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DIE FURCHE 20.07.2023

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DIE FURCHE · 29 6 International 20. Juli 2023 FORTSETZUNG VON SEITE 5 als Nationalität oder Judentum als Religion? Für Staatsgründer Ben Gurion war Judentum als Nationalität wichtiger. Gleichzeitig akzeptierte er, dass die streng-gläubigen Juden in einer Parallelgesellschaft nach Gottes Gesetzen lebten. Es waren damals ja nur wenige Hundert. Mittlerweile beträgt der Anteil der Ultra-Orthodoxen in Israel 13 Prozent. Bei sechs oder auch mehr Kindern pro Familie, rechnen die Statistiker damit, dass es in rund zehn Jahren 18 Prozent sein werden. Sie zahlen keine Steuern, leisten keinen Militärdienst, studieren ausschließlich Gottes Wort. Am liebsten würden die nationalistisch-religiösen Hardliner die ganze Gesellschaft ihren göttlichen Gesetzen unterwerfen. Sie wollen keinen Strom mehr am Schabbat, Geschlechtertrennung im öffentlichen Nahverkehr und einen Staat Groß-Israel in seinen ursprünglich biblischen Grenzen. Ihre Forderungen sind sehr laut geworden, seitdem klar ist, dass Netanjahu ohne sie keine Mehrheit hätte. „ Die grundsätzliche Frage blieb ungelöst: Judentum als Nationalität oder Judentum als Religion? Für Staatsgründer Ben Gurion war die Nationalität wichtiger. “ Finanzminister Bezalel Smotrich bezeichnet sich selbst als homophob und Araber-Hasser. Er hat sich für die „Ausradierung“ palästinensischer Gebiete im besetzten Westjordanland ausgesprochen. Genauso ein erklärter Feind der Palästinenser ist der rechtsextreme Siedler Itamar Ben-Gvir, den Netanjahu zum Minister für Nationale Sicherheit machte. Ben-Gvir punktet bei seinen Leuten, in dem er die Sicherheitskräfte mit extremer Härte gegen militante Palästinenser vorgehen lässt. Zuletzt bei der Großoffensive im Flüchtlingslager Dschenin. Miteinkalkuliert sind tote Zivilisten und die Gefahr, dass der ewige Konflikt mit den Palästinensern einmal mehr gefährlich eskaliert. Denn auch auf der palästinensischen Seite setzen sich die extremistischen Hardliner der Hamas und des Islamischem Dschihad immer stärker durch. Dabei sind die militanten Palästinenser aktuell die schwächsten Gegner. Erzfeind Iran und die Hisbollah im Libanon lauern auf jede Schwäche. Das Wissen darum vereint nun wieder Regierung wie Gegner. Hier könnte ein möglicher gesichtswahrender Ausweg aus der Krise sein. Aber zunächst: Womit die Regierung nicht gerechnet hatte, ist der lange Atem der Widerstandsbewegung. Dass die säkularen, weltoffenen, queer-freundlichen Tel Aviver besonders massiv bei den Protesten vertreten sind, würden sie in der Jerusalemer Knesseth wohl noch am leichtesten aussitzen. Gilt die Party-Metropole am Mittelmeer doch seit jeher als „Bubble“. Eine Blase, die nichts mit dem Rest des Landes zu tun hat. Schwieriger wird es, seitdem sich immer mehr religiöse Jüdinnen und Juden den Protesten angeschlossen haben. Viele haben die aktuelle Regierung gewählt. Dass sie sich nun aus Sorge um die Demokratie von Netanjahu abwenden, dürfte ihn schmerzen. Eine Demütigung ist, dass ausgerechnet er und seine Frau Sarah, die Washington-Reisen doch besonders lieben, seit seiner Wiederwahl im November noch nicht ins Weiße Haus zu Israels wichtigsten Verbündeten eingeladen worden sind. US-Präsident Biden hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er – anders als sein Vorgänger Trump –, Netanjahus Regierungsstil nicht schätzt. Biden sprach sogar von der „extremistischsten Regierung“, die er je gesehen habe. Statt Netanjahu hat Biden diese Woche Israels Staatspräsident Isaac Herzog im Oval Office empfangen. Herzog mahnt seit Monaten, Israel stehe „am Rande eines gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Zusammenbruchs“. Verteidigungsfähigkeit bedroht Mit Abstand am härtesten trifft Netanjahu aber die Drohung der Reservisten. Mehr als 4000 haben angekündigt, entweder sofort oder nach der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes nicht mehr einzurücken. Unter ihnen viele Reservisten der Luftwaffe, von Sondereinheiten des Militärgeheimdienstes, Mitglieder verschiedener Cyberkrieg-Einheiten sowie des Inlandsgeheimdienstes „Shin Bet“. Sollten sie ihre Drohung wahrmachen, wäre Israel nicht mehr verteidigungsfähig. Da die Hisbollah an der Nordgrenze gerade wieder zündelt – einige ihrer Kämpfer haben die Grenze zu Israel überschritten – könnte dies für Netanjahu ein Grund sein, die umstrittene Justizreform bis nach der Sommerpause zu verschieben. Mit dem Hinweis, vorrangig sei nun die existenzielle Sicherheit des Landes. Seine Koalitionspartner werden aber ordentlich Druck machen, das Vorhaben bis Ende Juli durchzuziehen. Wie auch immer diese Runde im Machtpoker ausgeht. Der Kulturkampf um die künftige Ausrichtung von Eretz Israel hat erst begonnen. Aber solange all die EU-Reisepässe nur zum Reisen und nicht zum Auswandern benutzt werden, überwiegt bei der Mehrheit offenbar noch, getreu der israelischen Nationalhymne: Ha Tikva, die Hoffnung. Die Autorin war sechs Jahre Korrespondentin in Israel und ist nun Redaktionsleiterin Ausland beim Bayerischen Rundfunk. TV-Tipp: „Weltspiegel“-Dokumentation unter dem Titel: „Israel. Auf dem Weg in den Gottesstaat“ Zu sehen auf www.ardmediathek.de Foto: flickr.com/photos/voxespana Rechtes Treffen „Vox“-Spitzenkandidat Santiago Abascal (re.) sucht immer wieder die Nähe von Ungarns Viktor Orbán und soll dessen Politikstil bewundern. Vor den vorgezogenen Neuwahlen in Spanien versucht die „Vox“-Partei Neuwähler(innen) mit franquistischer Diktion zu ködern. Mit Erfolg. Nicht zuletzt aufgrund der Geschichtsunwissenheit der spanischen Jugend. Zielgerichtete Botschaften Von Brigitte Quint Es ist die Generation 50 plus, die einen Rechtsruck befeuert – so die gängige Erklärung von Wahlforschern, wenn es darum geht, warum Rechtspopulisten in einem Land großen Zulauf finden. Der Brexit wird auf dieses Phänomen zurückgeführt, genauso wie Melonis postfaschistische „Fratelli d‘Italia“ an der Spitze Italiens, Polens „PiS“, der Aufstieg der „Alternative für Deutschland“, die Popularität von Marine Le Pen in Frankreich und nicht zuletzt das Umfragehoch der FPÖ. „Doppelköpfiges Monster“ „ Tief blicken lässt die Performance von „Vox“-Obmann Abascal, mit der er seine weltanschauliche Haltung untermauert. “ In der Tat schaffen es einschlägige Parteien und Bewegungen immer wieder, vor allem einem älteren (und oftmals männlichen) Teil der Bevölkerung glaubhaft zu vermitteln, sie würden alles daransetzen „die guten alten Zeiten“ zu reaktivieren. Sie geben vor „bewährte“ Normen und Regeln wertzuschätzen, während diese von (radikalen) Klimaschützern, LGBT*-Aktivisten, der Queer-Community und/oder „links-linken Weltverbesserern“ gegenwärtig mit Füßen getreten würden. Spätestens am 23. Juli, wenn in Spanien nach den vorgezogenen Neuwahlen die Wahllokale schließen, die ersten Hochrechnungen ausgestrahlt werden, dann könnte in Europa ein zusätzliches Narrativ auf den Plan treten: Die Geschichtsunwissenheit der Jugend – als Begründung für den Höhenflug der „Vox“ (zu deutsch: Stimme). So dürfte laut Prognosen die Sozialistischen Partei PSOE von Ministerpräsident Pedro Sánchez abgewählt werden und an dessen Stelle die zweite große Volkspartei – die konservative Partido Popular (PP) – als stärkste Kraft hervorgehen. Diese wiederum buhlt um die Unterstützung der rechtsextremen Partei Vox, die als potenzielle Koalitionspartnerin gehandelt wird, um Spitzenkandidat Alberto Núñez Feijóo ins Amt des Regierungschefs zu heben. Ein Tandem, das auf kommunaler Ebene bereits Bündnisse eingegangen ist und von der jeweiligen Opposition als „doppelköpfiges Monster“ geschmäht wird. Vox, angeführt von Santiago Abascal (47), ist keine zehn Jahre alt. Die Partei wurde Ende 2013 von ein paar unzufriedenen PP-Politikern gegründet, die sich eine energische Strategie gegen die Zersplitterung Spaniens wünschten. Das war keine Sorge, die viele Spanier teilten – bis zum Herbst 2017, als die katalanische Regionalregierung ein illegales Unabhängigkeitsreferendum organisierte. Die Stimmung im Rest des Landes kippte fast von einem Tag auf den anderen. Im Dezember 2018 zog die Partei mit knapp 11 Pro-

DIE FURCHE · 29 20. Juli 2023 International 7 „ Die Ultrarechten begegnen den jungen Spanierinnen und Spaniern genau dort, wo ein Gutteil ihres Soziallebens stattfindet: auf TikTok und Instagram. “ Es war der amtierende Ministerpräsident Pedro Sánchez, der auf vorgezogenen Neuwahlen bestand. Ob er diesen Vorstoß bereits bereut? zent ins andalusische Regionalparlament ein, bei den nationalen Parlamentswahlen im April 2019 kam sie auf gut 10 Prozent, bei den Neuwahlen sieben Monate später auf 15 Prozent. Im aktuellen Wahlkampf setzt Vox insbesondere auf die jungen Wählerinnen und Wähler bzw. Neuwähler. Eine durchaus gewiefte Strategie: 1,6 Millionen junge Spanier werden kommende Woche zum ersten Mal an einer Parlamentswahl teilnehmen. Und Spaniens Jugend befindet sich seit Jahren in einer prekären Situation. Die Jugendarbeitslosigkeit im Land (insbesondere in Westspanien, auf den Kanaren oder in den Exklaven Ceuta und Melilla) ist laut Eurostat die höchste in der EU. Obwohl die Arbeitslosigkeit bei den 16- bis 24-Jährigen zuletzt gesunken ist, liegt sie nach wie vor bei 28,4 Prozent. Vox versucht nun mit den Themen „Rückendeckung für die abgehängte Jugend“, „Ein Nein gegen die von Madrid gemachte Perspektivenlosigkeit“, „ Junge Spanier zuerst“ zu punkten, was ihr auch zu gelingen scheint. (Ministerpräsident Pedro Sánchez fiel nur ein, das Interrail-Zugticket durch Europa zur Hälfte staatlich zu subventionieren, was für viele eher ein Zeichen dafür ist, wie wenig Einblick er in die Alltagsproblemen der nachkommenden Generation hat.) Bildungspolitik als großes Manko Allerdings vermag es auch Vox nicht – ähnlich wie deren rechtspopulistische Pendants im übrigen Europa – konkrete politische Lösungen vorzuschlagen, um die Aussichten der Jugend nachhaltig verbessern zu können. Was sie aber verstanden Foto: APA/AFP/Pau Barrena hat: Die Ultrarechten begegnen den Jugendlichen dort, wo ein Gutteil ihres Soziallebens stattfindet – in den sozialen Netzwerken, vor allem Tik- Tok und Instagram. Vox bespielt die entsprechenden Kanäle in großem Stil und lässt Influencer im Alter der jungen Zielgruppe ganz niederschwellig und humorvoll Wahlkampf für ihre Zwecke machen. Auf Instagram hat der offizielle Parteikanal von Vox 670.000 Follower. Zum Vergleich: PP und PSOE haben zusammengenommen nur 280.000. Und auf der chinesischen Plattform TikTok, wo eine noch jüngere Zielgruppe unterwegs ist, zählt Vox 232.000 Follower (achtmal so viele wie die Sánchez’ Sozialdemokraten). Tief blicken lässt auch die dortige Performance von Vox-Obmann Santiago Abascal. Gerne unterlegt er seine Reden mit dramatischer Musik und postet Fotos, die seine weltanschauliche Haltung untermauern sollen: Abascal vor einem riesigen Kreuz des Franco-Mausoleums, Abascal gemeinsam mit Ungarns Präsidenten Viktor Orbán, aber auch Abascal, der einer Ordensfrau die Hand reicht. Politologinnen wie Ana Salazar warnen seit langem vor seiner oder der Taktik der anderen Vox-Wahlkämpfer. Sie sieht etwa Anknüpfungen an den Franquismus, die vielen Jugendlichen kaum auffielen, weil diese oft wenig Geschichtswissen über die Diktatur hätten. Ein großes Manko der spanischen Bildungspolitik, seit Jahren ein kontrovers diskutiertes Thema – das allerdings eine rechte Regierung wohl erst recht nicht in den Griff bekommen würde. Im Gegenteil, wie Wissenschafterin Salazar gegenüber der Süddeutschen Zeitung anmerkt: „Gerade die Vox besetzt bestimmte Themen neu und deutet um, was bestimmte Begriffe bedeuten. Das ist gefährlich.“ Die „erste Wahl“ könnte über Spaniens Zukunft entscheiden. Im doppelten Sinne. Doch noch ist die Wahl weder für PP noch für Vox gewonnen. Es soll ja Überraschungen geben, die für den Überraschenden überraschender sind als für den Überraschten. Lesen Sie hierzu den Text von Manuela Tomic „Giorgia Meloni: Marine Le Pens böser Zwilling“ (13.8.2019) auf furche.at. Bezahlte Anzeige Wiener Rathausplatz Seit mittlerweile mehr als 30 Jahren lädt die Stadt Wien jeden Sommer zum kostenlosen Kultur-Genuss auf den Wiener Rathausplatz. 65 Tage lang bietet das Film Festival auch in diesem Jahr eine einzigartige Kombination aus musikalischen Highlights und erstklassiger Gastronomie. 1. Juli bis 3. September Gastronomie täglich von 11 bis 24 Uhr Film beginnt bei Einbruch der Dunkelheit Entdecke das vielfältige Programm und genieße auch du Kultur unter freiem Himmel! Foto: © ApolloFilm ® filmfestival-rathausplatz.at

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