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DIE FURCHE 21.09.2023

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DIE FURCHE · 38 8 Politik/Philosophie 21. September 2023 Das Gefühl des Neides (Bild: nach Pieter Bruegel dem Älteren) gilt für viele als verwerflich. Andere wiederum halten es für eine Form von Gerechtigkeitssinn. Von Anne Siegetsleitner Wenn immer bei den einen große finanzielle Ungerechtigkeiten zu Empörung über „die Reichen“ führen, wird dies von anderer Seite schnell als Neid uminterpretiert. Empörung gilt – oder tat dies zumindest bis zur abwertenden Rede von den Wutbürgern – als moralisch ehrenwert, Neid hingegen – gerade in einem katholischen Umfeld – als moralisch verwerflich. Empörung ehrt, Neid diffamiert. Empörung zählt zu den Gerechtigkeitsgefühlen. Wer wegen zu hoher Vermögens-, Schenkungsund/oder Erbschaftsbeträgen moralisch empört ist, verweist damit auf (als solche wahrgenommene) Ungerechtigkeiten. Wer gegen Ungerechtigkeiten eintreten will, wird bei einem überzeugenden Konzept höherer Steuern in diesem Bereich dieses unterstützen (und gegebenenfalls beim nächsten Urnengang entsprechend wählen). Der Umkehrschluss gilt hingegen nicht: Wer hier für ein Konzept höherer Besteuerung eintritt, kann dies auch aus anderen Motiven tun, sehr wohl auch aus Neid oder einfach der Hoffnung auf eigene finanzielle Besserstellung. Die anvertraute Gabe Der Ruf nach (höheren) Vermögens-, Schenkungs- und/oder Erbschaftssteuern findet gegenwärtig wohl nicht zuletzt deshalb großen Widerhall, weil viele Menschen verunsichert sind. Es sei nicht sichergestellt, dass sie einmal über mehr Eigentum verfügen und einen höheren Lebensstandard haben werden als ihre Eltern, wird beklagt. Wobei hier meist gemeint ist: dass es ihnen einmal besser gehen wird, als Lesen Sie hierzu das Pro und Contra unter dem Titel „Erben und Reiche zur Kasse bitten?“ (6.9.2023) auf furche.at. Hinterlassenschaften sind nicht fair verteilt. Ein staatlicher Eingriff in das „Weiterreichen von Wertvollem“ – wie es gegenwärtig viele fordern – ist aber ebenfalls riskant. Eine philosophische Abwägung. Die Reichen, die Gerechtigkeit und das Erben sie aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrung als normal erachten. Der Vergleich mit dem Lebensstandard der Eltern, als diese selbst Kinder waren, wäre bei den meisten schnell ernüchternd. So gilt es auch die Aussage, man könne sich heute nichts mehr erarbeiten und aufbauen, differenziert zu beurteilen. Wer konnte sich – sagen wir in den vergangenen siebzig Jahren – unter welchen Bedingungen etwas aufbauen? Da sah es bei den meisten düster aus. Selbst die „Häuslbauer“ bauten ihr Haus oft jahrelang Stück für Stück und zahlten ihre Kredite über Jahrzehnte hinweg ab. Das heißt nicht, dass das wünschenswerte Zustände waren. Es soll nur davor bewahren, eine vermeintlich goldene Vergangenheit, nach der nun alles schlechter werde, als Vergleich heranzuziehen. Wie „ Wenn es um das Übergeben von Wohnraum, Grund und Boden geht, kann damit auch eine ganz konkrete Verankerung und Verortung in der Welt verbunden sein. “ Bild: IMAGO / Heritage Images (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) verzerrt unsere Wahrnehmung sein kann, hat etwa Steven Pinker in vielerlei Hinsichten in seinem Buch „Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung“ aufgezeigt. Der deutsche Philosoph Stefan Gosepath fordert wiederum, die Erbpraxis gänzlich abzuschaffen. Für ihn widerspricht diese Geburtslotterie – sofern es um Familienbezug geht – seinem Verständnis von Chancengleichheit. Zur Unterstützung dieses Vorschlags wird überdies darauf verwiesen, es fehle beim Erben eine angemessene Gegenleistung. Wer davon ausgeht, dass der Lebensstandard der eigenen Leistung geschuldet sein müsse, dem widerstrebt häufig die Praxis des Erbens. Wer erbt, hat jedoch mitunter viel Verantwortung übernommen und viel geleistet, sei es innerhalb einer (traditionellen) Familie oder auch außerhalb. Wenn es ums Erben und Vererben im weiteren Sinne (juristische Differenzierungen seien hier beiseitegelassen) geht, spielt zudem eine Reihe weiterer Faktoren, die mit dieser Praxis verbunden sind, eine Rolle. Nicht umsonst handelt es sich um ein konfliktträchtiges Gebiet, das insbesondere familiäre Beziehungen schwer erschüttern kann. Wenn es um die Übergabe von Wohnraum, Grund und Boden geht, kann damit auch eine ganz konkrete Verankerung und Verortung in der Welt verbunden sein. Menschen können sich mit einem Erbe darüber hinaus dankbar zeigen, ohne das Vermögen schon zu Lebzeiten aufgeben zu müssen. Ein Erbe kann als (materielle) Zuwendung gesehen werden, ein Weiterreichen von Wertvollem, das Verbundenheit schafft, eine anvertraute Gabe. Je bedeutsamer diese für die Person war, die vererbt, umso bedeutender der Akt. Der symbolische und emotionale Gehalt des Erbens ist enorm. Die damit verbundenen Botschaften werden auch verstanden, beispielsweise die mit einem Erbe verbundene moralische Verpflichtung, etwas im Sinne der Person, deren Erbe angetreten wird, weiterzupflegen. Ein Erbe auszuschlagen, kann an Pietätlosigkeit grenzen. Wer bei der Besteuerung über kleine Beträge hinausgeht, findet sich mitten in diesem unterschwelligen Bedeutungs- und Konfliktfeld, in das viele soziale Ordnungsprinzipien eingesponnen sind. Die gängige Erbpraxis ist hierbei noch stark an eine bestimmte Vorstellung von Familie gebunden. Diesbezügliche Erbprivilegien und auch Grenzen der individuellen Testierfreiheit, Stichwort Pflichtteil, verweisen auf ein Denken im Familienverbund und festgelegte Verantwortlichkeiten, denen sich jemand selbst post mortem nicht entziehen kann. Ungleiches Erbe rüttelt wiederum am Tabu ungleicher Elternliebe, manchmal so heftig, dass das Familiengebäude einstürzt. Auf die soziale Praxis des Erbens zu verzichten, könnte einige gegenwärtige damit verbundene Nachteile und Gefahren beseitigen, würde jedoch gleichzeitig die mit ihr verbundenen Möglichkeiten entziehen. Eingriffe wirken jedenfalls auf das ganze Bedeutungsfeld, und es geht nicht einfach um das Umverteilen von Ressourcen. Bedeutungsgefüge mitdenken Die Diskussion findet gegenwärtig außerdem in einem Rahmen von zunehmend nicht nur ungleicher, sondern auch unfairer Verteilung und großen Vermögensunterschieden statt. Ein soziales und demokratisches System kann die Vermögensschere nicht zu weit auseinandergehen lassen, und der Sozialstaat braucht Beiträge aus verschiedenen Quellen. Vermögens-, Schenkungs- und/ oder Erbschaftssteuern sind eine der vielen legitimen Möglichkeiten. Ihre Wiedereinführung kann durchaus ernsthaft und mit redlichen Argumenten geführt werden. Gerade bei Erbschaftssteuern wäre es jedoch ratsam, das damit verbundene Bedeutungsgefüge mitzudenken. Die Debatte in populistischer Manier zu führen, schadet hingegen einem demokratischen System. Populismus in dem Sinne, in dem ich davon spreche, ist im Kern mit dem Anspruch verbunden: „Wir und nur wir vertreten das (wahre) Volk.“ Diesem Volk wird eine Elite gegenübergestellt, die gar nicht wirklich zum Volk gehört, in diesem Fall „die Reichen“. So schwer es angesichts von Ungerechtigkeiten, berechtigter Empörung und vielerlei weltweiten und nationalen Krisen fallen mag: Im Sinne der Demokratie sollten wir nicht (abermals) das Vermögen darüber entscheiden lassen, ob jemand zum Volk zählt oder nicht. Der Autorin ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Innsbruck.

DIE FURCHE · 38 21. September 2023 Religion 9 Von Angelika Walser ist die Idee eines anderen, die man nicht teilt“, so der französische Philosoph „Ideologie Raymond Claude Ferdinand Aron. Die Ideologiekeule ist schnell zur Hand, wenn man seinen Gegner erstens als gefährlich und zweitens als dumm entlarven will. Auch Papst Franziskus bedient sich zuweilen dieser Keule. Sie kommt bezeichnenderweise immer dann zum Einsatz, wenn es um die Verteidigung der traditionellen katholischen Geschlechterordnung geht. Nicht nur der Papst warnt in seinem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris Laetitia vor einer sogenannten Gender- Ideologie als einer Leugnung der natürlichen Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau und einer Aushöhlung der anthropologischen Grundlage der Familie. Auch dezidiert katholische Publizistinnen wie Gabriele Kuby kämpfen gegen den Genderismus. Und osteuropäische Bischofskonferenzen verteilen Warnhinweise in den Kirchenbänken oder verweigern denjenigen die Kommunion, die sich mit menschenrechtlichen Dokumenten wie der Istanbul-Konvention als Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen solidarisieren. So gefährlich ist diese angebliche Gender-Ideologie, dass Rom Theologen und Theologinnen, welche sich mit ihr auseinandersetzen, das nihil obstat oder die Lehrerlaubnis verweigert. Der Fall meines Kollegen Martin Lintner, der für behutsame Veränderungen in der Sexualmoral – insbesondere im Umgang mit Homosexualität – plädiert, geht weltweit durch die Presse und sorgt für Protest an vielen theologischen Fakultäten (vgl. FURCHE Nr. 27). Anstiftung zur Verwirrung Allen Verteufelungen zum Trotz haben die sogenannten Gender-Studies in der akademischen Theologie längst ihren fixen Platz, und das ist auch gut so. Nicht einmal der Papst selbst stellt in Abrede, dass man zwischen gender (dem sozial/soziokulturellen Geschlecht) und sex (dem biologisch-anatomischen Geschlecht) unterscheiden muss. Es liegt auf der Hand, dass Männlichkeit und Weiblichkeit eine kulturell und his torisch bedingte Vielfalt von Bedeutungsmöglichkeiten besitzen. Und es liegt auch auf der Hand, dass eine biologistische Verkürzung von Geschlechtscharakteren und Geschlechterrollen unveränderliche und feste Rollenmuster einzementiert und Männern wie Frauen gleichermaßen schadet. So spricht Franziskus in Amoris Laetitia davon, dass Männliches und Weibliches nicht „etwas starr Umgrenztes sei“ und dass sich die „männliche Seinsweise des Ehemannes“ flexibel an die Arbeitssituation der Frau anpassen könne, wenn sich der Ehemann nämlich der Kindererziehung und des Haushalts annehme. Etwaigen Versuchen, gender und sex gänzlich voneinander zu trennen, erteilt das Lehramt der katholischen Kirche allerdings eine klare Absage, und es bezichtigt die Gender-Ideologie, menschliche Identität individualistischer Wahlfreiheit auszuliefern. Auf welche der mittlerweile zahlreichen Gender-Theorien (im Plural!) sich die amtskirchliche Kritik hier bezieht, ist unklar. Vermutlich sind die Veröffentlichungen der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler gemeint, die tatsächlich in ihrer 1990 erschienenen Schrift „Gender Trouble – Feminism and the Subversion of Identity“ zur Geschlechterverwirrung anstiften wollte. Ein binnenphilosophischer und -theologischer Diskurs, den der Wiener Moraltheologe Gerhard Marschütz in einer für den November angekündigten Veröffentlichung aufrollt, belegt allerdings, dass Butlers Kritiker(innen) ihr Werk schlichtweg nicht verstanden haben bzw. wohl auch gar nicht verstehen wollen. Individualistische Wahlfreiheit steht beispielsweise gerade nicht im Fokus ihres Denkens. Vielmehr analysiert sie die Wirkmacht und Zwänge sprachlich verfasster Diskurse, welche unaufhörlich und sehr erfolgreich Erwartungen und Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit reproduzieren und damit gleichzeitig all jene ausschließen, die nicht in eine hierarchisch verfasste binäre und heteronormative Geschlechterordnung passen: Homosexuelle, Transpersonen, Intersexuelle, alle Angehörigen der LGBTQ+-Community. Wer auch nur ansatzweise den Diskurs der moraltheologischen Handbücher und Katechismen über homosexuelle Handlungen mit ihren Verurteilungen von „himmelschreiender Sünde“ bis „in sich ungeordneten Handlungen“ studiert, entwickelt sehr rasch eine Ahnung davon, dass Judith Butler zu Recht den Finger in eine offene Wunde legt. Ganz zu schweigen von der jahrhundertelangen und bis heute in vielen Ländern dieser Welt verordneten Verteufelung und Verdrängung von sexuellem Begehren, welche eine der systemischen Hauptursachen sexualisierter Gewalt ist. Keine „Störung“ oder „Krankheit“ Die Totalverweigerung jeglicher selbstkritischen Auseinandersetzung und die oft völlig verzerrte oder gar falsche Darstellung von Gender-Theorien fallen jedenfalls auf die Gender-Kritiker(innen) zurück. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie nicht ihrerseits eine Gender-Ideologie vertreten. Unter Berufung auf die Schöpfungsordnung vertritt die katholische Amtskirche ein Modell ewiger Geschlechterdifferenz, das alles sexuelle Handeln jenseits dieser Ordnung bestenfalls als Ausdruck von Krankheit, zumeist aber als sündhaft bewertet. Keinesfalls Müssen katholische Gläubige Angst vor der Erkenntnis haben, dass Gottes Schöpfung unterschiedliche sexuelle Identitäten hervorbringt? Ein Plädoyer, bei den Humanwissenschaften diesbezüglich Nachhilfelektionen zu absolvieren. „Gender“ als Ideologiekeule kommen Homosexualität, Transsexualität und Intersexualität als statistisch gesehen zwar kleine, aber geschichtlich seit der Antike in allen Kulturen belegte Normvarianten in den Blick. Aus Sicht der Humanwissenschaften sind diese moralischen Verurteilungen schon längst unhaltbar. Seit Jahrzehnten (!) wird hier sowohl auf der Ebene sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität wie auch auf der Verhaltensebene einem biopsychosozialen Modell von Sexualität Rechnung getragen, nachzulesen beispielsweise im Standardwerk über Sexualmedizin von K. M. Beier / H. A. G. Bosinski / K. Loewit. Es vermeidet unter Rückgriff auf die gängigen medizinischen Klassifikationssysteme stigmatisierende Redeweisen von „Störung“ oder „Krankheit“ und spricht etwa im Fall von Transidentität betont von Inkongruenz (Nicht-Übereinstimmung) oder Geschlechtsdysphorie. In Bezug auf Homosexualität berufen sich die Mediziner auf Alfred Kinseys legendäre Reports über sexuelles Verhalten (1948/1953). Schon damals war Kinsey von einem Kontinuum zwischen Homo- und Heterosexualität ausgegangen, das sich eindeutigen Festlegungen widersetzt. Erst unlängst hat Heinz-Jürgen Voß, Sexualwissenschafter und Sexualpädagoge an der Universität Merseburg, vor der Katholischen Akademie in Bayern von der erheblichen Schwierigkeit gesprochen, biologische Forschungen in ein binäres Geschlechterschema zu pressen. Ein Perspektivwechsel weg von zwei Geschlechtern hin zu geschlechtlicher Vielfalt sei nahezu unausweichlich. Von der DNA zur Ausbildung des Geschlechts sei biologisch-genetisch ein langer Weg zu beschreiten, und nicht zuletzt Erkenntnisse der Epigenetik würden verdeutlichen, dass die Geschlechtsentwicklung als Prozess zu denken sei, der nicht nach einem starren Lesen Sie von Angelika Walser zum Thema auch „Wir sind nicht mehr ‚zärtlich‘!“ vom 26.2.2020. Nachzulesen auf furche.at. „ Für die traditionelle katholische Sexualmoral ist die Zeit simplifizie render Eindeutigkeiten zu Ende. “ Illustration: Rainer Messerklinger Gender- Troubles Gender-Theorien bringen Kirchenverantwortliche bis heute ins Schwitzen. Nicht selten jedoch werden diese Theorien von deren Kritiker(inne)n völlig verzerrt oder gar falsch dargestellt. Muster „weiblich“ oder „männlich“ ablaufe, sondern sich nach sehr individuellen Bedingungen vollziehe und vom Einfluss äußerer Faktoren abhängig sei. Für die traditionelle katholische Geschlechteranthropologie und der auf sie gründenden Sexualmoral ist die Zeit simplifizierender Eindeutigkeiten zu Ende. Die göttliche creatio ex amore (Gott hat die Welt aus seiner Liebe heraus erschaffen) bringt offensichtlich eine vielfältige Schöpfungsordnung hervor, die der einzelnen Person den Freiraum und die Aufgabe überlässt, sexuelle Selbstbestimmung und die damit verbundene Verantwortung zu gestalten. Müssen Christgläubige vor dieser Erkenntnis ernsthaft Angst haben? Will man nicht einen neuen Fall Galileo Galilei riskieren, wird man sich humanwissenschaftlichen Befunden endlich stellen müssen. Statt die Ideologiekeule zu schwingen, wäre es nach guter katholischer Tradition hoch an der Zeit, die wissenschaftliche Nachhilfelektion zu lernen und sich im Übrigen in Demut zu üben. Die Autorin ist Professorin für Moral theologie und Spirituelle Theologie an der Uni Salzburg.

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