Aufrufe
vor 3 Monaten

DIE FURCHE 21.11.2024 + booklet

DIE

DIE FURCHE · 47 24 21. November 2024 Von Manuela Tomic Illu: RM MOZAIK Kommunistenohren Mit 15 Jahren wollte ich meine abstehenden Ohren anlegen lassen. Ich habe sie von meinem Vater geerbt. Dieser war strikt gegen den Eingriff. „Im Kommunismus gab es das nicht“, rief er über den Tisch, „sei froh, dass du Ohren hast.“ Ich begann in der überfüllten Pizzeria zu weinen. Unlängst rief mir ein Tauchgang meine Ohren in Erinnerung. Ich dümpelte im kristallklaren Wasser von Makarska. Über mir schimmerten Hotel-Kuben neben Einkaufszentren aus Glas. Als ich wieder auftauchte, blieb mein linkes Ohr zu. Ich hatte Salzwasser im Kopf. Der kroatische Arzt gab mir Tropfen und eine teure Rechnung. Über ihm hingen Bilder von abstehenden Ohren. Kommunistenohren, dachte ich. Daneben Preisschilder für Korrekturen. Die Tropfen halfen nur bedingt. Wenn ich einen Kapitalisten sehe, rauscht mein linkes Ohr. Vor wenigen Tagen ging ich deshalb zum Arzt. Er klemmte meine Stirn in eine Halterung und setzte den Sauger an. Es roch wie am Meer. „Sei froh, dass du Ohren hast“, hallte es in meinem Kopf. Die Behandlung war umsonst. Manuela Tomic, Autorin und ehemals FURCHE-Redakteurin, ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Von Manuela Tomic Auf alten Fotografien trägt Eugenie Schwarzwald ihr Haar wellig, gedankenversunken blickt sie in die Weite. Wahrscheinlich war sie während des Fototermins damit beschäftigt, ihre nächste Verhandlung zu führen, ihren nächsten Coup in Sachen Bildungsreformen zu landen. Denn Schritt für Schritt hat die zunächst unscheinbare Schwarzwald die Schule von heute mitbegründet. Ihr Fokus lag dabei auf der Ausbildung von Mädchen. So war zum Beispiel ihre Schule, das Mädchenlyzeum am Franziskanerplatz in der Wiener Innenstadt, die erste Einrichtung in Österreich, an der Mädchen die Matura ablegen konnten. Ihre Schule zog renommierte Lehrer aus Kunst, Musik und Wissenschaft an, darunter Oskar Kokoschka, Arnold Schönberg und Hans Kelsen. Diese intellektuelle und kreative Vielfalt machte das Lyzeum zu einer der angesehensten Bildungseinrichtungen der damaligen Zeit. Schwarzwald war überzeugt, dass der Unterricht ein spannendes Abenteuer sein kann, das die Begeisterung von Kindern weckt. In ihrem Aufsatz „Die Lebensluft der neuen Schule“ beschreibt sie, dass alle Kinder von Natur aus kreativ und genial sind und nur durch unvernünftige Erziehung und untaugliche Lehrmethoden gleichgültig werden. Damit legte sie auch den Grundstein für die Schulbildung von heute, die Kinder anregt, eigenständige Ideen zu entwickeln, anstatt sie nur zu disziplinieren. Ein freundlicher Blick Die wichtigste Rolle für den Erfolg dieser Praxis spielen für Schwarzwald Lehrerinnen und Lehrer, die als Freunde und Verbündete der Kinder agieren sollten. Ein guter Lehrer müsse die Neigungen der Kinder verstehen, das Lernen spielerisch gestalten und ihnen in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt helfen, erklärte Schwarzwald. Auch Autorität könne man nicht erzwingen; sie muss natürlich entstehen. Die Pädagogin betonte, dass Fröhlichkeit und ein freundlicher Blick für Kinder wichtiger sind als Disziplin und Strenge. Eine „fröhliche“ Schule, in der Kinder sich frei fühlen und das Lernen ohne Zwang genießen, sei entscheidend für ihre Entwicklung. Schwarzwalds Ideen machten sie so zu einer Vorreiterin im österreichischen Schulwesen des frühen 20. Jahrhunderts. Schwarzwald wurde 1872 im Kronland Galizien als Tochter von Leon Nussbaum, der ein Vermittlungs- und Plakatierungsbüro leitete, und seiner Frau Esther geboren und wuchs in einer intellektuell anregenden Umgebung auf. Ihr älterer Bruder Anton Norst war Journalist. Ihre frühe Bildung absolvierte sie in Czernowitz, bevor sie eine Lehrerinnenbildungsanstalt besuchte. Anschließend studierte sie von 1895 bis 1900 Germanistik an der Universität Zürich. Es war zu dieser Zeit die einzige deutschsprachige Hochschule, die Frauen zum regulären Studium zuließ. 1900 promovierte Schwarzwald als eine der ersten Österreicherinnen mit ihrer Dissertation „Metapher und Gleichnis bei Berthold von Regensburg“ zum Dr. phil. Am 16. Dezember 1900 heiratete sie Hermann Schwarzwald und zog nach Wien, wo sie am 1. Oktober 1901 das Mädchenlyzeum am Franziskanerplatz übernahm. Neben ihrer pädagogischen Arbeit war Schwarzwald auch eine wichtige Figur des gesellschaftlichen Lebens. Jakob Wassermann beschrieb sie in der Neuen Freien Presse vom 25. Juni 1925 so: „Sie muss Briefe schreiben, Ansprachen halten, telefonieren, bitten, betteln, zürnen, lachen, weinen, danken; sie muss Beschuldigungen widerlegen, Zweifler umstimmen, Nörgler aufheitern, Ehrgeizige vertrösten, (…) Gelangweilte ermuntern; sie lebt mit dem Zifferblatt der Uhr vor Augen und ohne Zeit im Gemüt, denn sie hat keinen Tag, und sie hat keine Nacht; ihr Tun ist pausenlos.“ Neben ihrer Arbeit als Schulleiterin war Eugenie Schwarzwald auch als Gastgeberin eines der berühmtesten Salons in Wien bekannt. Ihre Wohnung in der Josefstädter Straße, die von Adolf Loos gestaltet wurde, war ein Treffpunkt für Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle. Gäste wie Robert Musil, Elias Canetti, Rainer Maria Rilke und Alma Foto: picturedesk.com / Ullstein Bild Eugenie Schwarzwald hat ihr Leben lang für eine bessere Ausbildung von Mädchen gekämpft. Schule sollte ihrer Meinung nach ein Ort sein, der von „Lebensluft“ durchdrungen wird. Wie sie die Pädagogik von heute mitgeprägt hat – und warum sie auch Kritik einstecken musste. Visionärin der Mädchenbildung Begeisterung wecken Schwarzwald war überzeugt, dass der Unterricht ein spannendes Abenteuer sein kann, das die Begeisterung von Kindern weckt. Mahler-Werfel gaben sich dort die Klinke in die Hand. Ihre außergewöhnliche Fähigkeit, Menschen mit unterschiedlichen politischen und kulturellen Hintergründen zusammenzubringen, machte ihren Salon zu einem Zentrum des intellektuellen Austauschs und der Inspiration. Sogar Robert Musil ließ sich von Schwarzwalds Persönlichkeit für seine Romanfigur Diotima in „Der Mann ohne Eigenschaften“ inspirieren. „ Ich habe in meinem Leben nie klagen gelernt; ich war wirklich immer begeistert und geneigt, alle Dinge so lange zu drehen, bis ein Rosenschimmer von ihnen ausging. “ Während des Ersten Weltkriegs erweiterte Eugenie Schwarzwald ihr soziales Engagement. Angesichts der großen Not in Wien gründete sie Gemeinschaftsküchen, Altersund Erholungsheime sowie Einrichtungen für Lehrmädchen. Ihre humanitäre Arbeit ging jedoch über die Landesgrenzen hinaus: In der Inflationszeit nach dem Krieg gründete sie die „Österreichische Freundeshilfe für Deutschland“, die Gemeinschaftsküchen in Berlin und Erholungsheime auf dem Land betrieb. Ab 1918 richtete sie zahlreiche Heime für Kinder und Erwachsene in verschiedenen österreichischen Kurorten ein, darunter Bad Ischl, Mödling und Reichenau an der Rax. Doch Eugenie Schwarzwalds Leben war nicht nur von Erfolg und Anerkennung geprägt. Trotz ihrer weitreichenden Verdienste um Bildung und Gesellschaft erlebte sie auch die dunklen Seiten des Antisemitismus. In einem Brief äußerte sich Schwarzwald sarkastisch als „Antisemitin“, indem sie behauptete, dass Juden, auch ohne Talent oder Charakter, ihre Ziele erreichen könnten. Sie führte an, dass die „Judenfrage“ ungelöst bleibe, weil die Gesellschaft nur „schlechte Juden“ akzeptieren wolle. Diese ironische Bemerkung steht in starkem Gegensatz zu ihrem tatsächlichen Engagement für jüdische Menschen. Ihre Unterstützung war unabhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit. Als sie 1938 Österreich verließ und nach Zürich zog, trug sie sich beim Einwohneramt als „israelitische Konfession“ ein. Ihr Eigentum wurde arisiert, ihre Schule geschlossen und viele ihrer ehemaligen Schülerinnen wurden in der Shoa ermordet. Ihr Mann Hermann konnte 1938 ebenfalls in die Schweiz fliehen, starb jedoch ein Jahr später. Eugenie Schwarzwald lebte bis zu ihrem Tod 1940 im Schweizer Exil. Die Frau mit dem welligen Haar und dem gedankenversunkenen Blick galt als kritisch, aufmüpfig und herausfordernd. Doch vielleicht waren es gerade diese Eigenschaften, die sie dazu befähigten, sich in einer von Männern dominierten Bildungswelt durchzusetzen.

Nr. 83 Literaturbeilage 21. November 2024 Österreichische Post AG · WZ 02Z034113W Retouren an Postfach 555 · 1008 Wien DIE FURCHE · Hainburger Straße 33 1030 Wien · T.: (01) 512 52 61-0 HOCH IM KURS Neue Literatur aus Österreich.

DIE FURCHE 2024

DIE FURCHE 2023