DIE FURCHE · 38 18 Musik 21. September 2023 Mit Anlaufschwierigkeiten: Wiens Staats- und Volksoper eröffneten die neue Saison mit Wiederaufnahmen von Mozart, Bellini und Strauss. Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Von Walter Dobner Mit gleich drei Wiederaufnahmen hat sich die Wiener Staatsoper zu Saisonbeginn einer besonderen Herausforderung gestellt. Noch dazu mit Werken unterschiedlicher Popularität, wie Mozarts nicht selten unterschätztes Alterswerk „La clemenza di Tito“. Ein Urteil, das wohl daher rührt, dass sich der Komponist die Rezitative von einem Assistenten zuarbeiten ließ. Vermutlich von Franz Xaver Süßmayr, von dem auch die bekannteste Komplettierung von Mozarts Requiem stammt. FEDERSPIEL Hängt ihn höher Jüngst sagte die Psychiaterin Heidi Kastner in einer Fernsehdiskussion zum gewiss clamorosen, und nicht glamourösen, Fall T., als Gerichtsgutachterin habe sie sich längst abgewöhnt, sich „Meinungen“ zu richterlichen Urteilen anzumaßen, wenn sie die Causa aus Verhandlung und Akt nicht genauestens kenne. Der Politik sind solche Skrupel fremd. Eine junge Mitdiskutantin, die sich als Staatssekretärin für Jugendangelegenheiten (ÖVP) herausstellte, befand das Urteil gegen den Schauspieler (anders als die Staatsanwaltschaft) für zu milde und dessen Wiedereingliederung in die Gesellschaft für wenig wünschenswert. Ein Mob aus der rechten Corona-Impfgegner-Szene stellte vor dem Landesgericht und später vor dem Haus der Mutter einen Galgen mit dem Namen des Angeklagten auf. Der Wiener FPÖ-Chef bekundete auf Twitter Verständnis für Selbstjustiz, „wenn der Rechtsstaat so versagt“. Zu große Milde des Gerichts beklagte auch der Innenminister (ÖVP). Die Morddrohungen gegen den Täter und seinen Anwalt und der Tenor der Berichterstattung Kopf ab Die erfolgreiche Inszenierung von Richard Straussʼ „Salome“ durch Luc Bondy 1992 findet in der Volksoper ein Revival. Beeindruckend in der Titelrolle Astrid Kessler. Schon bei der Premiere, im Mai 2012, stieß Jürgen Flimms mehr spielerische als auf den eigentlichen Gehalt dieser Opera seria konzentrierte Inszenierung im wenig atmosphärischen Bühnenbild von George Tsypin – im Wesentlichen zwei verschiebbare Wände – auf wenig Gefallen. Ein Urteil, das auch dieser neuerliche „Titus“-Anlauf nicht ändern konnte. Zudem lief es auch musikalisch alles andere als wunschgemäß. Für seinen Monteverdi-Zyklus gefeiert, muss sich Dirigent Pablo Heras-Casado seine Lorbeeren mit Mozart erst verdienen, vor allem das Orchester von seinem in der Boulevardpresse gemahnen an den nationalsozialistischen Rekurs auf das „gesunde Volksempfinden“, mit dem man die Zwangskastration für Homosexuelle, erblich „Geisteskranke“ und für Triebtäter rechtfertigte. Neu und alarmierend an der jüngsten Entwicklung einer netzverstärkten Hetzmeute ist – darauf hat auch Florian Klenk im Falter hingewiesen – die Beteiligung linker Stimmen, die sich ebenso wenig um Details wie Gesetz, Spruchpraxis und Strafrahmen (juristisch ging es um ein „Vergehen“) scheren. Die grüne Justizministerin trat der bedenklichen Respektlosigkeit gegen den Rechtsstaat nicht entgegen, sondern versprach höhere Strafen, die grüne Frauensprecherin begrüßt „Schuldsprüche“ durch digitale Femeprozesse. Das Recht, das vom Volk ausgeht, kann in der Demokratie aber nicht das Faustrecht sein. Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin. Von Daniela Strigl Faible für ein historisch informiertes Musizieren überzeugen. Eine sorgfältigere Sängerbegleitung, wie er sie bei dieser Premiere bot, bei der die Balance zwischen Bühne und Orchestergraben wiederholt ins Wanken geriet, wäre auch kein Nachteil gewesen. Von der Sängerbesetzung hatte man sich mehr erwartet. Nur solide Matthew Polenzanis Titus, enttäuschend Federica Lombardi als Vitellia, aber auch Kate Lindsey als Sesto. Sollte sie ihren sängerischen Höhepunkt schon überschritten haben? Rollendeckend Slávka Zámečníková als Servilia und Patricia Nolz als Annio. Untadelig Peter Kellner als Publio und Amelle Parys als Berenice. „ Straussʼ ‚Salome‘ in jener legendären, für die Salzburger Festspiele 1992 erdachten Luc-Bondy-Inszenierung. Für Wien hat Bondys Witwe diese Produktion extra aufgefrischt. “ Pretty Yende war für die Wiederaufnahme von Bellinis zweiaktigem Melo dramma „La sonnambula“ – die Premiere war 2001 – avisiert. Sie sagte ab, damit kam Brenda Rae als Amina zum Zug und feierte damit zugleich ihr Wiener Rollendebüt in dieser von Thomas Manns „Zauberberg“ inspirierten Inszenierung von Marco Arturo Marelli. Beeindruckend vor allem ihre Pianokultur. Javier Camarena setzte als Elvino mehr auf die Kraft seiner Stimme als auf innige Emotionen. Routiniert Szilvia Vörös als Teresa, etwas angestrengt Maria Nazarovas Lisa. Untadelig Roberto Tagliavinis Rodolfo. Stimmung wollte auch an diesem Abend nur phasenweise aufkommen. Das lag am Dirigenten, Giacomo Sagripanti. Er verhedderte sich vielfach in subtil nachgezeichneten Details. Von zündendem Animo erfüllte Spannungsbögen ließ er dagegen erst gar nicht aufkommen. Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Wien Strauss am Ring und am Währinger Gürtel Wäre nicht Sebastian Weigle ein idealer Musikchef der Volksoper Wien gewesen? Darüber wurde vor Jahren diskutiert. Gekommen ist es anders. Das Haus am Währinger Gürtel verzichtete auf einen Chefdirigenten. Den Berliner Weigle, der seine Musikerkarriere als Solohornist der Staatskapelle seiner Heimatstadt begonnen hatte, zog es schließlich als Generalmusikdirektor ans Frankfurter Opernhaus. Nicht zuletzt als Strauss-Interpret hat er sich einen exzellenten Ruf erarbeitet. Ihm hat man am Haus am Ring nun die Wiederaufnahme der 2004 von Semyon Bychkov glanzvoll aus der Taufe gehobenen „Daphne“-Produktion anvertraut. Wohl eine der geglücktesten Wiener Opernproduktionen der letzten Jahrzehnte. Nicht zuletzt dank des Kunstgriffs des Regisseurs Nicolas Joel, diese bukolische Tragödie in Kulissen spielen zu lassen, die dem Ambiente der ebenfalls der Idee der Antike verpflichteten Münchner Villa Stuck (Bühne: Pet Halmen) nachempfunden sind. Darin lässt sich der mythische Stoff dieses Einakters geradezu selbstverständlich vermitteln. Selbst wenn Günther Groissböcks noch etwas steif wirkender Peneios, Noa Beinarts ausdrucksreiche Gaea, Daniel Jenzʼ Leukippos und David Butt Philips Apollo sowie die sich schließlich zu hoher Emphase steigernde Hanna-Elisabeth Müller als Daphne (alles übrigens Rollendebüts) nicht ganz mit der eminenten Strahlkraft der einstigen luxuriösen Premierenbesetzung mit Ricarda Merbeth, Michael Schade und Johan Botha konkurrieren konnten. Sebastian Weigle erwies sich als profunder Kenner der Partitur. Aus dem zwischen kammermusikalischer Dezenz und rauschhafter Attitüde meist souverän vermittelnden Orchester hätten sich allerdings noch mehr klangliche Valeurs herausholen lassen. Auch die Volksoper Wien eröffnete mit einer Wiederaufnahme – besser wohl Wiederbegegnung – ihre neue Spielzeit; überschattet von der Mitteilung, dass sich ihr Musikdirektor Omer Meir Wellber bereits im Dezember – damit nach erst eineinhalb Jahren – von seine Wiener Tätigkeit verabschieden wird. Schließlich ist er noch als Musikchef in Palermo beschäftigt und designierter Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper. Eine menschlich verständliche, für Wien enttäuschende Entscheidung. Ob es seinen rasch namhaft gemachten Nachfolger, Ben Glassberg, länger am Währinger Gürtel halten wird? Die erste Premiere der neuen, bereits 125. Volksopern-Saison ließ sich Wellber freilich nicht nehmen: Straussʼ „Salome“ in jener legendären, ursprünglich für die Salzburger Festspiele 1992 erdachten Luc-Bondy-Inszenierung. Längst kennt man sie in Welt. Für Wien hat Bondys Witwe diese Produktion – sie präsentiert diesen Strauss-Einakter in Erich Wonders eloquenter Bühnenarchitektur als Kammerspiel – extra aufgefrischt. Dennoch, der eigentümliche Charme einer ersten Nacht ist durch eine noch so präzise nachgestellte Rekreation, zudem auf einer sehr anderen als der ursprünglichen Bühne, selten erreichbar. Das zeigte sich auch am Währinger Gürtel. Dazu kam, dass die Besetzung – ausgenommen Wolfgang Ablinger-Sperrhackes profunder Herodes, Astrid Kesslers vornehmlich in der Höhe und mit ihrer Emotion beeindruckende Salome und Tommi Hakalas intensiver Jochanaan – den Anforderungen dieser Partitur nur bedingt gerecht wurde. Ob es besser gelaufen wäre, wenn Wellber das Orchester nicht so auftrumpfen hätte lassen? So machte er es den Protagonisten wiederholt schwer, sich über die Klangmassen zu erheben. Dazu wählte er oftmals zu zügige Tempi, ohne dass damit ein höheres Maß an Spannung erzielt worden wäre. Daphne Wiener Staatsoper, 21.9. Salome Volksoper, 22.9., 23., 26., 29.10.
DIE FURCHE · 38 21. September 2023 Literatur & Theater 19 Von Christian Schacherreiter Zu den verbreiteten kulturhistorischen Gemeinplätzen gehört die These, die Aufklärung habe im katholischen Süden, insbesondere in Österreich, keine nennenswerte Wirksamkeit entfaltet. Diese bislang kaum hinterfragte Sichtweise wurde in jüngster Vergangenheit einer kritischen Revision unterzogen. Im Jahr 2020 erschien „Aufklärung habsburgisch“ von Franz Leander Fillafer, der die These von der teils verteufelten, teils verschlafenen Aufklärung in maßgeblichen Punkten korrigierte und relativierte. Grundsätzlich kritisierte Fillafer, dass die Definition von Aufklärung zu eng an den nord- und mitteldeutschen Protestantismus und die von Frankreich geprägte Revolutionsideologie gebunden wurde, sodass alternative Wege aufgeklärten Denkens im josephinistischen Österreich von vornherein ausgegrenzt blieben. In eine ähnliche Richtung, wenn auch mit etwas anderen thematischen Schwerpunkten, zielt das Buch „Glanz und Elend der Aufklärung in Wien“. Norbert Christian Wolf, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien, untersuchte auf breiter methodischer Grundlage und mit beeindruckender wissenschaftlicher Präzision die österreichische Schriftkultur des 18. Jahrhunderts. Er berücksichtigte forschungsgeschichtliche Umstände, diskurshistorische Implikationen sowie mannigfaltige sozial-, ideen- und gattungsgeschichtliche Aspekte. Karger Boden für Diskurse Einen Schwerpunkt legt der Literaturwissenschafter auf die Herausbildung des Literatursystems in Wien. Wolf skizziert die entscheidenden Phasen der Zensur – von ihrer Zentralisierung unter Maria Theresia über Josephs „erweiterte Preßfreyheit“ bis zu deren Rückholung. Er macht deutlich, inwiefern in Österreich die soziale Rolle des Literaten wenig prestigeträchtig war und dass Freimaurerlogen und Kaffeehäuser als Diskursräume nur notdürftig ersetzen konnten, was auf institutioneller Ebene versäumt oder verhindert wurde. Am Beispiel von drei paradigmatischen Texten veranschaulicht Norbert Christian Wolf die Besonderheiten der Wiener Aufklärung: Aloys Blumauers Versepos „Virgils Aeneis, travestirt“, Johann Pezzls Roman „Faustin oder das philosophische Jahrhun- dert“ und Emanuel Schikaneders Libretto zu Mozarts Oper „Die Zauberflöte“, der wohl bekannteste Text der Wiener Aufklärung. Johann Pezzl (1756‒1823), zu Lebzeiten durchaus erfolgreich, heute weitgehend vergessen, stammte aus Bayern. Er besuchte dort eine Klosterschule, studierte im Erzbistum Salzburg erfolglos die Rechtswissenschaft und schrieb in Zürich seinen satirischen Roman „Faustin oder das philosophische Jahrhundert“. Das josephinistische Wien der 1780er Jahre, ein Hoffnungsort für viele Intellektuelle, erfüllte auch für Pezzl die Funktion einer aufklärerischen Utopie. Faustin steht gattungstypologisch Voltaires „Candide“ nahe. Bonifaz, der Lehrer des Titelhelden, erinnert an die Figur des Pangloss. Er ist der durch und durch optimistische Aufklärer, der den Sieg von Vernunft und Humanität für eine welthistorisch beschlossene Sache hält. Der Handlungsverlauf dekonstruiert allerdings Bonifazʼ naiven Fortschrittsglauben, denn „ Papageno erweist sich in dieser Welt hehrer Menschheitsideale als sympa thischer Spielver derber, als subversive Gestalt, die auf humanistische Vollkommenheit pfeift. “ die Verhältnisse, die sind bekanntlich ganz und gar nicht so. Sie geben wenig Anlass zu gesellschaftspolitischer Zuversicht. Zum positiven Wunsch- und Gegenbild – vor allem im Vergleich mit dem rückständigen Bayern – avanciert einzig und allein Wien zur Regierungszeit Josephs II. Diese verklärende Darstellung mag einerseits dadurch zu begründen sein, dass Pezzl zur Zeit der Niederschrift noch in Zürich lebte und Wien nur aus hoffnungsfrohen Berichten kannte, andererseits auch dadurch, dass sich der Autor dem josephinistischen Milieu Wiens empfehlen wollte. Hervorzuheben ist, dass Johann Pezzl in seinem Roman scharfe Kritik an der Sklaverei übte, was zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit war. In der europäischen Aufklärung mangelte es – ungeachtet aller humanistischen Rhetorik – nicht an rassistischen Ressentiments. Dass auch das Libretto zu Mozarts „Die Zauberflöte“, oft gepriesen als Paradetext der aufgeklärten Freimaurerei, rassistisches Denken beinhaltet, lässt sich an der Figur des schwarzen Sklaven Monostatos eindeutig nachweisen. Zu den vielen Stärken, die an „Glanz und Elend der Aufklärung in Wien“ zu würdigen sind, gehört die fein differenzierende Analyse der Oper von Mozart/Schikaneder, wobei Norbert Christian Wolf auch die umfangreiche Sekundärliteratur einer kritischen Sichtung unterzieht. Ohne vom Extrem der „Zauberflöten“-Glorifizierung in deren Gegenteil zu verfallen, benennt Foto: Wikipedia/ Eweht (cc by-sa 3.0) In „Glanz und Elend der Aufklärung in Wien“ deckt der Literaturwissenschafter Norbert Christian Wolf die Besonderheiten dieser Ära auf und nimmt dabei auch Mozarts „Zauberflöte“ unter die Lupe. Die Wiener Fassung der Aufklärung Emanuel Schikaneders Libretto zu Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ zählt zu den bekanntesten Texten der Wiener Aufklärung. Die Figur des Papageno nimmt dabei die Rolle des sinnesfrohen Antihelden ein. Wolf formalästhetische Schwachstellen und (aus heutiger Sicht) ideologische Problemstellen des Librettos, unter anderem das misogyne Frauenbild (die Königin der Nacht und ihr weibliches Gefolge) und den autoritären Habitus von Sarastros elitärem Männerklub. Papageno erweist sich in dieser Welt hehrer Menschheitsideale als sympathi- scher Spielverderber, als subversive Gestalt, die – in dieser Hinsicht dem Hanswurst des Volkstheaters ähnlich – auf humanistische Vollkommenheit pfeift und mit der Befriedigung seiner sinnlich-emotionalen Elementarbedürfnisse zufrieden ist. Dergestalt böte er sich möglicherweise heute als „normal denkender“ Mensch für die eine oder andere parteipolitische Vereinnahmung an, denn so sind sie halt, „unsere Leutʼ“. Umjubelt wie verpönt In diesem Zusammenhang wird auch die ambivalente Rezeption von Aloys Blumauers „Aeneis“-Travestie verständlich. Im protestantischen Raum fand Blumauers satirische Bearbeitung des antiken Mythos wenig Anerkennung, ganz im Gegensatz zur österreichischen Rezeption. Wolf positioniert die „Aeneis“-Travestie in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wiener Volkskomödie, wo die parodistische Behandlung ernster, tragisch-erhabener Stoffe bereits Tradition hatte. Der respektlose Blumauer stutzt nicht nur den Helden Aeneas und die Götter auf menschliches Durchschnittsmaß zusammen, sondern auch intellektuelle Autoritäten von Platon bis Lessing. Allzu ehrgeizige Projekte zur Erziehung des Menschengeschlechts drohen immer wieder am Lachen der schwer erziehbaren Zöglinge zu scheitern. Glanz und Elend der Aufklärung in Wien Voraussetzungen – Institutionen ‒ Texte Von Norbert Christian Wolf Böhlau 2023 456 S., geb., € 52,– VOLKSTHEATER Bälle- statt Stahlbad Von Christine Ehardt ist ein Stahlbad“, wusste schon Theodor W. Adorno und machte damit der „Fun Unterhaltungsindustrie den philosophischen Garaus. Der Volkstheaterchef Kay Voges verwandelte nun sein Haus in genau eine solche Hölle kapitalistischer Massenkultur. Gemeinsam mit dem Rektor der Akademie der bildenden Künste Wien, Johan Frederik Hartle, schwelgte er bei der Uraufführung von „Du musst dich entscheiden!“ in Retrofernsehmomenten und knackigen Philosophensprüchen. Die aufwendig produzierte „Gameshow für Österreich“ erinnert an eine überhitzt gestaltete Powerpoint-Präsentation, Platz für eine Maue Medienpersiflage: „Du musst dich entscheiden!“, mit Georg Vogler und Elias Eilinghoff, Regie: Kay Voges. Foto: Marcel Urlaub / Volkstheater kritische Reflexion aktueller Gesellschaftsfragen fehlt. Der Imperativ des Abends lautet: Hüpfen! Nach dem Vorbild der Kindershow „1, 2 oder 3“ müssen sieben Kandidaten die per Onlinevoting eintreffenden Entscheidungen des Publikums erraten und dazu auf die passenden Antwortfelder springen. Die Fragen sind weit gefasst. „Hat Putin den Tod verdient?“ „Darf man mit Rechten reden?“ „Wie steht’s um Solidarität, Klima bewusstsein, Othe ring und die österreichischen Steuergesetze?“ Die Mehrheit der Zuschauer entscheidet sich bei den provokant formulierten Fragen meist für die skandalfreiste Antwortmöglichkeit. Breit gefasst ist auch das in grellbunten Lycra-Einteilern gekleidete Teilnehmerfeld: Eine musikverliebte Asiatin, ein traditionsbewusster Kärntner, ein Bobo-Pärchen aus Graz, eine en- gagierte Aktivistin und Ossi Rico mit Ehefrau Nilufar machen sich daran, die millionenschwere Gewinnsumme zu ergattern. Für Auflockerung sorgen Musikeinlagen, Denkimpulse Friedrich Schillers, dessen computeranimiertes Gemälde kluge Sprüche klopft, und die per Videoschaltung zugespielten kritischen Geister „Morla“-Adorno und Indiemarx (Bettina Lieder und Christoph Schüchner). Zu guter Letzt müssen zwei Kandidaten eine emotionale Außenwette absolvieren und dazu den eigenen Audi quattro mitsamt Insassen sowie einen geliebten Pferdewagen zerstören. Lichtblicke des Abends ist neben Uwe Schmieder als ostdeutschem Verlierertypen, der weder dem Alkohol noch häuslicher Gewalt abgeneigt ist, das Moderatorenpärchen Elias Eilinghoff und Anke Zillich. Überzeugend ge- ben sie als Tommy und Michelle die anschmeichelnd-schmierigen Fernsehprofis, denen sogar eine Kotztirade nicht die Eloquenz nehmen kann. Etwas weniger Fun und etwas mehr Inhalt hätten dem Stück gutgetan. Technisch und schauspielerisch einnehmend bleibt diese Inszenierung über weite Strecken vorhersehbar und langweilig. Zu Christoph Schlingensiefs Zeiten noch hochbrisant, wirkt diese fast dreistündige Medienpersiflage zu harmlos und aus der Zeit gefallen. Geboten wird nicht mehr als ein lustiges Plätschern im Bällebad (das am Ende auf die Schauspieler niederprasselt); „ich kann nicht mehr“, lautet der vieldeutige Schlusssatz dieser wenig überzeugenden Premierenvorstellung. Du musst dich entscheiden! Volkstheater, 5., 15., 29.10., 10.11.
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