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DIE FURCHE 21.03.2024

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DIE FURCHE · 12 8 International 21. März 2024 Katharina von Schnurbein (links) im Gespräch mit Brigitte Quint, Leiterin des FURCHE- Ressorts „Politik und Internationales“, im Verbindungsbüro der Europäischen Kommission . FORTSETZUNG VON SEITE 7 vom 7. Oktober tatsächlich israelische Frauen vergewaltigt worden sind – obwohl es Videos gibt, die von den Tätern noch am selben Tag ins Netz gestellt wurden. Die Nazis haben versucht, ihre Taten zu vertuschen, die Hamas ging damit hausieren. Und doch gibt es Menschen, die Juden a priori keinen Glauben schenken wollen. Antisemitismus sitzt tief. DIE FURCHE: Rechtfertigt das, was Sie gerade gesagt haben, das Vorgehen der Regierung Benjamin Netanjahu in Gaza? Von Schnurbein: Der 7. Oktober kommt für Jüdinnen und Juden der Intention des Holocaust gleich. Nämlich die genozidale Intention, die die Hamas auch in den Statuten hat: Israel auszulöschen. Wenn man das so sieht, dann ist klar, dass die Hamas dauerhaft eine Gefahr für die Sicherheit Israels darstellt. Inwieweit vor diesem Hintergrund dann das Vorgehen verhältnismäßig ist, ist nicht einsehbar. Ich glaube, es ist wichtig, klarzustellen, dass jedes Menschenleben zählt. Wenn Kinder im Gazastreifen getötet werden, ist es genauso schlimm, wie wenn ein jüdisches Kind umkommt. Und das wird von vielen Jüdinnen und Juden auch so gesehen und gesagt. Dennoch war dieser 7. Oktober eine Zäsur und wiegt unglaublich schwer für die jüdischen Gemeinde. Hören Sie das Gespräch mit Katharina von Schnurbein auch in unserem Podcast: furche.at/ podcast DIE FURCHE: Ist der Krieg in Gaza verhältnismäßig? Ist es verhältnismäßig, eine Hungersnot in Gaza in Kauf zu nehmen? Sollte die internationale Gemeinschaft hinnehmen, dass Israels Militär in Rafah einmarschiert? Wer das fragt, ist dieser Tage nicht selten bereits mit einem Antisemitismusvorwurf konfrontiert. Deshalb noch einmal: Ist eine Kritik an dem Vorgehen der israelischen Regierung schon antisemitisch? Von Schnurbein: Nein, das ist sie nicht. Laut Definition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken wird eine Kritik an Israel wie eine Kritik betrachtet, die man an anderen Staaten übt – und gilt damit nicht als antisemitisch. „ Aufgrund der Schoa sind die jüdischen Gemeinden so klein, dass die meisten Menschen keine Juden kennen. Vor der Schoa war es selbstverständlich, in der Schule einen jüdischen Sitznachbarn zu haben. “ Allerdings sollten sich alle, die hier in Europa sitzen, nicht vor Ort sind, fragen: Wie würden wir das Recht auf Selbstverteidigung für andere Staaten nach einem solchen Anschlag auf Zivilisten einschätzen? Können wir die Lage wirklich beurteilen? Haben wir tatsächlich alle Fakten? Das bezweifle ich manchmal. Und deswegen halte ich mich auch aus dieser Diskussion heraus. DIE FURCHE: Derzeit heißt es immer wieder, es sei auch die linke Kulturszene, die ein Antisemitismusproblem habe. Was stimmt: Viele Kulturschaffende stellen sich gerade auf die Seite der Palästinenser. Wie bewerten Sie diese Debatte? Von Schnurbein: Auch diese Situation ist nicht neu. Auf der „documenta15“ in Deutschland sind Kunstwerke ausgestellt worden, die ganz klar antisemitisch sind. So war etwa die Abbildung eines Mannes mit vampirartigen Zähnen und Zigarre zu sehen, der einen Hut mit SS-Runen trug. Daneben war ein Soldat mit einer Schweinenase zu sehen, auf seinem Helm stand der Schriftzug „Mossad“. Noch klarer geht es ja nicht. Dennoch hat es sehr lange gedauert, bis die Leitung oder gar das zuständige indonesische Künstlerkollektiv reagiert hat. Und ich glaube, das ist der Knackpunkt: Aussitzen geht nicht, man muss sofort reagieren. Das haben wir jetzt in ähnlicher Form bei der Biennale gesehen. Auch hier wurde zu spät reagiert. Als in Berlin ein jüdischer Student von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen wurde, bezeichnete das die zuständige Kultursenatorin als „politisch motivierte Tat“. Foto: Paul Maier Dabei handelt es sich um ein antisemitisches Hassverbrechen. Ich finde, uns fehlt oft der Kompass, der uns sagt, was klar antisemitisch ist und warum wir uns auf die Seite derer zu stellen haben, die diesem Antisemitismus ausgesetzt sind. DIE FURCHE: In wessen Zuständigkeitsbereich fällt dieser Kompass? Von Schnurbein: Es braucht ihn zunächst in der Zivilgesellschaft. Aber eben auch bei den Handelnden. Ich glaube, jeder Einzelne von uns muss sich folgende Frage stellen: Will ich mich mit Antisemitismus so auseinandersetzen, dass ich, wenn ich im Alltag einer anti semitischen Aussage begegne, darauf reagieren kann? DIE FURCHE: Würden Sie Ihre Vision von diesem Kompass konkretisieren? Wo könnte dieser in einer breiten Öffentlichkeit Niederschlag finden? In der Bildungspolitik? Von Schnurbein: Für diesen Kompass braucht es eine gewisse Empathie. Die wird oft zu Hause vermittelt. Es ist nicht einfach, das in der Schule zu ersetzen. Was in der Schule ersetzt und gemacht werden muss, ist die Vermittlung von Wissen. Zum Beispiel bekommen in Rumänien alle Schüler und Schülerinnen der zehnten Klasse eine Stunde Unterricht zu diesem Thema. Fragen wie „Wie war jüdisches Leben in Rumänien früher? Wie ist jüdisches Leben heute? Was hat zum Holocaust geführt? Welche Rolle hatte die rumänische Regierung zu dem Zeitpunkt, und welche Verantwortung haben wir heute?“ werden beleuchtet. Dieser Unterricht wird auf Dauer die Wahrnehmung von jüdischem Leben verändern und stünde auch Österreich und Deutschland gut an. DIE FURCHE: Stichwort Empathie. In Familien, die aus dem arabischsprachigen Raum zugewandert sind, gibt es häufig ein ganz anderes Narrativ zum Thema Staat Israel. Von Schnurbein: Hier muss die Schule ansetzen. Das geht aber nur, wenn auch die Lehrer dementsprechend ausgebildet werden. Man kann nicht erwarten, dass jeder Lehrer über so ein komplexes Thema so Bescheid weiß, dass er sich befähigt fühlt, es im Unterricht aufzugreifen. Hier gilt es, die Universitäten in die Pflicht zu nehmen. Alle Lehrer, auch Sportlehrer, brauchen hier Weiterbildung. Klar ist: Aufgrund der Schoa sind die jüdischen Gemeinden so klein, dass die meisten Menschen keine Juden kennen. Vor der Schoa war es selbstverständlich, in der Schule einen jüdischen Sitznachbarn zu haben. Das kommt heute nicht mehr vor. Genau diese Begegnung müssen wir jetzt durch Bildung ersetzen. Gleichzeitig müssen Vorurteile angegangen werden. Der deutsche Bundespräsident hat einmal gesagt: „Wer in Deutschland Heimat sucht, kann nicht sagen: Das ist deine Geschichte, nicht meine.“ DIE FURCHE: Wir befinden uns inmitten eines Superwahljahrs. Der Gazakrieg beeinflusst allen voran die Wahlen in den USA, aber vermutlich auch die EU-Wahlen, jene in Österreich oder in Ostdeutschland. Fürchten Sie eine weitere Polarisierung? Von Schnurbein: Ich glaube, die meisten von uns haben, gerade wenn es um Menschlichkeit geht, viel gemeinsam. Aber die Art und Weise, wie sich das dann ausdrückt, ist sehr unterschiedlich. Und dann gilt es, in der Zivilgesellschaft damit aufzuräumen, dass ich, wenn ich auf der Seite der Palästinenser stehe, automatisch gegen Israel sein muss – und im letzten Sinn auch gegen die Juden oder im Zweifel auch umgekehrt. Es braucht ein Anerkennen dessen, dass die Lage viel komplexer ist, als manche glauben. Aber: Man darf eben nicht Ursache und Wirkung vertauschen. Mitarbeit: Paul Maier HUNGERKATASTROPHE IM SÜDSUDAN Die Kleinsten brauchen dringend Hilfe! „Es ist schrecklich, vom Schicksal dieser Familien im Südsudan zu hören. Die kleine Keji und die vielen anderen Babys in unserem Baby-Ernährungszentrum sollen leben. Ich bitte Sie um Ihre Hilfe: Wir müssen jetzt handeln! Niemand sonst ist hier, um zu helfen!“ Pater Dr. Karl Wallner, Nationaldirektor von Missio Österreich Bitte beachten Sie den Spendenbeileger in dieser Zeitung! Verändern Sie mit uns die Welt!

DIE FURCHE · 12 21. März 2024 Religion 9 Von Otto Friedrich Der Prozess Jesu, der zu seiner Hinrichtung am Kreuz führte, beschäftigt seit jeher Wissenschafter verschiedener Disziplinen, nicht nur der Theologie. Das Material, auf das sich die Forschung stützt, sind die Berichte der vier Evangelien, die in vielen Details durchaus unterschiedlich ausgefallen sind. Außerdem sind die neutestamentlichen Schriften Glaubenstexte und keine historischen Schilderungen oder juristische Abhandlungen über den Verlauf des Prozesses. Der Bibelwissenschafter Hans Förster, dem es nicht zuletzt um eine philologisch korrekte Übersetzung der griechischen Texte geht, hat vor Jahresfrist in der FURCHE die antijüdischen Elemente rund um den Prozess Jesu in den deutschsprachigen Bibelübersetzungen identifiziert; dabei kommt er zum Schluss, dass Jesu Hinrichtung ein Fehlurteil und ein Justizmord unter dem römischen Statthalter Pontius Pilatus war. Ein neuer „interdisziplinärer Essay“ in Buchform kommt da zu einer anderen Einschätzung: Raoul Kneucker, Politikwissenschafter, Europa- und Religionsrechtler sowie langjähriger oberster Kirchenjurist der lutherischen Kirche in Österreich, und der Rechtswissenschafter und Verfassungsrechtler Manfried Welan setzen sich unter dem Titel „Die Fragen des Pilatus“ vor allem rechtsphilosophisch mit dem Verfahren vor dem römischen Statthalter auseinander. Foto: IMAGO / Heritage Images Der Prozess Jesu ist auch ein Thema für die juristische Forschung. Raoul Kneucker und Manfried Welan gehen in einem Essay von zwei Texten Hans Kelsens aus, um Pilatus’ Fragen an Jesus im Heute zu diskutieren. Wahrheit und Gerechtigkeit „ Auch den beiden juristischen Autoren ist es darum zu tun, jede antijüdische Interpretation des Prozesses Jesu hintanzuhalten. “ GLAUBENSFRAGE Die Ambivalenz der Intellektuellen Lesen Sie zum Thema auch „Der Tod Jesu war ein Justizmord“ von Hans Förster vom 29. März 2023 auf furche.at. Christus vor Pilatus: Das Gemälde auf dem Wurzacher Flügelaltar von Hans Multscher von 1437 ist eine Darstellung, in der das „volk“ und seine religiösen Führer in der typisch antijüdischen Ikonografie abgebildet wurden. Ein römischer Strafprozess Für den juristischen Laien faszinierend ist es, wie die beiden Autoren die Linien des Verfahrens nachzeichnen und den Kontext eines römischen Strafprozesses sichtbar machen. Sie gehen auch auf die Unterschiede eines jüdischen Strafverfahrens und des römischen Prozesses ein, und jedenfalls setzen sie der plakativen Aussage von „Justizmord“ eine differenzierte Sichtweise entgegen. Aber auch den beiden juristischen Autoren ist es darum zu tun, jede antijüdische Interpretation des Prozesses Jesu hintanzuhalten, sie weisen mehr als einmal darauf hin, dass gerade die juristische Betrachtung nicht zu einer Identifizierung eines „Schuldigen“ am Tod Jesu führt, wie es die antijüdische christ liche Tradition ja jahrhundertelang vorexerzierte. Insbesondere die Rolle des „Volkes“ für den Ausgang des Prozesses Jesu wird in extenso diskutiert. Kneucker und Welan gehen dabei vor allem auf das Johannesevangelium ein, dessen Passionserzählung von den anderen Evangelisten abweicht und in dem sich so wirkmächtige Szenen wie die Frage des Pilatus an Jesus, „Was ist Wahrheit?“, finden. Die rechtsphilosophische Fragestellung dieser Szene ist der eigentliche Hintergrund des Buches, denn es bezieht sich explizit auf die Auseinandersetzung des Rechtsphilosophen und wesentlichen Schöpfers der österreichischen Verfassung, Hans Kelsen (1881–1973), der die Frage des Pilatus an Jesus in seinen Schriften „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ und „Was ist Gerechtigkeit?“ anspricht. Kelsen, der jüdischer Herkunft war, konvertierte Anfang des 20. Jahrhunderts zum Katholizismus, trat dann aber in die Evangelische Kirche A.B. über. Er gilt als einer der bedeutendsten Verfechter des Rechtspositivismus, das heißt eines Rechtsverständnisses, das von staatlich gesetzten Normen als rechtssetzender Autorität ausgeht. Es ist zweifellos interessant, dass sich dieser Rechtstheoretiker auch mit der vom Prozess Jesus überlieferten Wahrheitsfrage auseinandersetzt. Dass sich gerade der Protestant Kneucker mit dem Zugang Kelsens auseinandersetzt, ist mehr als verständlich. Was die beiden juristischen Autoren herausarbeiten, ist eine kritische Würdigung von Kelsens These, dass die Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“ eigentlich als die Frage „Was ist Gerechtigkeit?“ zu lesen sei. Kneucker und Welan versuchen in der Folge darzustellen, was für Kelsen Gerechtigkeit bedeutet und wie konstitutiv für ihn diese für die Demokratie ist. Es ist interessant, diese Überlegungen aus Kelsens Bemerkungen zum Prozess Jesu zu entwickeln und auch theologische Überlegungen einfließen zu lassen. Politische Perspektiven für heute Die Autoren diskutieren diese Fragen aber auch in der Dimension des religiösen Glaubens, die sie der Kelsen’schen Auseinandersetzung von Wahrheit und Gerechtigkeit beistellen. Sie machen unter anderem darauf aufmerksam, dass Kelsen in späteren Jahren göttlichem Recht und Naturrecht durchaus einen Platz zubilligte, was bei einem reinen Rechtspositivisten wohl erstaunen musste. Weiterentwicklungen des Konzeptes von Gerechtigkeit – etwa bei John Rawls –, die für das Funktionieren von Demokratie unabdingbar sind, sprechen die Autoren ebenfalls an. Ein auch für interessierte Laien gewinnbringender Essay, an dessen Ende man sich erstaunt in Erinnerung ruft, dass hier der Ausgangspunkt für politische Perspektiven von heute die Passionsgeschichte Jesu ist. Und diese Geschichte ist, wie das Buch zeigt, ganz gewiss nicht von gestern. Hans Kelsen zitiert den Prozess Jesu: Die Fragen des Pilatus Wahrheit – Gerechtigkeit – Glaube Von Raoul Kneucker und Manfried Welan. Leykam 2023 112 S., kart., € 25,95 Im Jänner 1898, auf dem Höhepunkt der Dreyfus-Affäre und auf dem Gipfel der antisemitischen Ausschreitungen in den Straßen von Paris, veröffentlichte Georges Clemenceau sein „Manifest der Intellektuellen“. Es waren nun „die Intellektuellen“, die ihre Stimme im Namen der Gerechtigkeit einsetzten und den Geist der französischen Revolution gegen den reaktionären Furor der Anti-Dreyfusards verteidigten. Natürlich gab es Gebildete auf beiden Seiten der Affäre, und gerade der Antisemitismus vieler Studenten gehörte zum traurigen Alltag jener Zeit. Das frisch gemünzte Wort l’intellectuel, welches zunächst einen weltfremden Taugenichts bezeichnete, wurde jedoch bald zum Synonym für all jene, die sich mit ihren Reden und Pamphleten gegen die Welle des modernen Judenhasses stemmten. Und so entstand in diesem Gefecht der Worte eine schier unüberbrückbare Kluft zwischen der „Republik der Professoren“ und der Republik des „Volkes“. Die Geschichte des Anti-Intellektualismus beginnt mit diesem historischen Ereignis, und bis zum heutigen Tage gelten „die Intellektuellen“ oft als privilegierte Faulenzer, die wenig von der wirklichen Welt verstehen. Derselbe Anti-Intellektualismus stand auch auf dem Wahlprogramm des einstigen (und vielleicht künftigen) US-Präsidenten Donald Trump. Und er steht heute wieder im Mittelpunkt eines immer tieferen Abgrunds zwischen der Welt der Universitäten und der Welt der wirklichen Dinge. Doch hat sich eine erstaunliche Umkehr vollzogen: Während die Intellektuellen der Dreyfus-Ära gegen die antisemitische Justiz pamphletierten, protestieren viele der Intellektuellen von heute gegen die bloße Existenz des jüdischen Staates. Und wer heute an amerikanischen Universitäten lehrt, wird sich manchmal fragen müssen, ob diese Universitäten noch etwas von der Welt verstehen. Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA. Von Asher D. Biemann

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