen.“Außerdem hält er Kurz das seiner Meinungnach völlig kontraproduktive staatlicheSparen vor, das zur Zerreißprobe derEU geworden sei. Denn Deutschland habemit dem Streben nach Nulldefizit auchdas Lohnniveau übermäßig gedrückt, wodurchdie anderen EU-Staaten wirtschaftlichan den Rand gedrängt worden seien.Peter Michael Lingens geht in seinerBiografie aber auch auf persönliche Fehlleistungenein, wobei das Verhältnis zuseiner dominanten Mutter Ella Leitmotivist. Seine Freundschaft mit einem WienerUnternehmer brachte ihm im Zusammenhangmit der von diesem versuchtenErpressung einer russischen Geschäftsfrauein Strafverfahren ein, das zwar mitFreispruch endete, ihn aber seinen Postenin der Chefredaktion des Standard kostensollte. Sein tiefer Fall löste bei ihm Suizidgedankenaus, und er suchte damalsauch seelischen Beistand beim InnsbruckerBischof Reinhold Stecher. Schuldgefühlewegen der Trennung von seinerersten Frau beschreibt Lingens im Detail.Und seine Mutter, die als Ärztin in der NS-Zeit wegen ihres Einsatzes für Juden selbstim KZ Auschwitz gelandet war, warf ihmvor, das Verlassen seiner Familie sei für sie„schlimmer als Auschwitz“ gewesen.Mit dem gerade verstorbenen KarlSchwarzenberg war Lingens befreundet.Er beschreibt, wie der Fürst bei der Gründungdes Profil mithalf – und bedauert,dass Schwarzenberg nie für eine Ministerfunktionausgewählt wurde.Gestörtes Verhältnis zu starken FrauenDas Buch enthält aber auch irritierendamüsanteKapitel, wie Lingens’ Begegnungmit einem deutschen Waffenhändler undfrüheren SS-Offizier, bei dem er Ende der1960er Jahre Geld für die Gründung einerTageszeitung auftreiben sollte, was aberan der Bedingung, das Blatt müsse überdie griechische Militärjunta positiv berichten,scheitern sollte. Die Schilderung vonredaktionsinternen Problemen offenbartindes ein gestörtes Verhältnis zu starkenFrauen – vor allem im Journalismus – undeine erstaunliche Dünnhäutigkeit.Im fortgeschrittenen Alter wertet Lingensauch Bundeskanzler Bruno Kreiskyin einem besseren Licht. So nennt er Kreiskyeinen „herausragenden Politiker, dergroße Verdienste um Österreich errang“.Aber Kreiskys „verqueres Verhältnis zuseinem Judentum“ habe eine seltsameFolge ausgelöst: „Kreisky wurde wie (fast)jeder Österreicher ein biss’l ein Antisemit.“Der Autor war Profil-Redakteur und istEhrenpräsident der von ihm zwischen 2014und 2021 geleiteten „Association ofEuropean Journalists“ (AEJ).Zeitzeuge einesJahrhundertsVon PeterMichael LingensBoehlau 2023575 S., geb.,€ 47,95
DIE FURCHE · 51/5221. Dezember 2023Religion/Musik13Ein poetischesEvangeliumDer britische AusnahmemusikerPeter Gabriel legt ein Album vor, das injedem Detail besticht – als subtil spirituelleBeschwörung eines besseren Seins aufdem Fundament der Vergebung.Von Jan OpielkaNein, es ist sicher keinAlbum, das sich deroder die Hörendewährend der Zubereitungdes Mittagessensanhören sollte. Denn in diesemFall verpasste man all die unzähligenKlang- und Wortdetails,die der 73-jährige Peter Gabrielin sein zwölf Stücke umfassendesWerk integriert hat. Der ehemaligeSänger der Band Genesis hatganze 21 Jahre gebraucht, um mit„i/o“ ein Album mit komplett neuenOriginalsongs zu veröffentlichen.Es erschien vollständig am1. Dezember, der Titel „i/o“ spieltauf die Eingangs- und Ausgangsanschlüsseauf der Rückseite vonElektrogeräten an (In- und Output),aber auch auf den Jupitermond Io.Vielleicht auch daher hat der alsPerfektionist geltende Musiker fürdie Vorabveröffentlichung der einzelnenSongs eine ungewöhnlicheForm gewählt: Seit Beginn des Jahres2023 veröffentlichte er jeweilsan jedem der folgenden Vollmondeeines der insgesamt zwölf Stücke.Warum? Weil die „Menschen vergessenhaben, woher sie kommen“,wie er sagt.Vom großen UniversumDas Werk handelt denn auchvom großen Universum, vor allemaber vom Diesseits, der all-gegenwärtigen Überwachung,von Krieg und von Vergebung alsBedingung für Frieden. Nicht zuletztumspielt es Tod und Trauer –und das Mysterium der Liebe. Etwaim Stück „Love Can Heal“, dasam 31. August in der Nacht desneunten Vollmondes erschien.Wenn das Gebäude weggerutschtund gestorben ist / Und dich schutzloszurücklässt / Liebe kann heilen.In dem Drei-Wörter-Refrain hauchenvier Frauenstimmen, darunterGabriels Tochter Melanie, zumAbschluss die schlichte Botschaftmit: Ergib dich der Liebe.Auch in anderen Stücken verarbeiteter das Thema, auf gänzlichandere Weise, etwa in „AndStill“, das seiner 2016 verstorbenenMutter gewidmet ist. Jedemeinzelnen Lied ist im Begleitheftder Platte ein Kunstwerk andie Seite gestellt, das von unterschiedlichenKünstlerinnen undKünstlern geschöpft wurde. Inihrer Vielschichtigkeit vervollständigensie gleichsam die Originalitätvon Text und Musik, einigeder Refrains haben durchausOhrwurmcharakter. Das Eröffnungsstück„Panopticom“ etwa,das musikalisch an Gabriels älterenSound und kraftvolle Songsaus den 1980ern erinnert, handeltvon der Erfindung des PhilosophenJeremy Bentham.Dieser erdachte ein Gebäude,errichtet auf eine Weise, dass alleBewohner – oder vielmehr: Insassen– von einem zentralen Wächterüberwacht werden können.Doch in Gabriels Version wird derSpieß umgedreht. Nicht der „großeBruder“ ist der Überwacher,vielmehr kontrollieren die einfachenMenschen diejenigen, diedie Macht innehalten. Wir sehendurch all die Lügen hindurch. In„Playing for Time“ nimmt Gabrieldie Hörerinnen und Hörer mit aufeine Reise, in der alle auf Zeit spielen,versuchen, Zeit zu gewinnen.Und doch: Es gibt einen Hügel, denwir erklimmen müssen / Erklimmenhin zum Nebel der Zeit. Denn:Weit, weit weg / Draußen zwischenden Sternen / Gibt es einen Planeten,der sich langsam dreht / Wirnennen ihn den Unseren / Jede Zeit,jeder Tag / Jeder Moment, den wirzum Leben erwecken / Wird nieverblassen.Wenn das Album Berg-sinnbildlichaus Sechs-, Sieben- undAchttausendern besteht, danngehört „Playing for Time“ zu denLetzteren. Auch weil der Songnach fast fünf langen, nachdenklichen,Piano durchtränkten Minutenin einem orchestralen Höhepunktgipfelt und hier kurzan der vagen Grenze zwischenSchönheit und Erhabenheit verweilt.Auf der Suche nach einemFlackern im Zifferblatt der Uhr /Versteckt im Berg, im Körper desFelsens / Keiner scheint es zu bemerkenoder das Nachbeben zuspüren / Sie sind alle zu sehr damitbeschäftigt, auf Zeit zu spielen.Licht und Schatten von ReligionEine explizite Religiositätlegt Gabriel, christlich erzogenund heute eher dem Buddhismuszuneigend, nicht an den Tag. Gleichwohlsagte er einmal: „Wenn ichan Gott denke, bin ich Buddhist,wenn ich voller Schmerz und Verzweiflungbin, bin ich Christ.“ Explizitmit den Schattenseiten vonReligionen befasst sich der „i/o“-Song „Four Kinds of Horses“, einweiterer Achttausender. Es gebeeine Verbindung zwischen Religionund Frieden, aber auch eineFoto: IMAGO / Avalon.redvon Religion mit Gewalt und Terrorismus,sagt er zum Stück.Vielleicht auch daher lässt Gabrielsich in seinen Texten seit jeherwenig auf den einen Schöpferein – und scheint den Zugangüber den Menschen vorzuziehen.Vor mehr als 30 Jahren sang ermit der im Juli 2023 verstorbenenMusikerin Sinéad O’Connor„Blood of Eden“, in dem die beidender weiblich-männlichen Vereinigungim paradiesischen Garteneine berührende Reverenz erweisen,ohne einen göttlichen Gartenschöpferzu erwähnen. Nun, imTiteltrack „i/o“, singt er: Ich binnur ein Teil von allem.Im letzten Stück „Live and LetLive“ macht er indes eine poetischeReminiszenz, ob bewusstoder nicht, an Bob Dylans „Blowin’in the Wind“. Gabriel singt: Wiesehr muss es wehtun / Bevor duden Schmerz loslässt? / Wie tiefmuss er sein / Bevor du dich danachsehnst, wieder frei zu sein?In einem Video erinnert er an NelsonMandela, der nach seiner Freilassungaus der 27 Jahre dauerndenHaft als späterer Präsidentvon Südafrika mit seinen einstigenPeinigern zusammenarbeitenmusste – er konnte es nur untereiner Bedingung. „Mandela warsich sicher, dass wenn er ihnennicht hätte vergeben können, erfür den Rest seines Lebens ihr Gefangenergeblieben wäre“, sagt Gabriel.Und in Songpoesie: Wie langewillst du noch hassen? / Mit alldem Zorn brennen? / Auge um Auge,wieder und wieder / Bis die ganzeWelt blind ist […] Legt die Lastnieder / Legt die Waffen nieder /Lesen Sie vonJan Opielkaauch: „Sting:Wandererzwischen Erdeund Himmel“am 29.9.2021,nachzulesen auffurche.at.„ Wenn das Gebäudeweggerutscht undgestorben ist / Und dichschutzlos zurücklässt /Liebe kann heilen.“Peter Gabriel, „Love Can Heal“Es braucht Mut / Zu lernen, zu verzeihen// Mutig genug sein, umzuzuhören / Zu leben und lebenzu lassen.Es hat seine Berechtigung, dassdie Entstehung des Albums, erstmals2004 angekündigt, so langebrauchte. In der Zwischenzeitvertonte er etwa alte eigene undfremde Stücke neu, tourte durchdie Welt und zog sich zeitweiligzurück, um seine Ehefrau bei derinzwischen erfolgreichen Heilungihrer Krebserkrankung zubegleiten. Während all dem reifteseine Musik. Ein polnischerRezensent schreibt, das Albumsei „ein poetisches Evangeliumder Gegenwart“. Ich kann nur neidischauf die treffende Formulierungsein. Obwohl – Neid? „Wirsind alle Teil von allem.“i/oVon Peter GabrielReal WorldRecords 2023
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