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DIE FURCHE 21.09.2023

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DIE FURCHE · 38 22 Wissen 21. September 2023 Das Erneuerbare-Wärme-Gesetz wackelt. Braucht es – wie geplant – den ehestmöglichen Abschied von Gasheizungen? Oder ist „grünes Gas“ eine erneuerbare Alternative für alle? Eine Debatte. Radikale Wärmewende? Illustration: Rainer Messerklinger Foto: iStock/ Rocco-Herrmann (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Von Manuela Tomic MOZAIK Teufelsbraten Vor jedem Arztbesuch wickelte Mutter Opa Ivos Kalbsbraten in Aluminium und legte ihn in den Plastiksack neben Wiener Kaffee, Zuckerwürfeln und einer kleinen Flasche Schnaps. Der dicke Arzt öffnete die Tür, blickte in das Wartezimmer, das voller hustender Erwachsener und plärrender Babys war. Er roch Mutters Braten und erspähte die Opfergabe. Er rieb sich die fleischigen Finger und bat Mutter freudig, als Erste hereinzukommen. Kalbfleisch war in Jugoslawien ein wortwörtliches Schmiermittel. Als meine 24 Jahre junge Mutter schwer erkrankte, musste sich Ivo ganz besonders ins Zeug legen, um das zarteste Fleisch zuzubereiten. Unzählige Kilo Kalbfleisch und viele Arzttermine später wurde Mutter schließlich in Zagreb am Magen operiert. Sie überstand den gefährlichen Eingriff. Vater und Schwester besuchten sie im Spital. Als sie wieder zu Kräften kam, befahl der Arzt ihr, sie dürfe nie wieder schwanger werden, da dies lebensbedrohlich sei. Dann wünschte er ihr alles Gute. Mutter wurde wieder gesund, und Ivo konnte das gesamte Kalb für seine Gäste im Gasthaus verbraten. Mit 27 wurde Mutter trotz ihrer großen Narbe schwanger und die gesamte Familie panisch. Neun Monate später, an einem heißen Julitag, kam ich, ein wahrer Teufelsbraten, im Entbindungsheim Jezero in Sarajevo zur Welt. Das Kalbfleisch hatte Mutters Leben gerettet und mir meines geschenkt. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. PRO Von Johannes Schmidl Henry Kissinger brachte in einem Zeit-Interview anlässlich seines 100. Geburtstags das Dilemma des politisch Tätigen auf den Punkt: „Besteht er in jedem Moment auf absoluten Prinzipien, wird er die Möglichkeiten einer Gesellschaft überfordern und sie radikalisieren. Ist er nicht bereit, die Gesellschaft zu fordern, wird er nicht in der Lage sein, sie auf die Zukunft vorzubereiten.“ Das hier geforderte Augenmaß schien jüngst „ Dass alle Öl- und Gasheizungen mit erneuerbaren Ölen und Gasen betrieben werden könnten, ist ein weiteres Versprechen, das Österreich brechen wird. “ verlorengegangen zu sein, als ÖVP-Energiesprecherin Tanja Graf im Kurier über das Erneuerbare-Wärme-Gesetz (EWG) sagte, es sei „von der Struktur her falsch aufgebaut, man habe nicht alles mitgedacht“. Seit über einem Jahr ist dieses Gesetz fertig, was insofern keine politisch „gmahte Wiesn“ war, als die Raumwärmeversorgung eigentlich Sache der Bundesländer ist. Dennoch ist es gelungen, in monatelangen Verhandlungen Einigkeit zwischen neun Länderpositionen und den Vorstellungen des Klimaschutzministeriums herzustellen. Im November 2022 wurde das Gesetz auch im Ministerrat von beiden Regierungsparteien beschlossen. Das Gesetz regelt den stufenweisen Ausstieg aus Ölheizungen bis 2035 und aus fossilem Erdgas zum Heizen bis 2040. Im Parlament braucht es noch die Zustimmung von zumindest zwei Dritteln der Abgeordneten. So weit, so klar und unfertig: Was lange währte, hat immerhin noch ungefähr zwölf Monate Zeit, um in dieser Legislaturperiode beschlossen zu werden. Was Frau Graf damit meinte, das Gesetz sei „falsch aufgebaut“, sagte sie nicht. Man darf vermuten, dass es ihr um „Technologie und Innovation statt Regulierungen und Verbote“ ging. Dieser Slogan wird oft verwendet, wenn politisch Verantwortlichen der Mut fehlt, die von Kissinger skizzierten notwendigen Forderungen an eine Gesellschaft zu stellen. Dann muss die Ausrede herhalten, es werde sich alles irgendwie von selbst lösen, wenn man die Innovationskraft der Wirtschaft nicht durch Regulierungen und Verbote behindere. Diese Erzählung lässt sich leicht kommunizieren, denn das Wort „Verbot“ hat einen schlechten Beigeschmack. Und sie wird auch von jenen Seiten geteilt, die bestehende Geschäftsmodelle beibehalten wollen und versprechen, sie würden diese – als Gegenleistung für den Verzicht auf Regulierungen – quasi „ergrünen“ lassen. Schon um den heute von der Industrie benötigten Wasserstoff klimafreundlich zu produzieren – im Moment verursacht die Wasserstoffproduktion hohe Emissionen an Treibhausgasen –, wird man enorme Mengen an erneuerbarem Strom benötigen. Gibt es Wasserstoff irgendwann hoffentlich über den gegenwärtigen Bedarf hinaus, wird ihn primär die Industrie benötigen, um die Stahlproduktion in Österreich von Kohle auf Wasserstoff umzustellen, um Glas zu schmelzen und für hohe Temperaturen bestimmter Prozesse. Und um den europäischen Flugverkehr auf erneuerbare Flugtreibstoffe umzustellen – dazu gibt es einen Beschluss der EU –, wird man alle Mengen an erneuerbaren Treibstoffen benötigen, die die E-Fuels-Branche in absehbarer Zeit liefern kann. Die bescheidenen Temperaturen, die man für den Raumwärmebereich und das Warmwasser benötigt – immerhin rund 30 Prozent des österreichischen Endenergieverbrauchs –, erreicht man leicht mit Solarkollektoren und Wärmepumpen, geothermischer Energie und Passivhaustechnik. Diese Lenkung der Energieträger dorthin, wo sie hingehören, würde das EWG vornehmen. Wir dürfen wertvolle („hochexergetische“) Energieträger nicht für Dienstleistungen verschwenden, für die man sie nicht benötigt, sonst werden wir für diejenigen Anwendungen, wo wir sie wirklich brauchen, zu wenig haben. Selbst die optimistischsten Potenzialstudien erreichen nicht annähernd jene Mengen an erneuerbaren Gasen, um damit den aktuellen Bedarf Österreichs zu decken. Für die Bedürfnisse in der Industrie und in Kraft-Wärme-Kopplungen würden sie aber knapp reichen. Drohende Kosten: Fünf Milliarden Euro Jetzt zu behaupten, es müsste sich nichts ändern, weil in Zukunft Wasserstoff und E-Fuels für alle und alles in ausreichender Menge und zu vertretbaren Kosten zur Verfügung stehen würden, ist falsch. Die Ankündigung, alle Öl- und Gasheizungen könnten mit erneuerbaren Ölen und Gasen betrieben werden, ist der beste Weg zu einem weiteren Versprechen, das Österreich brechen wird. Dann wird es – am Vorabend von 2040, wo wir eigentlich klimaneutral wirtschaften sollen – heißen: „Ist sich wieder einmal nicht ausgegangen.“ Leider wird das ein kostspieliges Erwachen geben, da für nicht vermiedene Emissionen Zertifikate erworben werden müssen. Erste Schätzungen des Finanzministeriums lagen bei Kosten von rund fünf Milliarden Euro. Der Autor ist Energieexperte (u. a. „Erneuerbare Energie Österreich“) und Buchautor. Lesen Sie zu diesem Thema von Johannes Schmidl auch: „E-Fuels: Unerbittliche Grenzen“ (25.4.2023) auf furche.at.

DIE FURCHE · 38 21. September 2023 Wissen 23 DAS ERWARTET SIE IN DEN NÄCHSTEN WOCHEN. CONTRA Die FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben folgende Themen* in den Fokus: Von Michael Mock Zuletzt hat die Diskussion über das Erneuerbare-Wärme-Gesetz (EWG) und eine mögliche Novellierung des Gesetzesentwurfes die Öffentlichkeit beschäftigt. Es ist jedoch sinnvoll, die Regelungen des Gesetzesentwurfes, die auch den künftigen Einsatz von Gasheizungen im Raumwärmebereich betreffen, zu überdenken. Der Fachverband Gas Wärme hat bereits darauf hingewiesen, dass er ein generelles Verbot von Gasheizungen, das nicht zwischen dem Einsatz von grünem Gas und fossilem Gas unterscheidet, ablehnt. Die Möglichkeit des Weiterbetriebs von Gasheizungen mit grünem statt fossilem Gas in Gebieten, in denen keine Fernwärmeversorgung geplant oder möglich ist, wird begrüßt. Der Betrieb sollte jedoch auch bei der Erneuerung von Heizungsanlagen (z. B. Austausch des Gaskessels) sowie beim Kesseltausch von Öl auf Gas möglich sein. Ein möglichst hoher Einsatz von grünem Gas im Wärmesektor ist notwendig, da die Nutzung erneuerbarer Gase eine unabdingbare Voraussetzung für eine kosteneffiziente Dekarbonisierung unseres Energiesystems ist und so zur Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen in der Bevölkerung beiträgt. Im Gegensatz zu einer starken Elektrifizierung des Raumwärmesektors, zum Beispiel durch den massiven Einsatz von Wärmepumpen, kann beim Einsatz von Biomethan und erneuerbarem Wasserstoff in innovativen Gasheizsystemen die bestehende Erdgasinfrastruktur – ein Gasnetz von über 40.000 Kilometer Länge, Untergrundgasspeicher sowie Endkundengeräte (ohne teuren Umbau) – weiter genutzt werden, und es müssen keine neuen technischen Lösungen gefunden werden, deren Umsetzung nicht einfach sein wird. Ein Kritikpunkt bezieht sich hier auf die geringen Mengen, die aktuell als Biomethan in das Gasnetz eingespeist werden. Es ist richtig, dass derzeit nur ein geringer Teil der hohen inländischen Potenziale zur Erzeugung von Biomethan oder Wasserstoff genutzt wird. Konsens in Studien ist, dass Biomethan aus inländischer Biomasse den Gasbedarf der Haushalte decken kann. Für die Energiezukunft Österreichs ist entscheidend, das enorme heimische Biomethanpotenzial zu heben und noch viel mehr grünes Gas aus landwirtschaftlichen Abfällen und fester Biomasse zu gewinnen. Wir benötigen jetzt große industrielle Biogasanlagen, die kosteneffizient produzieren. Ähnlich bei der Erzeugung von erneuerbarem Wasserstoff: Projekte, bei denen Wasserstoff in Elektrolyseanlagen mit regenerativem Strom im großen Maßstab erzeugt werden soll, befinden sich erst in der Planungs- bzw. Umsetzungsphase, liefern aber noch keinen Wasserstoff für Industrie, Stromerzeugung in Kraftwerken oder Mobilität. Es darf aber nicht übersehen werden, dass durch die Forschung wichtige Grundlagen für die effiziente Erzeugung von Biomethan und erneuerbarem Wasserstoff sowie für den sicheren Transport erarbeitet wurden. Damit lässt sich in großen industriellen Biogasanlagen kostengünstig Biomethan aus Reststoffen erzeugen. Der Regulierungsbehörde E-Control wurden bereits Pläne für das künftige Wasserstoffnetz vorgelegt, das ebenso weitgehend auf der bestehenden Erdgasinfrastruktur basiert. Auch das Regelwerk der Österreichischen Vereinigung für das Gas- und Wasserfach wurde angepasst, sodass künftig ein Anteil von zehn Prozent Wasserstoff im Gasnetz transportierbar ist: ein erster wichtiger Schritt auf dem von der Gaswirtschaft erarbeiteten Transformations pfad der Infrastruktur für eine klimaneutrale Gasversorgung bis 2040. Auf EU-Ebene werden derzeit Rahmenbedingungen erarbeitet, die helfen sollen, das Ziel „Fit for 55“ bis 2030 (Reduktion der Treibhausgasemissionen um 55 Prozent gegenüber 1990) zu erreichen. Dabei ist auch der verstärkte Einsatz von erneuerbaren Gasen in der Industrie, im Schwerverkehr und in Gebäuden vorgesehen. So wichtig diese gesetzlichen Weichenstellungen auf EU-Ebene sind, eines ist noch wichtiger: Wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass wir die Dekarbonisierung der Energieversorgung wirklich wollen. Auch wenn die Dekarbonisierung durch den Einsatz erneuerbarer Gase in Industrie, Wärme und Verkehr kostengünstiger erreicht werden kann als durch starke Elektrifizierung, ist zunächst mit höheren Kosten als im bisherigen fossilen System zu rechnen. Die Politik muss daher Mut und Bereitschaft aufbringen, die finanziellen Mittel für diese gewaltige Aufgabe bereitzustellen und dies auch gegenüber den Wähler(inne)n zu vertreten. Strom- und Gasinfrastruktur ergänzen einander und gewährleisten gemeinsam eine klimafreundliche und bezahlbare Energieversorgung. „ Für die Energiezukunft Österreichs ist es entscheidend, noch viel mehr grünes Gas aus landwirtschaftlichen Abfällen und fester Biomasse zu gewinnen. “ Der Autor ist Geschäftsführer des Fachverbands Gas Wärme. „Der schwierige Sonnenaufgang“ (10.3.2016): Martin Tauss über die EU- Wärmestrategie, auf furche.at. Mädchen Nr. 40 • 5. Oktober 2023 Mädchen müssen einerseits viele gesellschaftliche Erwartungen erfüllen, andererseits sind sie in Teilen der Welt immer noch von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Ein Fokus zum Weltmädchentag am 11. Oktober. Der Süden Nr. 42 • 19. Oktober 2023 Die FURCHE nimmt die nächste Himmelsrichtung in den Fokus: Vom „globalen Süden“ über die Südhemisphäre bis hin zum Südpol gilt es, politisch, geografisch oder geschichtlich unterschiedliche Aspekte zu beleuchten. Häfen-Elegie Nr. 44 • 2. November 2023 Kein Ende der Klagen über den Strafvollzug: zu viel Wegsperren, zu wenig Resozialisierung. Während Radikalisierung, Gewalt- und Drogenprobleme wachsen, schrumpft der Jugendvollzug. Was ist zu tun? Der Osten Nr. 46 • 16. November 2023 Kitsch, Korruption, Kommunismus: Der Osten ist mit unzähligen Narrativen versehen. Noch heute gilt er als Gegenstück zu Kapitalismus und Konsum. Aber was steckt hinter den Klischees? Und was macht den Osten heute aus? Alltägliches Glück Nr. 48 • 30. November 2023 Die meiste Zeit verbringen wir darin: im Alltag. Wie lässt er sich gut gestalten? Ein Fokus frei nach Marcel Proust: „Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.“ Der Norden Nr. 50 • 14. Dezember 2023 Bekommt der Norden angesichts der Erderwärmung einen neuen (wirtschaftlichen) Stellenwert? Und: Warum ist in puncto Mode und Mobiliar alles en vogue, was im hohen Norden kreiert wurde? Eine erfrischende Spurensuche. *Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. Slowenien Nr. 41 • 12. Oktober 2023 Von 18. bis 22. Oktober 2023 präsentiert sich Slowenien als Ehrengast auf der alljährlichen Frankfurter Buchmesse. Aus diesem Anlass blicken wir ins Nachbarland: Was tut sich politisch? Was tut sich literarisch? Versagte Erinnerung Nr. 43 • 25. Oktober 2023 Vor 85 Jahren bildeten die Novemberpogrome 1938 den Auftakt zur Schoa. Heute bricht sich recht(sradikal)es Gedankengut erneut ungeahnte Bahnen. Hat das Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten versagt? Schätze der Natur Nr. 45 • 9. November 2023 Ökosysteme erbringen auch aus wirtschaftlicher Sicht gigantische „Leistungen“. Welche Ansätze gibt es gegen den Verlust der biologischen Vielfalt? Ein Fokus zu den „Tagen der Biodiversität“ an der BOKU Wien. Im Wechsel Nr. 47 • 23. November 2023 Sie sind eine oft gefürchtete Phase des Umbruchs, ein neuer Lebensabschnitt, der an kaum einer Frau spurlos vorübergeht: die Wechseljahre. Wir beleuchten ein vielschichtiges Phänomen – auch bei Männern. Die Gabe Nr. 49 • 7. Dezember 2023 Vor Weihnachten greift eine große Frage um sich: Wem was schenken? Was bedeutet diese Gewohnheit heute noch? Und woher kommt sie eigentlich? Ein Streifzug durch Geschichte und Gegenwart. Last Christmas Nr. 51/52 • 21. Dezember Aus der Populärkultur ist Weihnachten nicht wegzudenken – das zeigt sich auch an Songs von „Last Christmas“ bis „Feliz Navidad“. Oft ist es einer der letzten religiösen Ankerpunkte in säkularisiertem und kommerziellem Umfeld. ALLES AUCH DIGITAL AUF FURCHE.AT Podcasts, Videos, E-Paper und alle FURCHE-Artikel seit 1945 JETZT 77 Jahre Zeitgeschichte im NAVIGATOR.

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