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DIE FURCHE 21.11.2024 + booklet

REZENSION „WAS IST MAN

REZENSION „WAS IST MAN AUSSER MAN SELBST? DOCH WOHL NICHTS.“ „AUF VERTRAUTEN UMWEGEN“ IST JULIAN SCHUTTING UNTERWEGS. SEINE „DATIERTEN BLÄTTER“ LASSEN SICH ALS SUMMA DIESES GROSSEN LITERARISCHEN EINZEL-GÄNGERS LESEN. Von Andreas Wirthensohn D ieses Buch ließe sich in aller Kürze auf eine ganz einfache Formel bringen: vier plus vier. Vier Stunden ist Julian Schutting jeden Tag zu Fuß unterwegs, perfekt ausgerüstet mit Zeit- und Schrittzähler und seit Kurzem auch mit einem Walkingstock wegen des „Schwankschwindels“. Und vier Stunden sitzt er an seinem Schreibplatz im 19. Wiener Gemeindebezirk und vertraut sich und seine Gedanken, Eindrücke und Assoziationen der Schreibmaschine an. In einem Interview hat er vor einiger Zeit bekannt, die Angst, dass sich die leere Seite nicht mehr füllen lasse, sei inzwischen kleiner als die Angst, irgendwann nicht mehr stramm durch Wien und Umgebung marschieren zu können. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen – Schutting ist nicht der Erste, der sein Schreiben auf dem poetischen Prinzip der „Fortbewegungslust“ gründet, er befindet sich literaturgeschichtlich in ausgesprochen guter Gesellschaft: Honoré de Balzac hat eine feinsinnige „Theorie des Gehens“ verfasst, Adalbert Stifter sammelte beim Wandern durch den Böhmerwald (nicht nur) „Bunte Steine“, Thomas Bernhard betrieb (wie so manches andere) auch das Gehen geradezu manisch, und Robert Walser galt schon zu Lebzeiten als „König der Spaziergänger“, der dann auch – fast schon standesgemäß – auf einer Wanderung einen Herzschlag erlitt und starb. „Auf vertrauten Umwegen“ heißt Schuttings Beitrag zur ambulatorischen Literatur. Vor einem Jahr ist der erste Band dieses Alterswerks erschienen, und er enthielt „datierte Blätter“ aus den Jahren 2011 bis 2016. Nun folgen die literarischen Früchte des Gehens aus den beiden Jahren 2017/18. Wobei: „welches Jahr wir haben, das ist nur für das von Belang, was mir an Substraktionsversuchen, mir mißlingenden, durch den Kopf irrt“. Schutting präsentiert ein Diarium dieser beiden Jahre, aber was in dieser Zeit draußen in der Welt passiert ist, findet nur ganz sporadisch Eingang ins Schreiben. Mal taucht der Bundeskanzler, mal der Bundespräsident, mal die Insel Lampedusa auf, aber viel lieber richtet sich die Aufmerksamkeit des Spaziergängers auf anderes: auf Hirschkäfer oder Füchse, auf „Eichkatzel“ und Graureiher. Der „Wienfluß“ wird zu allen Jahreszeiten ebenso begutachtet wie der Wienerwald, städtische Gassen werden genauso gerne durchstreift wie die Weinberge an der Peripherie. „Man hält sich an das Alltägliche, und wenn man Glück hat wie ich, hat man vom lieben Gott eine gute Imaginationskraft bekommen, die einen befähigt, sich aus kleinen Beobachtungen delikat beunruhigender Art beispielsweise gesellschaftliche, politische Ängste aufsteigen zu lassen“, hat Schutting dem zu seinem künftigen Nachlassverwalter bestimmten Gerhard Zeillinger verraten, und diese immer wieder aufsteigenden Ängste haben viel mit Österreichs NS-Vergangenheit und dem Umgang damit zu tun (an einer Stelle findet sich der herrliche Ausdruck von den „Waldheimlichkeiten“). Etwa wenn er unterwegs ein Plakat der Rockband KISS entdeckt und ihm vor allem eines ins Auge sticht: „das Doppel-S so kantig dreibalkig schräg auf- oder abwärts wie das SS der SS ausgeführt“. Die Gedanken wandern weiter zur „Pest an Bord“- Fahne mit dem Totenkopf (der auch die Kappen der SS-Einheiten zierte), ehe ein auf einer Parkbank vergessener Radiergummi Schutting wieder ins Hier und Heute zurückbefördert, mitsamt dem Wunsch, „unvernünftige Abirrungen in für immer befleckte Zeiten aus dem einem Gedenken allzu oft geneigten Gedächtnis“ auszuradieren – „bis zum nächsten Rückfall“. Ganz überwiegend aber erweist sich Schutting als genauer, am Fotografischen geschulter Beobachter, der das, was ihm der Alltag so vor Augen führt, wahrnehmungsscharf, aber durchaus auch mit viel Sinn für Humor festhält. „Lebensphilosophischer Schwachsinn“ liegt ihm fern, genauso jede selbstverliebte Selbstbespiegelung, viel lieber trauert er den kleinen Bosheiten hinterher. Dass etwa künftig der „Verzehr stark riechender Speisen“ in den Wiener Öffis verboten sein soll, findet er bedauerlich – denn „dann wird keine Gelegenheit mehr sein, zu einem beispielsweise eine Semmel mit heißem Leberkäs Verzehrenden wie gestern im Nebenihm-Lehnen ganz leise zu sagen: Gut, daß ich keinen Hund hab – wie der Sie jetzt bettelnd belästigen würde!“ „Alterswerk“ sind diese Aufzeichnungen allenfalls in einem rein zeitlichen Sinne. 2017 feiert Schutting den „Tag des achtzigsten Jahresringes“, an dem ihm vor allem ein Gedanke durch den Kopf geht: „Element Erde oder Element Feuer?“ Eigentlich hatte er sich „in davon noch weit entfernten Tagen“ fürs Kremieren entschieden, doch auf „den Einwand einer Wohlmeinenden hin, nach Auschwitz käme das für sie nicht „Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen – Schutting befindet sich literaturgeschichtlich in ausgesprochen guter Gesellschaft.“ 12

REZENSION in Frage“, Feuer wieder gestrichen und Erde hingeschrieben – allerdings auf einem „unauffindbaren Blatt“! Ansonsten aber ist dieses Journal von einer Energie und Lebenszugewandtheit, von einer Weltaufmerksamkeit und einem Sprachwitz bestimmt, die bemerkenswert sind. Und es ist Keimzelle für mehr: Immer wieder finden sich eingestreut „lyrische Gebilde“, oftmals als poetische Anverwandlungen großer Vorbilder wie Wilhelm Müllers „Winterreise“, Hölderlin oder Baudelaire. Sie transzendieren für Momente die Alltagsbeobachtungen, von denen sie ihren Ausgang nehmen und zu denen sie auch wieder zurückkehren: „ich dichte nicht, da ich nichts erfinde, immer nur / Momente welcher Art auch immer festhalte“. In mehr als 50 Jahren hat dieser ruhelose Schriftsteller mehr als 50 Bücher publiziert, aber erst mit diesen „datierten Blättern“ kommt man dem Kern seines Schreibens wirklich nah: „Was ist man außer man selbst? Doch wohl nichts.“ Schutting hat sich nie irgendwelchen Moden oder Strömungen zugesellt, und diese Eigenwilligkeit manifestiert sich auch sprachlich. Viele Sätze kommen ohne flektiertes Verb aus, das Ich wird wahlweise gerne auch zum Du und zum Er. Das macht dieses Journal zu einer nicht ganz leichten Lektüre. Aber wer sich darauf einlässt, liest so etwas wie die Summa dieses großen literarischen Einzel-Gängers. Auf vertrauten Umwegen Datierte Blätter 2: 2017–2018 Von Julian Schutting Otto Müller 2024 244 S., geb., € 28,– WN187_furche.qxp_Layout 1 29.10.24 17:42 Seite 1 WESPENNEST 187 VERKEHR Die Autos, die der Futurismus verherrlichte, haben ihre Schönheit eingebüßt. Motorisierte Beweglichkeit steht heute unter dem Zeichen der «Fossil- Scham». Ein Heft über Verkehrsströme, automobile Geschichte, gerechte Mobilität und utopische Entwürfe fürs Reisen. Erhältlich im gut sortierten Buchhandel oder direkt: Wespennest, Rembrandtstr. 31/4, 1020 Wien T: +43-1-332.66.91, email: office@wespennest.at Testen Sie die Ausgabe «Verzicht» (Nr. 181) oder «Zufall» (Nr. 182) zum halben Preis oder entscheiden Sie sich für ein Abonnement zum Preis von 42,- € für 4 Hefte (2-Jahres-Abo). Als Abobeigabe stehen attraktive Prämien zur Auswahl. www.wespennest.at 13

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