REZENSION EMOTIONALE SUCHBEWEGUNGEN ZWEI BILDERBÜCHER, DIE DEN RAUM FÜR KINDLICHE GEFÜHLSWELTEN SCHAFFEN. Von Heidi Lexe Gazelle Von Heinz Janisch und Michaela Weiss Bibliothek der Provinz 2024 32 S., geb., € 18,– Ab 5 Jahren Und wenn ich dann ankomme ... Von Alexandra Holmes und Judith Vrba Tyrolia 2024 26 S., geb., € 18,– Ab 5 Jahren „W enn Lioba traurig ist, verwandelt sie sich manchmal in eine Gazelle.“ Diesen scheinbar so schlichten Satz setzt Heinz Janisch an den Beginn eines poetischen Textes, der in knappen, versartigen Passagen dem Gefühlsleben eines Kindes folgt. Natürlich hätte dieser Satz auch der Beginn eines phantastischen Romans sein können. Doch wer den heuer mit dem (als Nobelpreis der Kinder- und Jugendliteratur geltenden) Hans Christian Andersen Award ausgezeichneten Autor kennt, weiß, dass sein Metier die kleinen Formen sind. Dafür aber lässt Heinz Janisch das Phantastische zum Fantastischen werden – zu einem Spiel mit der kindlichen Vorstellungskraft; zu einem literarischen Ausloten kindlicher Erfahrungshorizonte, die vom magischen Denken mitbestimmt werden. Und wer die stets lyrisch beeinflussten Textminiaturen von Heinz Janisch kennt, weiß auch, dass hier ein Autor die Kraft seiner Texte stets intensiviert, indem er sie in Korrespondenz mit den Illustrationen namhafter (österreichischer) Künstlerinnen und Künstler treten lässt. Im Fall von „Gazelle“ (erschienen im Verlag Bibliothek der Provinz) sind es die hauchzarten Radierungen der Buchkünstlerin Michaela Weiss, in denen Mädchen und Gazelle zu Beginn des Bilderbuches übereinandergeschoben werden. Das Mädchen bleibt zurück; die zartgliedrige Gazelle hingegen übernimmt in ihrer „katzenstillen“ Art und mittels eleganter Sprünge das nächste Stück Weg ins Leben. Zurück bleibt damit auch die Traurigkeit, sodass die handkolorierten Farbakzente schmetterlingsartig aufgefaltet werden, denn: „Lioba, die Gazelle, liebt das Leben.“ Illustration: Alexandra Holmes Erst dieses Vexierbild, mit dem die kindliche Gefühlswelt an- und ausgesprochen wird, ermöglicht es Lioba, wieder zu sich selbst zu finden: „Aus der Gazelle wird wieder Lioba. / Einfach so. / So einfach. / Mit einem Gedanken.“ Michaela Weiss holt das Bild des Mädchens wieder hinter jenem der Gazelle hervor und zeigt Lioba still und selbstversunken in jener Lese situation, in der sich Liobas eigene Geschichte spiegelt. Kinderliteratur, so wird im Miteinander von Bild und Text deutlich, vermag mehr, als nur mimetisches Abbild kindlicher Realität zu sein. Sie vermag mehr, als evasorische Welten zu etablieren. Sie vermag, innere und äußere Wirklichkeiten in Schwebe zu halten. Liobas wortwörtliches Ankommen bei sich selbst zeigt die Bedeutung des künstlerisch ausgestalteten Bilderbuchraumes – insbesondere dort, wo kindlichen Emotionen nach-gegangen wird. Ein avanciertes Moment der Buchgestaltung vermag die Komplexität von Gefühlswelten zu spiegeln – wie auch im Fall des Bilderbuches „Und wenn ich dann ankomme ...“ (erschienen im Verlag Tyrolia) von Alexandra Holmes und Judith Vrba. Die beiden Künstlerinnen nutzen den gesamten Buchkörper, um den gleichen Plot zweimal zu erzählen: einmal unterlegt mit Vorfreude, einmal mit Ungewissheit. In beiden Fällen macht ein kindliches Ich sich bereit, um aufzubrechen. 14
NACHWORT Hinausgelesen Von Brigitte Schwens-Harrant VOM VERSCHWINDEN In einem Fall ist damit eine Urlaubsreise gemeint. Dreht man das Buch um, ist damit ein Wegziehen gemeint (das als Umziehen gleichermaßen gelesen werden kann wie als Flucht). Von den zwei Seiten des Wendebuches aus erzählt, werden die Geschichten gegenläufig angeordnet und dabei so ineinandergeschoben, dass einzelne Motive des Gedankenspiels der beiden (illustratorisch ausgesparten) Ich-Erzähler auf je einer Doppelseite aufeinandertreffen. Um die beiden Geschichten auch wirklich ineinander verzahnt „lesen“ zu können, sollte das Buch in die Waagrechte gekippt werden. (Man lege es auf den Tisch, den Boden, das Sofa, die Bettdecke …) Damit eröffnet sich eine drehscheibenartige Anordnung der Bildwelt, in der die Gruppierung der zahlreichen Bildelemente und Requisiten durch einen Blickwechsel um 180 Grad jeweils eine veränderte Wahrnehmung der scheinbar gleichen Situation ergibt. Wie eine Kompassnadel schlagen die zahlreich zu entdeckenden illustratorischen Details aus – ein leerer Koffer in einem angeräumten Zimmer wird zu einem überfüllten Koffer in einem leeren Raum; ein hoffnungsvoll gespitzter Bleistift wird zu einem zerbrochenen. „… dann lass ich die Tauben daheim im Schlag. Sie drehen ihre Runden auch ohne mich.“ / „… dann hätte ich gern meine Tauben mit, zur Sicherheit, man weiß ja nie.“ Auch hier sorgen Monotypien, die durch Farb- und Buntstiftelemente angereichert werden, für den Eindruck, dass Wahrnehmungsebenen einander überlagern. Dass dieselben Bilddetails je nach emotionaler Befindlichkeit anders gelesen werden können. Auch hier wird ein kindlicher Erfahrungshorizont durch die Bewegung im (Buch-)Raum erforscht – und den Figuren mit dem Ankommen eine Neuverortung im eigenen Leben ermöglicht. will dem Videothekar nicht sagen, dass ich über Orte schreibe, die verschwinden. Ich sage, dass ich über Orte schreibe, die es nicht „Ich mehr so oft gibt. Der Videothekar lächelt sanft, sagt, dass ich hier richtig sei.“ In Prosaminiaturen, Gedichten, Aphorismen und Fotografien spüren Petra Piuk und Bastian Schneider in „Die Liebe der Korallen. Kleines Archiv des Verschwindens“ (Sonderzahl 2024) dem Verschwinden und dem Verschwundenen nach. Dieses Buch sollte man zügig lesen, warnt schon die erste Seite, denn: „Durch das Aufklappen wurde ein chemischer Prozess in Gang gesetzt, der die Schrift allmählich verblassen lässt (notwendige Einsparungen beim Druck). Zuerst werden die Punkte über dem I verschwinden. Ihnen wird das nicht auffallen, ein I ist ein I, ob mit Punkt oder ohne. Auffallen wird es Ihnen erst, wenn die Punkte über den Diphthongen verschwunden sein werden, wenn Sie im KOLNER ZOO über Ihre FUSSE stolpern oder auf dem OLIVENOL aus Portugal ausrutschen werden, wenn aus BLÜTEN BLUTEN wird. Nach den Punkten werden die Beistriche verschwinden und nach den Beistrichen einzelne Buchstaben und nach den einzelnen Buchstaben ganze Wörter.“ Tatsächlich habe ich das Buch zwar innerhalb des angegebenen Haltbarkeitszeitraums von dreißig Tagen gelesen, doch auf den letzten Seiten stellten sich dennoch die genannten Auffälligkeiten ein. Ach, es ist ja gar nicht so wenig, das verschwindet. Ständig verschwindet etwas. Und die Erkenntnis, dass es so ist, führt zu Melancholie und Traurigkeit. Es verschwinden die Jahreszeiten, die Jugend, die Gletscher, die Zuversicht und die Bienen. Es verschwindet das Telefon als Möbelstück: „Als das Telefon noch einen festen Platz hatte und man wusste den anderen am Ende fixiert und Intimität wurde gemessen durch die Dehnbarkeit der Ringelschnur.“ Es verschwinden die Bücher „aus den Bibliotheken, nachdem sie digitalisiert wurden, mit ihnen die vergilbten Seiten, die Randnotizen, der Geruch“. Es verschwinden Menschen. „Wıe es dunkel wırd am See. Wıe sich manche von uns in der Dunkelheıt verlıeren, wıe wir sıe nıcht mehr finden“ können. Etwas benennen: Ist das nicht immer auch ein Auflehnen gegen das Verschwinden? Und was hat das mit Literatur zu tun? Petra Piuk und Bastian Schneider fragen so: „Heißt Schreiben nicht auch, das Verschwundene erst aufscheinen zu lassen?“ Wie scheint es denn auf, das Verschwundene, was macht Schreiben sichtbar? Und, am Ende einer Literaturbeilage gefragt: Ist ein Buch nicht immer auch eine Bühne, auf der gespielt, eine Manege, in der gezaubert und versammelt wird? „Hier, im Wort, in der Schrift, im Denken und Sprechen wird das Verschwinden versteckt. Und so wie am Anfang aller Zeit durch das Wort wie von Zauberhand (mehr Zauberzunge) die Welt erschaffen wurde und jeden Tag erschaffen wird, so tauchen im Bannkreis der Löschung durch das Wort die Menschen, Dinge, Sprachen, Tiere wieder auf in der Manege.“ IMPRESSUM Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften-Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG, Hainburger Str. 33, 1030 Wien, www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktionelle Leitung: Dr. Brigitte Schwens-Harrant Artdirector/Layout: Rainer Messerklinger Aboservice: 01 512 52 61-52, aboservice@furche.at Anzeigen: Georg Klausinger 01 512 52 61-30; georg.klausinger@furche.at Druck: DRUCK STYRIA GmbH & Co KG, 8042 GrazO ff e n l e g u n g gem. § 25 Mediengesetz: www.furche.at/offenlegung Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, sind vorbehalten. Art Copyright ©Bildrecht, Wien. 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