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DIE FURCHE 21.03.2024

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DIE FURCHE · 12 14 Literatur 21. März 2024 Von Maria Renhardt Dichterin ist eine der wichtigsten und sie verdient, in der ganzen Welt bekannt „Unsere gemacht zu werden“, schreibt Thomas Bernhard 14 Jahre nach dem Tod Christine Lavants. Ihre „Sehnsuchtsgedichte“ seien, setzt er fort, „aus diesem fürchterlichen geistlosen Kärnten“ entstanden. Ihren 50. Todestag im Vorjahr hat der Wallstein Verlag zum Anlass genommen, ein bemerkenswertes „biografisches Porträt“ herauszubringen, eine eindrucksvolle Sammlung erstmals zugänglicher „Briefe, Texte und Dokumente“, chronologisch zu einem „Mosaik“ zusammengestellt, ausgewählt und kommentiert vom Literaturwissenschafter Klaus Amann. Dass diese Publikation ihr Bild in der Öffentlichkeit nachhaltig verändern wird, darüber waren sich Lavant-Kenner im Feuilleton rasch einig. Noch nie hat man bislang so intime und umfassende Einblicke in das entbehrungsreiche, schwierige und emotional intensive Leben der Autorin gewonnen. Inspirationsquelle Rilke Widerständen entgegen Widrigkeiten begegnete Christine Lavant (1915– 1973) schreibend. Es entstanden Gedichte und Erzählungen, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. In seinem Vorwort steckt Amann die Koordinaten ihres Lebens- und Schaffenskosmos im Kontext ihres sozialhistorischen Umfelds neu ab. Christine Thonhauser, die sich nach dem Tal und Fluss ihrer Heimat Lavant genannt hat, entstammt armen Verhältnissen, in denen sie große Geborgenheit und Liebe erfährt. Dennoch durchlebt sie aufgrund ihrer chronischen Krankheit eine schwere Kindheit. Mit 16 verübt sie den ersten Suizidversuch. Sie liest viel und beginnt nach der Begegnung mit der Lyrik Rilkes und Hamsuns „Das Letzte Kapitel“ selbst Gedichte und Prosa zu verfassen. Fortan wird das eigene Leben zum literarischen Urgrund und Katalysator ihres Schreibens zwischen Strickarbeit für den Broterwerb und der Versorgung und Pflege ihres um 36 Jahre älteren Mannes in einer glück- und lieblosen, aber vor allem traurigen Ehe. Im November 1950 tritt sie als eher noch unbekannte Autorin bei den St. Veiter Kulturtagen erstmals öffentlich auf. Ihr Erscheinen hält der Schriftsteller Ludwig Mack so fest: „Unter den letzteren war Christine Lavant. Sie kam. Und wie sie kam! Mit Kopftuch, schwarzem ‚Schlawangger‘, schwarzem Rock, ein zusammengeknotetes Tüchl in Lesen Sie auch Maja Haderlap über Christine Lavant: „Vielleicht etwas Rettendes“ vom 27.10.2021 auf furche.at. Die Kärntner Schriftstellerin Christine Lavant ist immer noch zu wenig beachtet. Zwei bedeutende Publikationen erinnern an sie: Biografisches in Form vielfach unveröffentlichter Briefe und Dokumente sowie eine berührende persönliche Spurensuche durch Jenny Erpenbeck. „Verführt wird die Seele immer in das was ihr das Gefährlichste ist“ „ Die nun veröffentlichten Briefe und Dokumente sind eine wahre Fundgrube für über raschende und facettenreiche Fenster in ihre Lebens-, Liebes- und Schreibwelt. “ der Hand, in dem sich ihre Geldbörse und ein Kamm befanden […] – und sie schlug alle in ihren Bann. So begann ihr Weg.“ Damals lernt sie den Maler Werner Berg kennen. Sofort entspinnt sich zwischen den beiden ein Briefwechsel, der hier erstmals einsehbar ist und eine explosiv aufkeimende innige Liebe offenlegt. Schon in seinem ersten Brief spricht Berg von ihrer „Schönheit, Seelenkraft und Größe“, die ihn „wie der Blitz einst den Saulus von Damaskus“ getroffen habe: „Ich trank mich endlich selbst in Ihre Augen hinein und konnte mit denen ungeahnte Herrlichkeiten sehen.“ Obwohl sie anfangs vor allem seiner Frau wegen dieser Liebe gegenüber zurückhaltend ist, sieht Lavant diese Beziehung bald als Neubeginn und ekstatische Kraftquelle – auch für ihr Schreiben, wiewohl ihr Mann, den sie nur mehr „Herr Habernig“ nennt, sie autoritär mit erpresserischen Methoden zu unterbinden versucht. Bergs Ehefrau duldet die Verbindung zunächst, doch nach ihrem Zusammenbruch und einem Suizidversuch Bergs verbietet sie ihr jegliche Kontaktaufnahme. Geistig verbunden bleibt Lavant mit ihm dennoch bis zu ihrem Tod. Die Trennung markiert eine Wende für ihr Schreiben, das zu vertrocknen beginnt. Mysteriöses Literaturwunder Über Thomas Bernhard freundet sie sich mit Gerhard und Maja Lampersberg an, sie hat Kontakt mit bekannten Autorinnen und Autoren ihrer Zeit, erhält Preise und wird auch privat gefördert. Selbstzweifel bleiben permanent. Nach Aufenthalten in Pflegeheimen und einem Intermezzo in Klagenfurt kehrt sie aus Heimweh wieder nach St. Stefan mit Blick auf die Koralpe zurück, der sie sich magisch verbunden fühlt. „Es ist soo gut, daheim zu sein“, schreibt sie. Ihrem vermutlich letzten Brief an Berg ist der Abschied eingeschrieben: „Behüt Dich Gott Werner. Unter meinen Polstern ist das Schutzengelbuch“ – es wurde unter den Trümmern seines im Krieg zerstörten Elternhauses gefunden. Berg hatte es Lavant geschenkt. Amann unterstreicht Christine Lavants Außenseiterposition in der Nachkriegszeit, in der sie als „mysteriöse[s] weibliche[s] Literaturwunder aus der Provinz“ wahrgenommen wurde, […] „unbelastet von Tausendjährigen und anderen Hypotheken“. Die nun veröffentlichten Briefe und Dokumente sind eine wahre Fundgrube für überraschende und facettenreiche Fenster in ihre Lebens-, Liebes- und Schreibwelt. Amanns Ziel, den Blick auf Lavant zu verrücken, zu irritieren oder neu zu ermöglichen, ist vollends aufgegangen. Foto: Privat Einen sehr persönlichen Zugang für die Beschäftigung mit Christine Lavant wählt die deutsche Autorin Jenny Erpenbeck. Als sie „Mitte der Neunziger“ einige Jahre in der Nähe von Graz verbringt, kommt sie das erste Mal mit ihren Gedichten in Berührung. Sie besucht Orte, die mit ihr in Verbindung stehen, erschließt Kontexte aus deren Bücherregal und geht ihren Lebensspuren in Quellen nach, dem „Hadern mit Gott“, dem Verstummen während der Nazizeit, den Aufenthalten in der „Landes-Irrenanstalt“, über die sie später schreibt, den Erfahrungen sexueller Belästigung und ihrer großen Liebe. Biografische Tiefenbohrung Erwähnung finden hier auch grausame „Gewalterfahrungen“, die mit Bleiburg und den Kärntner Slowenen verknüpft sind. Berg hat immer Stellung für die Minderheiten bezogen und wurde dafür geächtet. Heute gibt es hier sein Museum. Lavant hingegen zeigt kaum Interesse für Politik. Offen bleibt für Erpenbeck, ob sie gewusst hat, dass der mit ihr befreundete Otto Scrinzi „am Institut für Erb- und Rassenideologie“ tätig war. Auch zu Ingeborg Teuffenbach, die ihre ideologische Verirrung später bereut hat, hält sie engen Kontakt. Lavant war sich „der Verbrechen der Nazis wohl bewusst“ und hat mit jüdischen Autorinnen und Autoren darüber kommuniziert: „Schuld u. Scham u. Erbarmen darüber werden immer größer in mir.“ Erpenbecks Blick auf Lavant geht von der Lektüre und zahlreichen Quellen aus. Ihre archäologische Tiefenbohrung zeigt Lavants Gratwanderungen entlang ihrer Sehnsüchte und Verletzungen als „Spinngewebe“ und eine bedeutende Autorin oft am „Lebensrand“: „Oh Spindel, gib dein Geheimnis her!“ „Ich bin maßlos in allem“ Biographisches von Christine Lavant. Ausgewählt und kommentiert von Klaus Amann Unter Mitarbeit von Brigitte Strasser Wallstein 2023. 455 S., geb., € 35,- Über Christine Lavant Von Jenny Erpenbeck Kiepenheuer & Witsch 2023 160 S., geb., € 20,60

DIE FURCHE · 12 21. März 2024 Literatur 15 Der Goncourt-Preis-Träger Mathias Énard ist ein Meister der Kombinatorik. Fiktion und Realität verschmelzen in seinem neuen Roman „Tanz des Verrats“ zu einer großen Erzählung über Krieg und Widerstand, über Verrat und Vertrauen, Liebe und Hoffnung. Die Unendlichkeit im Endlichen Von Ingeborg Waldinger Mathias Énard und der Krieg: Seit seinem Roman debüt „Der perfekte Schuss“ im Jahr 2003 schreibt sich der französische Träger des Prix Goncourt an den schwarzen Kapiteln der Weltgeschichte entlang. Dabei rückt er aktuelle Ereignisse in ein räumlich wie zeitlich breites Bezugsfeld. Das konfliktreiche Verhältnis zwischen Orient und Okzident dient ihm häufig als zusätzliche Folie. Mathias Énard hat Arabisch und Persisch studiert. Er übersetzt Literatur aus beiden Sprachen und hielt sich lange Zeit im Mittleren Orient auf. Auf diesen Pfeilern basiert auch sein 2023 erschienener Roman „Déserter“ (Desertieren), der nun unter dem Titel „Tanz des Verrats“ auf Deutsch vorliegt. Die meisterliche Übersetzung besorgte das bewährte Duo Holger Fock und Sabine Müller. Ursprünglich, so der Autor in einem Interview mit der Revue des Deux Mondes, wollte er nur die Geschichte des fiktiven deutschen Mathematikgenies und KZ-Überlebenden Paul Heudeber erzählen. Der Ukrainekrieg bewog ihn zur Einfügung eines zweiten Erzählstrangs; er handelt von einem anonymen Deserteur aus einem unbenannten Krieg. Zunächst ist kein Berührungspunkt zwischen den beiden Lebenswegen auszumachen. Eröffnet wird der Roman mit einer atmosphärisch dichten Szene. Der namenlose Soldat hat sich dem Krieg entzogen, doch der Krieg klebt an ihm. Als Gestank, als Dreck, als verkrustetes Blut. Der Fahnenflüchtige aus dem Siegerlager trägt noch sein Gewehr – und im Kopf die Bilder der Gewalt. Seine Erschöpfung und Zerlumptheit kontrastieren mit dem Reiz der erwachenden Natur. Er schlägt sich durch ihm vertrautes, küstennahes Vorgebirge, eine mediterrane Idylle, erfüllt vom Duft wilden Thymians und blühender Bäume. Der Mann sucht Zuflucht an einem Ort der Kindheit. In der entlegenen Hütte seines Vaters will er Kräfte sammeln, um über den nahen Grenzpass nach Norden zu fliehen. Doch plötzlich gerät er in eine ganz andere Grenzsituation. Der Autor schickt ihm eine gemarterte Frau über den Weg, auch sie eine Flüchtende aus jenem Krieg. Sie stammt aus demselben Dorf wie der Mann, weiß um seine Gewalttaten und rechnet mit dem Schlimmsten. Das Dilemma des Deserteurs: Was tun mit dieser potenziellen Verräterin? Die Wahrheit hat viele Gesichter Ein einäugiger Esel, alt und wund, begleitet die Frau. Geschundene Kreaturen alle beide, die schwer an der Rohheit der Welt tragen. Die französische Originalausgabe illustriert die Bedeutung des Tiers, es ziert das Cover des Buches. Der Esel war das traditionelle Last- und Reittier einfacher Menschen des Südens. Die Kulturgeschichte schreibt ihm unterschiedliche Eigenschaften zu. Gilt er in der Antike vornehmlich als störrisch/dumm oder hyperpotent, steht er nach christlicher Lesart für Demut oder unschuldiges Leid. Nicht zu vergessen seine „tragende Rolle“ bei der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten. Auch Énards romanesker Esel hat eine höhere Mission: Er errettet seine Herrin aus tödlicher Gefahr und weckt das Mitgefühl des Soldaten. Der beschließt, Frau und Tier zu versorgen, zu pflegen. Aber ist seiner humanen Regung zu trauen? Der buchstäblich steinige Weg des Trios gestaltet sich als hochdramatisch. Die Frau bleibt stumm und namenlos, ihr Schicksal offen. Der Soldat aber tritt aus der Anonymität heraus. Die Fäden des Strippenziehers beginnen sich zu verschlingen, spät und spektakulär. Mathias Énard versteht es, die Spannung hochzuhalten. Dezent gestreute Hinweise machen den Krieg verortbar. Mann wie Frau fliehen aus dem Spanischen Bürgerkrieg, beide wollen über die katalanischen Pyrenäen nach Frankreich gelangen. Der Autor kennt die Topografie und Geschichte der Region gut, er lebt seit vielen Jahren in Barcelona. Auch mit Berlin, dem zweiten Ort der Handlung, ist er bestens vertraut. Die Flucht des Deserteurs wird auktorial entrollt. Die Geschichte des tragisch aus dem Leben geschiedenen Heudeber erschließt sich aus der Erzählung seiner Tochter Irina, einer Mathematikhistorikerin. Ihr Erinnerungsbild wird um weitere Perspektiven ergänzt. Denn die Wahrheit hat viele Gesichter. Angelpunkt dieses Erzählstrangs ist ein im September 2001 zu Ehren des Wissenschafters angesetztes Symposium. Auf Majas Bitte fand die Veranstaltung auf einem Ausflugsschiff, der am Wannsee vertäuten „Beethoven“, statt. „ Der Autor kennt die Topografie und Geschichte der Region gut, er lebt seit vielen Jahren in Barcelona. Auch mit Berlin, dem zweiten Ort der Handlung, ist er bestens vertraut. “ Ein geschichtsträchtiger Ort, ein symbolstarkes Datum. Die Heudeber-Tage hatten eben begonnen, als die Bilder von den Terroranschlägen 9/11 „in Endlosschleife“ über die Fernsehschirme flimmerten. Der Atem der Welt stockte, das Symposium wurde abgebrochen. Mit den Twin Towers implodierte auch der Glaube an eine Art Frieden und an den finalen Triumph des Kapitalismus. Ein neues Kapitel der Gewalt war aufgeschlagen, eine neue Ära eingeläutet. Krieg ist immer und überall. Lässt sich sein erstes Beben, das der Gewalt „vorausgehende, brünstige Röhren“, rechtzeitig wittern? Kann man den Krieg je verlassen, vergessen? Paul Heudeber war mit Maja vor dem Nationalsozialismus nach Belgien geflohen, in Lüttich verhaftet und ins südfranzösischen Internierungslager Gurs transportiert worden. Dort brachte er den Lagergenossen den Reiz der Mathematik näher. Er konnte fliehen, kehrte zurück zu Maja in den Lütticher Untergrund, wurde abermals verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Maja hatte den Zweiten Weltkrieg im belgischen Widerstand durchgestanden. Sie machte im Westen Karriere, als Frauenrechtlerin und Abgeordnete der SPD. Dafür verließ sie Mann und Kind. Paul hielt an seiner Liebe zu ihr fest , machte sie zu einem Gegenstand des Geistes. 1945 kehrte der „antifaschistische Mathematiker“ zurück nach Berlin und wurde zur gefeierten Persönlichkeit Ostdeutschlands. FEDERSPIEL Aper Ski Foto: Marie-Lisa Noltenius Grenzläufer Er interessiert sich für das Verhältnis von Orient und Okzident und arbeitet sich kontinuierlich an den dunklen Kapiteln der Geschichte ab. Für seinen Roman „Kompass“ erhielt Mathias Énard (*1972) den französischen Literaturpreis Prix Goncourt des Jahres 2015. Er glaubte an den Kommunismus als Weg zu einer besseren, gerechteren Welt; für die totalitäre Kehrseite fand er indes keine Rechtfertigung. Bestürzt über den Zusammenbruch des Ostblocks und die Rückkehr des Krieges nach Europa verfiel er in Melancholie. Die Mathematik, dieses „andere Wort für Hoffnung“, konnte ihn nicht mehr trösten. „Ich betrachte das Meer und warte darauf, über den Winter zu schließen“, schrieb er 1995 – aus Katalonien – an Maja. Das Mittelmeer spülte seinen Leichnam ans Ufer. Der perfekte Bogen Mathias Énard ist ein Meister der Kombinatorik. Fiktion und Realität verschmelzen zu einer großen Erzählung über Krieg und Widerstand, über Verrat und Vertrauen, Liebe und Hoffnung. Auf einer zweiten Ebene geht es um die Nahtstellen von Mathematik und Literatur. Der Wissenschafter Heudeber glänzt als Poet der Algebra. Sein Opus magnum, die im KZ verfassten „Ettersberger Vermutungen“, heißen im Untertitel „mathematische Elegien“. Heudebers Tochter wiederum schlägt die Brücke zu einem – realen – persischen Mathematiker, Astronomen und Philosophen des Mittelalters. Sie forscht über Nasiruddin Tusi, einen Gelehrten mit fragwürdiger politischer Rolle – und ausgeprägter poetischer Ader. Mathematik und Literatur: Was beide Disziplinen eint, ist die Polarität von Ordnung und Gedankenspiel, von Abgrenzung und Entgrenzung, Maß und Unermesslichkeit. „C’est l’infini dans le fini“: Mit diesen Worten würdigte Baudelaire die Vorstellungskraft des Malers Eugène Delacroix. Das Zitat findet sich auch im Kapitel „Zählen“ von Heudebers „Ettenberger Vermutungen“: „Die Unendlichkeit im Endlichen“. Noch nie war der Anblick der Wintersportorte so bedrückend wie in diesem Winter, der schon im Februar mit blühenden Zierkirschen ausgeklungen ist. Die Bilder von Menschen, die in dieser Zeit auf schmalen Kunstschneestreifen inmitten saftig grüner Landschaft bergabrutschen, sind ebenso traurig wie die Vorstellung, dass man das Grasski- Vergnügen für einen Apfelstrudel unterbricht, der in einem Jahr um 75 Prozent teurer geworden ist und abends beim Bierpong das Immunsystem stärkt. Die menschliche Stärke, Veränderungen zu ignorieren und renitent für den Verbleib von etwas einzutreten, das einen davor gar nicht interessiert hat, zeigte sich nicht nur bei der Einstellung der Wiener Buslinie 75A, sie ist auch besonders ausgeprägt im Alpin-Ski-Tourismus. Mit seinem Untergang gehe auch, so heißt es dann, ein ganzer Wirtschaftszweig unter. Als ob das ein Argument wäre! Tausende Industrien und Berufe wurden von Computer, Digitalisierung und Vernetzung in den letzten Jahrzehnten weggefegt. Ich kann mich an keine Demo der Schreibmaschinenhersteller anlässlich der bedrohlich steigenden Verwendung von Textverarbeitungsprogrammen erinnern. Auch nicht daran, dass hartnäckige Schreibmaschinenverfechter weiter ihre Manuskripte im Durchschlag an Zeitungen und Verlage geschickt hätten. „Es ist vorbei“, möchte man dem Alpin- Ski- Menschen zurufen. Und wäre es nicht ohnehin ein Segen, wenn die von Planierraupen, Seilbahnen und Pisten verschandelten Berge sich von ihren Hautkrankheiten erholen könnten? Ich erinnere mich daran, wie wir in den Siebzigern mit dem Auto verreist sind: Die Kinder tollten unangeschnallt auf dem Rücksitz, die Eltern rauchten vorne. Es ist nicht um alles schade, was vergangen ist. Der Autor ist Schriftsteller. Tanz des Verrats Roman von Mathias Énard Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller Hanser Berlin 2024 256 S., geb., € 25,70 Von Daniel Wisser

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