DIE FURCHE · 38 20 Film & Medien 21. September 2023 FILMMELODRAM Erinnerung per Pille Günther Maria Halmer und Senta Berger spielen ein Paar, das nach 50 Jahren Ehe einen neuen Kick sucht. Weißt du noch? Die richtig guten Kinofilme über das Altwerden, über lange Ehen, die damit verbundenen Probleme? Der tief berührende „An ihrer Seite“ (2006) von Sarah Polley zum Beispiel, in dem die wunderbare Julie Christie die an Alzheimer erkrankte Fiona spielt, deren liebender Mann Grant sie in die ärztliche Betreuung in einem Altersheim geben „muss“, wo sie ihn immer mehr „vergisst“. Oder „About Schmidt“ (2002) von Alexander Payne, in dem Warren (Jack Nicholson) sich mit Antritt seiner Pension plötzlich mit all den Dingen konfrontiert sieht, mit denen er sich während seiner Arbeitszeit kaum beschäftigen musste. Mit seiner 42-jährigen Ehe zum Beispiel und mit der neuen, vielen Freizeit, mit der er nichts anzufangen weiß. In dieser Liga spielt Rainer Kaufmanns melodramatische Komödie „Weißt du noch“ nicht. Der 64-jährige deutsche Regisseur, vor allem routiniert durch Fernseharbeiten wie „Bella Block“, „Tatort“ und „Polizeiruf 110“, versucht sich hier an einem Kammerspiel zwischen zwei Eheleuten, die in ihrem ereignislosen Alltag feststecken. Senta Berger spielt Marianne, die seit 50 Jahren eine mehr oder weniger gute Ehe mit Günter (Günther Maria Halmer) führt. Sie wohnen in einem robusten Blockhaus mit großer Glasfront im Wohnzimmer, durch die Kaufmann am liebsten blickt, während sie sich in stichelnden Wortgefechten ergehen. Marianne kritisiert Günters wachsende Vergesslichkeit, Günter wirft ihr dasselbe vor. Die beiden Kinder kommen nur alle paar Monate zum Pflichtbesuch, und die guten Zeiten scheinen mit ihnen für immer entschwunden. Sie und Günter unternehmen zu wenig, erholen sich zu wenig, sagt Marianne. Wovon erholen, fragt Günter zurück, sie tun ja den ganzen Tag nichts. Eine Pattsituation, da zaubert Günter am gemeinsamen Hochzeitstag zwei Pillen hervor. Sie sollen das Gedächtnis wieder auf Hochtouren bringen, einen vielversprechenden Trip down the memory lane. In den Händen von Kaufmann eher ein schmerzhaftes coming down. Dialogblöcke bestehend aus jeweils circa zehn Sätzen werden von Berger und Halmer meist professionell, manchmal holprig gesprochen, dann wird zum nächsten Thema übergeleitet. Rein oberflächlich erwähnt bleiben also das erste Kennenlernen, das erste Fremdgehen, eine Krebserkrankung, die Depression der Tochter, der Rest des Lebens. Würde nicht jede Einstellung zeigen, wer spricht und was gesprochen wird, und würde nicht alles erklärt, was besser gedacht und gefühlt würde … es wäre nicht derselbe Film. (Alexandra Zawia) Weißt du noch D 2023. Regie: Rainer Kaufmann. Mit Senta Berger, Günther Maria Halmer. Lunafilm. 91 Min. Foto: Plaion Am 21. September feiert in Wien mit „Vermin“ das 14. SLASH- Filmfestival seine Eröffnung. Das auf Genrefilme spezialisierte Fest verspricht, tierisch unheimlich zu werden. Tierhorror etc. Von Philip Waldner Spätestens wenn sich vor dem Wiener Filmcasino eine Menschentraube bildet, welche sich bis auf die Straße zu erstrecken droht, weiß man, dass es wieder so weit ist: Das sympathische, auf Genrefilme spezialisierte SLASH-Filmfestival unter der Leitung von Markus Keuschnigg geht in die nächste Runde. Im Verlauf von zehn Tagen und verteilt auf drei Spielstätten wird auch heuer wieder abseitigem Filmgeschmack gefrönt. Dass das Festival keine ausschließliche Anlaufstation für gorehounds mit Hang zu blutrünstiger Kost ist, beweist wieder ein ausgesprochen facettenreiches Programm. Darin haben Filme alteingesessener Auteurs wie Luc Besson („Dogman“) oder Takeshi Kitano („Kubi“) ebenso Platz wie Wiederentdeckungen alter Klassiker und aufregende Debüts. Vor allem auf zwei Erstlingswerke darf man gespannt sein: In „Restore Point“ entführt uns der tschechische Regisseur Robert Hloz in eine dystopische Zukunft, wo die Möglichkeit, sein Bewusstsein hochzuladen, menschliche Sterblichkeit scheinbar obsolet macht. Das klingt nicht nur nach einer kreativen Kombination von „Blade Runner“ (1982) und „Minority Report“ (2002), sondern auch nach einem potenziellen Science-Fiction-Meilenstein. Außerdem „Vincent Must Die“ des französischen Erstlingsregisseurs Stéphan FILMKOMÖDIE Konträre Lebensstile Nicht gerade neu ist die Geschichte vom erfolgreichen, aber unglücklichen Manager, der seinen Lebensstil durch die Begegnung mit einer gegensätzlichen Figur zu überdenken beginnt. Dennoch gelingt es Éric Besnard („À la carte! – Freiheit geht durch den Magen“), trotz des ausgelaugten Themas sympathisches Wohlfühlkino zu bieten. Das liegt zum einen an den prächtigen Totalen der idyllischen Wald- und Wiesenlandschaft, in die Besnard und sein Kameramann Jean-Marie Dreujou die Zuschauer(innen) mit ihrem Protagonisten Vincent (Lambert Wilson) nach einer Autopanne eintauchen lassen. Stimmungsvoll wird dabei durch Country- und Westernklänge das Gefühl für Weite und Entschleunigung gesteigert. Blendend harmonieren aber auch Lambert Wilson als ständig redender, hyperaktiver Geschäftsmann und Grégory Gadebois als wortkarger, gelassener Einsiedler, der in seiner abgeschiedenen Hütte vom eigenen Gemüsegarten lebt und den Tag mit körperlicher Arbeit verbringt. So klischeehaft diese beiden ungleichen Männer auch gezeichnet Zur Eröffnung In Sébastien Vaničeks „Vermin“ entkommt dem jungen Kaleb eine Giftspinne – bald wird dessen Plattenbau von den tödlichen Gliederfüßern überrannt. Castang: Es geht um einen Durchschnittstypen, bei dem alle Menschen plötzlich den Drang verspüren, ihn umzubringen. Ob dieser paranoide Zombiethriller zur prägnanten Gegenwartsdiagnose taugt, sollte jeder für sich herausfinden. Illustre Gästeliste Abseits der Filme kann sich auch die Gästeliste sehen lassen: Brandon Cronenberg, Sohn der kanadischen Regielegende David Cronenberg und Schöpfer nicht minder verstörender Werke, wird gemeinsam mit Kameramann Karim Hussain im Anschluss an ihren Film „Possessor“ (2020) zu einer Masterclass ins Metro-Kino laden, in der die beiden Filmschaffenden Einblicke in ihre Arbeitsweise geben wollen. Apropos Cronenberg: In „Scanners“ (1981) hat das Publikum die Möglichkeit, Mi chael Ironside dabei zuzusehen, wie er als Anführer einer telekinetisch begabten Terroristentruppe den Weltumsturz plant. Auch Ironside soll im Anschluss an den Film aus dem Nähkästchen plaudern. Los geht’s jedenfalls mit „Vermin“ des Franzosen Sébastien Vaniček – passend zu einer Tierhorror-Retrospektive, die sich allerlei kriechendem Ungeziefer widmet. Dann wuselt es nicht nur vor den Kinos, sondern auch auf der Leinwand. SLASH-Filmfestival 21. September bis 1. Oktober, Wien slashfilmfestival.com sind und so vorhersehbar ist, dass sie sich langsam näherkommen werden, so bereitet es doch Vergnügen, zuzusehen, wie sie sich aneinander reiben. Aber auch überraschende Wendungen und der Umstand, dass Besnard nicht nur den Manager, sondern auch den Einsiedler eine Entwicklung durchmachen lässt und beide lernen, sich Lebenslügen zu stellen, sorgen dafür, dass „Die einfachen Dinge“ nicht in öde Formelhaftigkeit verfällt, sondern bis zu einem hinreißenden Schlussauftritt Gadebois’ Witz und Charme bewahrt. (Walter Gasperi) MEDIEN IN DER KRISE Unterhaltung, gesellschaftlich relevant Öffentlich-rechtliche TV-Qualität bedeutet auch, in Unterhaltungsprogrammen relevante gesellschaftliche Diskurse aufzunehmen und für breiteres Pu bli kum aufzubereiten. Die jüngste Folge von „Polizeiruf 110“, der Einstand von Johanna Wokalek als Münchener Kriminalkommissarin Cris Blohm, kann da als Paradebeispiel herhalten. Blohm, lesbisch, und ihr Ermittler- Kompagnon Otto Ikwuaku (Burgschauspieler Bless Amada), schwarz und schwul, ermitteln in einem Mordfall auf der Uni. Ein arabischstämmiger Wissenschafter für Postcolonial Studies wird – nach einer anonymen Blog-Anschuldigung wegen Vergewaltigung – ermordet. Blohm und Ikwuaku müssen nun in einer die Polizei grundsätzlich für Nazi- Nachfahren haltenden Uni-Community, die jeden weißen Mann bzw. alle und jede(n) für Rassist(inn)en hält, die „Tatperson“ finden. Die genderfluide Professorin, die Sex „unter patriarchalen“ Bedingungen grundsätzlich für unmöglich hält, hintertreibt die Polizeiarbeit ebenso wie eine Gleichstellungsbeauftragte, auf deren Posten sich auch der Ermordete bewerben wollte – da er ja selbst definieren konnte, welches Geschlecht er für sich in Anspruch nehmen will. Selten ist die Woke- und Cancel-Kultur so auf den Punkt gebracht worden wie in diesem Drehbuch von Stefan Weigl, das gleichzeitig auch allzu Wahres in entlarvender Prägnanz aufzeigt – etwa wenn eine ostafrikanische Studentin zur Kommissarin meint: „Wollen Sie mal einen Tag in meinem Körper verbringen? Ich wette, Sie würden sich auf der Stelle erschießen.“ Der ORF hat „Polizeiruf 110“ nicht im Angebot. Vielleicht lassen sich seine Programmmacher(innen) ja erweichen, dieses von der ARD gezeigte Lehrbeispiel für öffentlich-rechtliche Unterhaltung auch hierzulande zu zeigen. (Otto Friedrich) Lambert Wilson, Grégory Gadebois als ungleiches Paar. Die einfachen Dinge (Les choses simples) F 2023. Regie: Éric Besnard. Mit: Lambert Wilson, Grégory Gadebois, Marie Gillain, Magali Bonat, Antoine Gouy, Déborah Lamy. Panda Film. 95 Min.
DIE FURCHE · 38 21. September 2023 Wissen 21 Die Paleodiät ist im Visier der Forschung – und zählt mittlerweile auch zu den aktuellen Ernährungstrends: Sie setzt auf Bioqualität und orientiert sich an den Essgewohnheiten der urzeitlichen Jäger und Sammler. Was ist davon zu halten? Gourmets der Steinzeit Von Klaus Stiefel Wer als kulinarisch abenteuerlustiger Mensch in Frankreich war, hat dort vielleicht schon einmal Landschnecken probiert. Diese gibt es typischerweise gekocht und mit Knoblauchbutter: So gelten sie als große Delikatesse. Wie lange gibt es diese Spezialität schon? Wie es scheint, schon seit 170.000 Jahren (!). Das Schneckenessen stammt auch nicht ursprünglich aus Frankreich. In einer aktuellen Studie beschreiben Marine Wojcieszak und ihre Kollegen von der Universität Witwatersrand in Südafrika, wie sie die Überreste von Landschnecken gefunden haben, die in der Jungsteinzeit gekocht wurden. Die „Border Cave“, in der diese Schneckenreste gefunden wurden, liegt im Nordosten von Südafrika, Richtung Mozambique, auf einer Meereshöhe von 600 Metern. Dort wird seit Jahrzehnten intensiv archäologisch geforscht, und die Wissenschafter haben u. a. eine große Anzahl von Schneckenschalenfragmenten gefunden. Wie weiß man aber, ob diese Schnecken von den Steinzeitmenschen gekocht wurden oder ob sie dort nur hingekrochen sind, um sich eventuell an den Essensresten der Höhlenbewohner satt zu fressen? Da kommt die Experimentelle Archäologie ins Spiel: Die Forscher(innen) haben ausprobiert, was mit den Schalen passiert, wenn man Schnecken kocht. Zuerst einmal verfärben sich diese – genau so, wie das bei den steinzeitlichen Schneckenschalen beobachtet wurde. Hilfe beim Abnehmen Die Forscher(innen) verwendeten auch Infrarot- und Raman-Spektroskopie sowie Elektronenmikroskopie, um ihre erhitzten Schneckenschalen mit den steinzeitlichen zu vergleichen. Diese Schalen bestehen aus Kalziumcarbonat, welches in unterschiedlichen Kristallstrukturen vorkommen kann: Aragonit und Kalzit. Die Schalen lebender Schnecken bestehen aus Aragonit, das sich aber bei großer Hitze in Kalzit umwandelt. Auch in den Schneckenschalen im steinzeitlichen Abfall fanden die Forscher Kalzit: ein weiterer Hinweis darauf, dass diese gekocht wurden. Ähnliche Schnecken werden auch heute noch im südlichen Afrika gegessen. Interessantes Detail am Rande: Genauso wie Schneckengerichte Würzig zubereitete Landschnecken gelten in Frankreich als Delikatesse. In Südafrika haben Forscher nun Schneckenreste gefunden, die bereits vor 170.000 Jahren gekocht wurden. die Menschheit haben es einige Arten der Landschnecken (achatinidae), die damals im Süden Afrikas gekocht wurden, geschafft, sich weltweit auszubreiten. Die Erkenntnis, dass Menschen schon seit 170.000 Jahren solch exotisch anmutende Spezialitäten verspeisen, ist im Zusammenhang mit der beliebten Paleodiät interessant. Das Prinzip dieser Diät ist es, nur Nahrungsmittel zu essen, die schon in der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, verspeist wurden. So soll sichergestellt werden, dass wir uns artgerecht ernähren. Somit vermeiden die Anhänger der Paleodiät nicht nur prozessierte Lebensmittel wie etwa Tiefkühlpizza, sondern auch jede Art von landwirtschaftlich angebauten Pflanzen wie Weizen, Mais oder Hülsenfrüchte. Denn die Landwirtschaft wurde ja auch erst in der Jungsteinzeit erfunden. „ Man kann getrost annehmen, dass den Menschen der Altsteinzeit der Geschmack ihres Abendessens ein genauso großes Anliegen war wie den modernen Feinschmeckern. “ Foto: iStock/LauriPatterson Was ist davon zu halten? Zunächst ist es sympathisch, dass hier eine evolutionäre Sichtweise in das Alltagsleben einfließt. Sinnvoll ist auch, über die eigene Ernährung zu reflektieren. Eine Reduktion von prozessierten Kohlehydraten wie Zucker und Mehl kann im Rahmen einer solchen Paleodiät sicher gesund sein und beim Abnehmen helfen. Allerdings sollte der oder die „Paleoesser(in)“ zwei Dinge nicht vergessen: Die altsteinzeitlichen Schneckenreste zeigen einmal mehr, wie divers die Ernährung in der Altsteinzeit war. Menschen waren immer schon flexibel und abenteuerlustig, besonders wenn es um kulinarische Genüsse geht. Die einstigen Bewohner der „Border Cave“ waren anatomisch moderne Menschen, die – im Falle, sie hätten T-Shirt und Jogginghosen an – nicht von Zeitgenossen im 21. Jahrhundert zu unterscheiden wären. Man kann also getrost annehmen, dass ihnen der interessante Geschmack ihres Abendessens genauso ein Anliegen war wie den französischen Gourmets im Jahre 2023. Auch angesichts der großen Bandbreite der in der Natur verfügbaren essbaren Pflanzen und Tiere war die Paleodiät alles andere als „monolithisch“. Wandel der Enzyme Andererseits ist die menschliche Evolution seit der Altsteinzeit nicht stehengeblieben. Die letzten 10.000 Jahre hat ein großer Teil der Menschheit landwirtschaftliche Produkte konsumiert, und im Jahre 2023 lebt nur ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit als Jäger und Sammler in entlegenen Urwaldregionen. Die meisten Menschen konsumieren Getreide und Milchprodukte. In Europa, Afrika und Ostasien sind mehrmals und unabhängig voneinander Mutationen im menschlichen Erbmaterial aufgetreten, die es Erwachsenen erlauben, Milchzucker aus der Kuhmilch zu verdauen. Durch diese Mutationen produzieren wir Enzyme (also Proteine, welche die Laktose verdauen), die es bei Erwachsenen in der Altsteinzeit nicht gab. Warum also sollte man genauso wie ein altsteinzeitlicher Mensch essen, wenn man andere Enzyme im Darm mit sich herumträgt als unsere Vorfahren? Der Autor ist Biologe, populärwissenschaftlicher Autor und Naturfotograf. Er lebt zurzeit auf den Philippinen. Foto: ORF/Red Monster KREUZ UND QUER ALLES IN ORDNUNG DI 26. SEPT 22:35 In Religionen – im Judentum wie im Christentum – spielt sie eine zentrale Rolle. Und auch vor Musik, Medizin und Wissenschaft macht sie nicht halt: die Ordnung. Doch was ist Ordnung? Brauchen wir sie oder entspricht gar die Unordnung, das kreative Chaos, dem Menschen mehr? Stefan Wolner, Filmemacher und eines von fünf Kindern einer chaotischen Großfamilie, hat sich auf die Suche begeben und räumt dabei mit so manch einem veralteten Klischee auf. religion.ORF.at Furche23_KW38.indd 1 14.09.23 07:59
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