REZENSION „IN DEN STADTRAUM EINGESCHRIEBEN“ IN IHREM ZWEITEN ROMAN UNTERSUCHT DIE SALZBURGER AUTORIN ANNA MARIA STADLER METAMORPHOSEN UND ERWEITERTE MÖGLICHKEITEN FÜR DAS LEBEN IM ÖFFENTLICHEN URBANEN RAUM. Von Maria Renhardt L ichter auf der Straße und in den Wohnungen bei Einbruch der Dämmerung, Vorbeieilende, Begegnungszonen, Botschaften auf Hausfassaden oder weiter draußen die langsam beginnende Stadtbrache. Das vielfältige Leben im öffentlichen urbanen Raum in den Blick nehmen und zwischen Fragen und Erinnerungen eintauchen in ein Fluidum zufällig wahrgenommener Gespräche und alltäglicher Gegebenheiten: All dies protokolliert die neue Prosa der Salzburger Künstlerin und Autorin Anna Maria Stadler, die nach ihrem Debüt „Maremma“ nun ihren zweiten Roman „Halbnah“ veröffentlicht hat. Der Titel erinnert unwillkürlich an eine filmische Einstellungsgröße, die bekanntlich den Sichtraum „Kopf bis Hüfte“ repräsentiert. Man verwendet sie, wenn menschliches Miteinander herangezoomt werden soll. Hier bleiben Dialoge aber eher im Hintergrund, weil die Außenperspektive dominiert. Den Kern des Geschehens bestimmen drei Frauen: Mira, Kata und Sarah. Sie ziehen durch diesen Text als herumstreifende und nachdenkende Figuren. Mitunter kreuzen sich ihre Wege. Nach und nach werden aus ihrem Leben Fenster freigegeben, die sich wie Puzzle teile in kurzen, durchnummerierten Kapitelsequenzen zu einem unvollständigen Bild zusammenzufügen. Selbst die Kapitelzählung unterstreicht das Ausschnitthafte, Zufällige. Das Beziehungsgeflecht der Haupt - figuren erschließt sich aus Erinnerungssplittern, die den rudimentären Rahmen für eine ebenso bruchstückhafte Vorgeschichte bilden. Katas Mutter kommt aus einem anderen Land und will sich aus einem „schwierigen Familiengefüge“ lösen. Als Alleinerzieherin schafft sie es kaum, sich und ihr Kind über Wasser zu halten, zumal sie häufig Klinikaufenthalte hat. Kata wird zu einem „Krisenpflegekind“ und in ihrer Kindheit immer wieder von Miras Familie aufgenommen. Auch heute noch wohnt sie bei Mira, wenn sie in diese Stadt kommt. Sarah hingegen steht gerade vor einer Trennung – Mira holt sie ab – und übersiedelt in ein soeben leer gewordenes Zimmer eines ehemaligen Krankenhaustraktes. Emotional hat Sarah sich bereits Benjamin zugewandt, „Stadler hebt nscheinbares unbedeutende ischen lecken aus dem luss des Geschehens und gibt all dem dadurch edeutsamkeit.“ doch eine traditionelle Verbundenheit in Form von Wohnung und Hund möchte sie nicht mehr. „Sie würden Spuren aneinander hinterlassen und haben schon damit begonnen.“ Allen drei Frauen ist gemeinsam, dass sie das Draußen als größeren Möglichkeitsraum sehen. Stadler wählt für ihre neue Prosa eine ungewöhnliche Herangehensweise. Sie erzählt ohne Plot im herkömmlichen Sinn aus immer wieder wechselnden Perspektiven. Die Handlung lässt sie zugunsten eines Blicks auf unterschiedlichste städtische Bereiche zurücktreten, wobei die Nebenschauplätze im Fokus stehen. Dabei interessiert Stadler besonders die Frage, wie der öffentliche Raum von Menschen in Anspruch genommen wird. In einer Spielart fast seriellen Erzählens nehmen ihre Figuren in erster Linie eine Beobachter- und Reflexionsrolle ein. Das ziellose Streunen durch die Stadtviertel führt vor allem auch an die Ränder, lässt die denkmalgeschützten Häuser hinter sich und konzentriert sich auf die Übergänge zu den Industriezonen. Gleise gibt es hier, zwischen denen Gras wächst, die Häuser stehen nicht mehr so dicht nebeneinander, sondern lassen „wilde Gärten“ zu. Mira begibt sich beinahe täglich nach draußen. Schon als Jugendliche hat sie sich gemeinsam mit Kata „in den Stadtraum eingeschrieben“, Einkaufszentren aufgesucht oder viel Zeit am Fluss oder im Park verbraucht. Sarah wiederum geht zum öffentlichen Badeplatz am Kanal. Während sie sich dort niederlässt und gedanklich nach einer Neuordnung ihres Lebens sucht, zieht es sie unfreiwillig in Gespräche anderer hinein. Dann stößt sie einmal auf eine verletzte Frau, die gerade Hilfe benötigt, und fährt mit ihr zur Erstversorgung. Auf ihren Streifzügen begleiten die Figuren auch Alltagssorgen. Katas Mutter wollte zu ihrer Schwester, ist aber nie bei ihr angekommen. Miras Bruder befindet sich nach einem Sturz im Krankenhaus. Hineingeschichtet in diese Wanderungen ist das Augenmerk auf alltägliches Material, das zu einem zentralen Motiv wird. Man hebt Steine auf, poliert Altes, Weggeworfenes, betrachtet Metallteile, die sich ihrer ehemaligen Funktion bereits entledigt haben und vom Wasser abgeschliffen in 4
REZENSION FÜHLER EINZIEHEN, WEITERKRIECHEN! Von Anton Thuswaldner einem veränderten Zustand sichtbar werden. Schon von ihren Eltern hat Mira gelernt, dass sich Material immer wieder umformen lässt. Besonders Kinder verfügen über die Gabe, es auf kreative Weise zweckentfremdet neu zu nutzen. Zur Sprache kommt auch der Ausschluss von Menschen aus dem öffentlichen Raum. Obdachlose werden oft zu Zaungästen und müssen mit Bedrohungen leben. Unbelebte, schwach beleuchtete Zonen gestalten sich als Angst räume für Frauen. Auch die Stille kann in kürzester Zeit ins Spektakel kippen, wenn irgendwo Schüsse für eine Feier abgefeuert werden. Dann aber gibt es Orte, die zu Knotenpunkten für die Verdichtung von Begegnungen werden. „Eine Verbundenheit, die eine Nacht lang dauert, um im Morgenlicht auszubleichen, und die dennoch trägt, in ihren Wiederholungen.“ Stadler hebt Unscheinbares, unbedeutende Nischen, Flecken aus dem Fluss des Geschehens und gibt all dem dadurch Bedeutsamkeit. Sie nimmt uns mit auf Erkundungen des öffentlichen Raums, die von Intensität und Aufmerksamkeit getragen sind. Mit ihrem langsamen, lakonischen Erzählen legt sie tiefer liegende Stadtansichten frei – sie zeigen den urbanen Kosmos in seiner Durchlässigkeit fragmentarisch und wandelbar. Illustrationen: Rainer Messerklinger E in Kind erzählt. Es erzählt nicht so, wie es einem Kind angemessen wäre, dazu ist die Sprache zu ausgefeilt. Annemarie Andre hat sich eine Kunst-Einfachheit einfallen lassen, die nahe an der Gedankenwelt der Volksschülerin und späteren Gymnasiastin bleibt. So funktioniert die Logik nach eigenen Vorgaben, in denen magische Vorstellungen noch eine Rolle spielen. Gleichzeitig ist das Mädchen zu Erkenntnissen von einem Abstraktionsgrad fähig, der erst einer Erwachsenen mit analytischem Verstand möglich ist. Ein Beispiel: Das Kind wächst ohne Vater auf, später zieht eine fragwürdige Person bei ihnen ein, Manfred, ein Trinker und Großmaul. „Manfred, Mama und ich wurden zu einer Nacktschneckenfamilie ohne Rückzugs gehäuse. Fühler einziehen und weiterkriechen.“ Eine Sprache, die nah am Empfinden des Kindes bleibt, aber von mehr Wissen durchdrungen ist, als ihm eigentlich zusteht, leistet etwas Eigenes. Sie holt es aus der Leidensmisere heraus, gesteht ihm Einsichten zu, die es nicht als Jammergestalt armselig dastehen lässt. Die avancierte Ausdrucksweise ist ein Hinweis darauf, dass wir es mit einem intelligenten Wesen zu tun haben, dem sein Durchblick hilfreiche Dienste zum Weltverständnis leistet. Die Verhältnisse, unter denen Charlotte aufwächst, weisen keine geschützte Atmosphäre auf. Die älteren Geschwister ziehen aus, die Mutter leidet nach einem Gehirnschlag unter Beeinträchtigung, dazu der dubiose Liebhaber, der sich breitmacht und eine parasitäre Existenz abgibt. Mit Freundinnen ist das auch so eine Sache. In prekären Verhältnissen aufwachsend, kann das Mädchen mit den Ansprüchen der verwöhnten Schulfreundinnen nicht mithalten, ihre Gestalt liefert obendrein Angriffspunkte für Kinder, die Schwächen anprangern. Nacktschnecken sind das Abscheusymbol im Debütroman der 1994 geborenen Niederöster reicherin Annemarie Andre. Diese Tiere zeichnen sich durch ihren Zerstörungswillen aus, der die gehegten Pflanzen der Mutter bedroht. Der Bruder bastelt eine Häckselmaschine, in der er sie grausam zerstückelt. Halbnah Roman von Anna Maria Stadler Jung und Jung 2024 176 S., geb., € 22,– Nacktschnecken Roman von Annemarie Andre Müry Salzmann 2024 220 S., geb., € 24,– 5
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