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DIE FURCHE 21.09.2023

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DIE FURCHE · 38 6 International 21. September 2023 FORTSETZUNG VON SEITE 5 in beide Richtungen. Eine knappe Million geflüchtete Ukrainer, die meisten Frauen, Kinder und Ältere, leben derzeit zwischen Bug und Oder. Unter ihnen ist auch Yuliia Furnyk. In den Räumen des Polnischen Roten Kreuzes in Włodawa organisiert die Psychologin kreative Workshops für ukrainische Kinder. Furnyk kam kurz nach Ausbruch des Krieges, arbeitete anfangs als Pflegerin eines älteren Mannes, seit einem halben Jahr nun hier. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter haben sie eine Wohnung im Ort angemietet. Der Staat und die Stadt, sagt sie, hätten die Ukrainer gut aufgenommen, „aber es gibt Menschen, die schlecht über uns reden, und es gibt Menschen, die offen sind. Inzwischen fühle ich dennoch, dass Włodawa zu meiner Stadt geworden ist. Aber hier dauerhaft bleiben? Nein. Wenn der Krieg zu Ende geht, werden wir zurückgehen. Wir haben zwar Arbeit, aber mein Mann war in der Ukraine Bauingenieur. Hier verlegt er Pflastersteine.“ „Raketen töten bei uns Menschen“ Es geht weiter Richtung Süden. Entlang der Grenze. Seitens der Einheimischen hört man immer wieder Sätze wie „Wir akzeptieren die Ukrainer deshalb, weil sie arbeiten und nicht dem Staat auf der Tasche liegen wollen“. 60 Kilometer vor dem Grenzdreieck liegt der nördlichste Grenzübergang zwischen der Ukraine und Polen – Dorohusk. Es wäre ein verschlafenes Dorf, wäre da nicht der riesige Güterbahnhof, durch den ein Teil des Handels zwischen beiden Ländern abgewickelt wird. Seit vergangenem Jahr ist die Grenze nur für Lkws und den Zugverkehr geöffnet. Ein ukrainischer Fahrer, der die langen Wartezeiten gewohnt ist, macht einen Spaziergang in den Dorfladen. „Ich fahre aus der Ukraine ins polnische Posen und dann zurück. Ob es gefährlich ist? Raketen töten Oben: ein Kreativworkshop für ukrainische Kinder. Unten links: polnische Soldaten beim Besuch der Gedenkstätte Sobibor. Unten rechts: PiS- Politiker Wiesław Holaczuk. bei uns Menschen. Ja, es ist gefährlich“, sagt er und dreht sich um. Er wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Radosław Walczuk lebt in der Grenzgegend bei Dorohusk. „Ich kann nichts Schlechtes über die Ukrainer sagen, ich habe schon vor dem Krieg mit einigen zusammengearbeitet.“ Zu den Menschen an der belarussischen Grenze – er bezeichnet sie „ Wir warnen nachdrücklich vor der Instrumentalisierung für politische Spielchen und der Bildung fremdenfeindlicher Einstellungen. “ Ein Vertreter der katholischen Kirche Polens als „Masse“ –, vor allem den Muslimen, hat er eine andere Meinung: „Sie zeigen in den Staaten des Westens, wie sie sind. Ich war neulich in Frankreich, und da erzählten mir die Franzosen, welche Pro bleme sie mit den Muslimen haben. Es ist eine andere Kultur, außerdem, was soll man da viel diskutieren: Sie wollen ja sowieso nicht zu uns, sondern in den Westen, aufgrund der Sozialhilfe.“ Ob er denn selbst einen Muslim kenne? „Ja, einen Marokkaner hier im Ort, er hat eine Polin geheiratet. Ein ordentlicher Mann, er arbeitet die ganze Zeit ganz normal.“ Dann erklärt er weiter: „Ich kann all diese Flüchtlinge verstehen. Sie fliehen vor Kriegen; vor anderen Kriegen.“ Fotos: Jan Opielka Zwischen Dorohusk und Włodawa, nur wenige Kilometer vom Länderdreieck Polen/Ukraine/ Belarus entfernt, liegt das ehemalige Vernichtungslager Sobibor. In dem Lager wurden in den Jahren 1942/43 rund 250.000 Menschen ermordet, meist Juden, auch jene rund 7000, die vor dem Krieg in Włodawa lebten. Nur wenige konnten aus dem Lager, heute eine Gedenkstätte und von dichten Wäldern umgeben, fliehen. Einige wurden von in dieser Gegend lebenden Polen denunziert, andere fanden bei Einheimischen Unterschlupf und wurden gerettet, ihre Helfer werden heute als „Gerechte unter den Völkern“ bezeichnet. Diese zeigt die polnische Regierung gerne als patriotisches Aushängeschild – zuletzt vor allem die Familie Ulmer aus der weiter südlich liegenden Region Podkarpackie. Die Familie wurde wegen des Versteckens von Juden von den Nationalsozialisten ermordet. Am 10. September sprach die katholische Kirche die gesamte Familie Ulmer selig – das Staatsfernsehen berichtete ausführlich darüber. Die katholische Kirche Polens gilt als enge Verbündete der Regierenden, doch zu den Flüchtlingen an der belarussischen Grenze fanden Vertreter zuletzt überraschend deutliche Worte. „Wir warnen nachdrücklich vor der Instrumentalisierung für politische Spielchen und der Bildung fremdenfeindlicher Einstellungen. Die geschaffenen flüchtlings- oder einwanderungsfeindlichen Narrative [...] nehmen den Flüchtlingen und Migranten ihre Menschenwürde.“ Auch sollten „Ideen der klugen Gastfreundschaft und Solidarität […] nicht zum Gegenstand von Referenden gemacht werden“. Schwarze rezitiert „Vater unser“ Die Regisseurin Agnieszka Holland ist nicht die Erste, die erstaunliche Parallelen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges sieht. Doch durch ihre Bekanntheit werden Schilderungen wie diese nun umso sichtbarer. „Ich war beeindruckt von der Erzählung einer Aktivistin, wie sie in einem Auto durchsucht wurde, als der Wachmann fragte, ob ‚diese schwarze Frau‘, die neben der Fahrerin saß, Polnisch sprach. Und die schwarze Frau begann das ‚Vater unser‘ zu rezitieren. Für mich war das schockierend, und mir war klar, dass ich diese Szene in den Film einbauen musste, aber meine jungen Mitarbeiter brachten das überhaupt nicht mit dem Krieg in Verbindung, als Juden im Versteck katholische Gebete lernen mussten, um zu überleben.“ Die Helfer an der Grenze, sagt Holland, werde man in einigen Jahrzehnten ebenfalls als Gerechte titeln. Nur hilft dies vielen heutigen Flüchtigen wenig. Weiter denken DER FURCHE PODCAST Der Podcast zur FURCHE-Serie Der Krieg in der Ukraine will kein Ende nehmen. Aber kann der Mensch mehr als Konflikt und Gewalt? Diese Frage stellt DIE FURCHE in ihrer Serie „Krieg & Frieden“. In der ersten Folge geht es um die Macht der Empathie. Die gesamte FURCHE- Serie zum Thema „Krieg und Frieden“ können Sie hier nachhören: furche.at/ podcast

DIE FURCHE · 38 21. September 2023 International 7 Marokko hat nach den schweren Erdbeben im Land die Hilfsangebote vieler Staaten ausgeschlagen. Experten sehen darin eine politische Botschaft. Nur jene Staaten, die den Anspruch Rabats auf die Westsahara anerkennen, wurden in die Krisengebiete vorgelassen. Opfer bewusst in Kauf genommen Von Manuel Meyer • Madrid wird jederzeit helfen, wo in den Kata stro phengebieten Marokkos Hilfe benötigt wird“, erklärte Bundeskanzler Karl Nehammer „Österreich wenige Stunden nach Bekanntwerden des Erdbebens in Zentralmarokko – und verwies unter anderem auf die WASH-Tools („Water, Sanitation and Hygiene Promotion“) des Österreichischen Roten Kreuzes, die jederzeit angefordert werden könnten. Allerdings: Rabat wollte die Hilfe aus Österreich gar nicht. Ebenso wenig nahm es die Hilfsangebote von Frankreich, Deutschland, den USA oder Israel an – und jene des Nachbarlands Algerien schon gar nicht. Trotz der Dimension der Zerstörung und fast 3000 Todesopfern akzeptierte Marokko bisher nur von vier „befreundeten“ Ländern Unterstützung: Spanien, Großbritannien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Was steckt dahinter? Die offizielle Begründung: Man erwarte einen „kontraproduktiven“ Mangel an Koordination unter den ausländischen Hilfstrupps, setze in den Katastrophengebieten auf das heimische Heer. Doch das geriet längst an seine Grenzen. Haizam Amirah Fernández, Politikexperte für die arabische Welt am spanischen „Real Instituto Elcano“ (einem renommierten politischen Thinktank) bezeichnet die Argumente der marokkanischen Regierung als „vorgeschobene Scheingründe“. „Der wahre Grund ist zum Leid der Bevölkerung ein geopolitischer“, ist der Maghreb-Experte überzeugt. „Von Ländern, die nicht den marokkanischen Anspruch auf die Westsahara anerkennen, will Rabat keine Hilfe annehmen. Das ist eine politische Botschaft.“ Foto: APA / AFP / Fethi Belaid UN fordert seit 1975 den Rückzug Nachdem Spanien seine Kolonie im Süden Marokkos 1975 im Zuge des internationalen Dekolonisierungsprozesses der Vereinten Nationalen (UN) verließ, annektierte Marokko einfach große Teile des Gebiets. Seither fordert die UN den Rückzug Marokkos aus der Westsahara, wo die Frente-Polisario-Befreiungsfront bis heute für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpft. Doch Rabat denkt gar nicht daran, die menschenleere Wüstenregion mit gerade einmal einer halben Million Einwohnern aufzugeben, die fast so groß ist wie Marokko selbst. Hier schlummert neben großen Erdölfeldern das größte Phosphatvorkommen der Welt. Zudem sind die Gewässer der Atlantikküste hier besonders fischreich, und die Küste hat großes Potenzial für Sonnen- und Windenergie. So definiere sich Marokkos Außenpolitik fast ausschließlich über den Westsahara-Konflikt, sagt Maghreb-Experte Amirah Fernández. Und hierbei teilt Rabat die Länder klar in „Freunde“ und „Feinde“ ein. Das bekam auch Deutschland Anfang 2021 hart zu spüren. Das Königreich rief sogar seine Botschafterin in Berlin zurück nach Rabat, da Deutschland nicht dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump in der Anerkennung der marokkanischen Hoheitsrechte über die Westsahara folgen wollte und das Thema sogar in den UN- Sicherheitsrat einbrachte, wo sich Berlin mit den meisten anderen EU-Staaten – unter anderem Österreich – für eine UN-Lösung des Westsahara-Konflikts aussprach. Dieser Haltung zum Trotz erkannte Trump Marokkos Anspruch auf die Westsahara an. Im Gegenzug gab es wirtschaftliche Vorteile für seine und andere US-Unternehmen in Marokko und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel. Da Trumps Nachfolger, US-Präsident Joe Biden, aber zur alten Linien der UN-Lösung zurückgerudert ist, lehnte Rabat Erdbebenhilfe aus den USA und Israel plump ab. Der Westsahara-Konflikt überschattet auch die Beziehungen zu Frankreich, da Paris ebenfalls nicht ausdrücklich Marokkos Autonomieplan für die Region unterstützt. In letzter Zeit verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den beiden Staaten aber noch weiter: Frankreich nähert sich Marokkos Erzfeind Algerien an, um Alternativen zum russischen Gas zu finden. Zwei Jahre zuvor beschuldigte Paris zudem Marokko, das Handy von Präsident Emmanuel Macron abzuhören, und schränkte die Visa für Marokkaner drastisch ein. Das wiederum führte zum Bruch zwischen dem französischen Präsidenten und dem größtenteils in der Nähe von Paris lebenden marokkanischen König Mohammed VI. Insbesondere Letzteres sei ein bedeutsamer Punkt, sagt Experte Amirah Fernández: „In Marokko passiert nichts ohne die Genehmigung des allmächtigen Monarchen. Welche Länder Hilfstrupps ins Erdbebengebiet schicken durften und welche nicht, ist auch auf seine Entscheidung zurückzuführen.“ „ In der menschenleeren Wüstenregion schlummert neben großen Erdölfeldern das größte Phosphatvorkommen der Welt. Zudem hat die Atlantikküste großes Potenzial für Sonnenund Windenergie. “ KLARTEXT Einfrierungen Suche in Trümmern Einheimische Feuerwehrleute suchen im Dorf Imi N’tala im Atlasgebirge – es wurde komplett zerstört – nach Opfern. Beobachter gehen davon aus, dass mehr Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die Regierung verstärkt auf ausländische Hilfsangebote gesetzt hätte. Wie radikal Marokko seine Ansprüche auf die Westsahara verteidigt und der Konflikt Rabats Außenpolitik dominiert, wird auch am Beispiel Spanien deutlich: 2021 setzte Marokko überraschend die Grenzkontrollen zur spanischen Nordafrika- Exklave Melilla aus und winkte praktisch 10.000 Migranten nach Europa durch. Es kam zu chaotischen Zuständen. Der Auslöser: Spanien ließ den an Krebs erkrankten Polisario-Führer Brahim Galli in einem spanischen Krankenhaus behandeln. Marokko ist sich bewusst, wie abhängig Spanien davon ist, dass Marokko die sensible EU- Außengrenze kontrolliert. Schließlich machte Regierungschef Pedro Sánchez im März 2022 eine 180-Grad-Wende im Westsahara-Konflikt und unterstützte plötzlich Rabats Lösung für die ehemalige Kolonie. Aus diesem Grund ist Spanien nun wieder ein „befreundeter“ Staat und durfte Hilfstrupps schicken. So wie Großbritannien, das den marokkanischen Autonomieplan für die Westsahara prinzipiell unterstützt und zudem Marokkos größter Handelspartner ist. Natur ka tastro phen sind eigentlich nichts Politisches, heißt es so oft. In Marokko ist das anders. Normalerweise hört man im recht autoritären marokkanischen Königreich eher selten öffentliche Kritik an der Krone und der Regierung. Doch die Menschen in der Erdbebenregion sind verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Erst vier Tage nach der Tragödie machte sich Mohammed VI. überhaupt in das Krisengebiet auf. Regierungsvertreter warten traditionell ehrfürchtig und treten erst nach dem nahezu allmächtigen Monarch in Aktion. Nachdem die marokkanische Regierung jedoch in sozialen Medien ungewohnt stark dafür kritisiert wurde, nur bedingt Hilfe aus dem Ausland anzunehmen, hat Rabat beziehungsweise der König nun ein erstes eigenes Hilfsprogramm für die Menschen im Erdbebengebiet angekündigt. Die obdachlos gewordenen Bewohner sollen in provisorischen Unterkünften oder Aufnahmezentren untergebracht werden, die vor Kälte und schlechtem Wetter schützen. Es wurden auch Soforthilfen von rund 2750 Euro für von der Erdbebenkatastrophe betroffene Haushalte angewiesen. Für komplett eingestürzte Gebäude soll es rund 12.800 Euro geben. Ein Tropfen auf den heißen Stein in einer Region, wo kaum noch ein Stein auf dem anderen liegt. Von Manfred Prisching Das Entsetzen über das grausige Ukra ine- Ereignis nimmt mit der Zeitdauer ab, wenn man nur weit genug entfernt ist. Aber da Putins Blitzübernahme gescheitert ist und selbst sein konventioneller Krieg steckenbleibt, hat er eine verbliebene Perspektive: aussitzen, bis ein Trumpoid an die Macht kommt. Dann sind die Amis weg, und die Europäer werden wankel mütig. Das Gegenbild bei den Ukrainern: durchhalten, bis bei den Russen Sicherheitsorgane revoltieren und den Führer beseitigen. Was kommt dann? Wie so häufig wird das Ziel das „Einfrieren“ eines ungelösten Gewaltkonflikts sein. Ein Waffenstillstand an vereinbarten Grenzen. Kein wechselseitig akzeptierter Kompromiss, sondern Misstrauen, Übergriffe, Belauern. Stabilisierung durch Garantien von außen. Aufrüstung und Wachsamkeit. Solche frozen conflicts finden sich vielerorts. Ziemlich frostig zwischen Nord- und Südkorea. Ein prekärer Zustand auf dem südlichen Balkan. Stabiler in Zypern. Brisant in den südlichen Teilen der Ex-Sowjetunion. Nicht gänzlich eingefroren, sondern im ständigen Scharmützelstatus in der Israel-Palästina-Konstellation. Man kann aber auch die Nachkriegssituation Europas aus der vermeintlichen Friedenssituation in den Gefrierstatus hinunterstufen; schließlich liefen bewaffnete Grenzzäune quer durch die Landschaft. Dass die Europäer diese Lage als dauerhaft erreichten Friedenszustand wahrgenommen haben, war ein geschöntes Bild. Diese Illusion wurde durch die Ukraine zerstört. Aber mit geringerer europäischer Aufmerksamkeit wurde schon vorher andauernd geschossen und gebombt: Syrien, Libyen, Jemen, Zentral afrika, andernorts. Man lernt, dass „Frieden“ normalerweise als Kriegspause verstanden werden kann – und temporär eingefrorene Feind seligkeit als Desiderat. Welch eine Welt! Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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