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DIE FURCHE 20.06.2024

DIE

DIE FURCHE · 25 20 20. Juni 2024 Von Manuela Tomic Fangspiel Illu: RM MOZAIK Als ich in die Volksschule kam, konnte ich kein Wort Deutsch. Darum wurde ich nachmittags mit meinen Klassenkameraden Slaviša und Iwan zum Förderunterricht geschickt. Slaviša, der Slowene, war ruhig und verschreckt, Iwan, der Serbe, ein Draufgänger, vor dem sich alle fürchteten. Die Lehrerin setzte mich, die Bosnierin, zwischen die beiden Jungen, damit sie nicht rauften. Wir waren sieben Jahre alt und konnten uns nicht leiden. Wir lernten mit dem Lehrbuch „Mimi“. Sogar Iwan war konzentriert und zeigte inmitten verstaubter Overheadprojektoren und vergilbter Naturkundeplakate wahres Sprachtalent. Seine Furchtlosigkeit ließ ihn freier und falscher sprechen, während Slaviša ständig aufzeigte, um dann kein Wort über die Lippen zu bringen. Obwohl ich schüchterner war als Slaviša, war ich beim Sprechen furchtlos wie Iwan. Doch ich war auch fleißiger. Warum wir den Luxus eines Einzelunterrichts genossen, kapierte ich nicht. Am Ende des Schuljahres verabschiedete sich unsere Nachmittagslehrerin für immer. Geknickt schlurften wir auf den Pausenhof. Unsere Klassenkameraden spielten noch immer und brüllten uns zu. Der Bully Markus trug eine schwarze Armbinde. Iwan, Slaviša und ich blickten uns an. Wir rannten los. Fangspiel statt Sprachspiel. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Moderne Ansichten Alois Alzheimer wollte den Status quo in den Nervenanstalten, in denen er arbeitete, nicht mehr hinnehmen. Er und seine Kollegen erlaubten den Patienten, Ausflüge zu machen und warme Dauerbäder zu nehmen, um ihre Symptome zu lindern, anstatt sie einzusperren und in Zwangsjacken zu stecken. Von Manuela Tomic verblödet“, so bezeichnete der da- „Total mals 42-jährige Psychiater Alois Alzheimer in Tübingen seine Patientin Auguste Deter. Sie wurde nur 55 Jahre alt. Doch ihre Obduktion ließ den Mediziner auf ein völlig neues Krankheitsbild stoßen: Denn im Gehirn der Verstorbenen fand er eine Vielzahl von Eiweißablagerungen und abgestorbenen Nervenzellen. Damit hatte Alzheimer die schwerste und häufigste Form der Altersdemenz entdeckt. Heute leiden in Österreich rund 100.000 Menschen an der Krankheit, die nach ihm benannt wurde. Bis 2050 soll die Zahl sogar auf 151.400 Personen ansteigen. Weltweit leiden nach Schätzungen der NGO Alzheimer’s Dis ease International rund 50 Millionen Menschen an der häufigsten Demenz-Erkrankung. Dass Alzheimer eine später so häufig verbreitete Krankheit entdecken würde, damit konnte er selbst nicht rechnen. Aber was war er für ein Mensch? Sein Leben war mit jenem seiner Patientin Auguste Deter eng verknüpft. Alzheimer verbrachte Jahre mit ihr und begann durch sie im November 1901 die Erforschung einer Krankheit, die bis heute unheilbar ist. Als Auguste Deter in die „Anstalt für Irre und Epileptische“ in Frankfurt am Main eingeliefert wurde, begann Alzheimer mit den Notizen ihrer Symptome. Auf 31 handgeschriebenen Seiten widmet er sich den Folgen ihrer Krankheit: „Abnehmen des Gedächtnisses (…), schien sich nicht mehr auszukennen (…), versteht manche Fragen nicht (…)“. Foto: Getty Images / Corbis „ 1901 starb seine Frau Cecilie. Alzheimer stürzte sich in die Arbeit und begegnete jener Patientin, die zur Entdeckung der ungewöhnlichen Hirnkrankheit führen sollte. “ Fünf Jahre vor ihrer Einlieferung hatten bei Deter Wahnvorstellungen und Eifersuchtsideen begonnen. Der Hausarzt wies sie sofort in die Irrenanstalt ein. In dieser „Irrenschloss“ genannten stattlichen Villa in einem Park in der Frankfurter Innenstadt praktizierte der gebürtige Unterfranke Alzheimer seit 1888. Deter war bei ihrer Einlieferung erst 51 Jahre alt, und Alzheimer konnte sich Der Mediziner Alois Alzheimer berichtete 1906 erstmals über eine neuartige „Krankheit des Vergessens“. Ein Porträt des Psychiaters zu seinem 160. Geburtstag. „Der Irrenarzt mit dem Mikroskop“ nicht erklären, warum die völlig gesunde Frau, die weder traumatisiert noch vorbelastet war, solche scheinbar psychischen Wirrungen aufwies. Er machte sich an die Arbeit, interviewte die Frau unzählige Male, beobachtete sie, schrieb alles mit. Schon früh schien ihm klar gewesen zu sein, dass Deter anders ist als jene Patienten, die wegen psychischer Leiden in das „Irrenschloss“ eingeliefert wurden. Trotz des großen Rätsels, das Deter für Alzheimer darstellte, ließ der Arzt nicht locker. 1903 verlässt Alzheimer Frankfurt und wechselt an die Psychiatrische Klinik in München. Doch sein Interesse an Deters Krankheitsverlauf nimmt nicht ab. Nach Deters Tod am 8. April 1906 lässt er sich ihr Gehirn schicken und macht dann die Entdeckung der neuartigen Krankheit. Bereits früh war sich Alzheimer sicher, dass Deters Verwirrung keine psychischen, sondern körperliche Ursachen haben muss. Die Obduktion ihres Gehirns bestätigte seinen Verdacht. Geboren am 14. Juni 1864 im unterfränkischen Marktbreit als Sohn eines Notars, studierte Alzheimer nach seiner Schulzeit an den Universitäten Berlin, Tübingen und Würzburg Medizin. Seine Dissertation schrieb er zum wenig appetitlichen Thema „Über die Ohrenschmalzdrüsen“. Ein Jahr später begann er nach erfolgreichem Bestehen des Staatsexamens in Frankfurt als Assistenzarzt unter Emil Sioli an der „Städtischen Heilanstalt für Irre und Epileptische“ zu arbeiten. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für menschliche Gehirne, genauer widmete er sich Studien der Hirnrinde. Genannt wurde er deshalb von seinen Kollegen auch der „Irrenarzt mit dem Mikroskop“. Psychiatrische Anstalten waren zur Zeit von Alzheimer Orte, in denen schroffe Umgangsformen herrschten. Patienten wurden in Zwangsjacken gesteckt, eingesperrt und zwangsernährt. Alzheimer, sein Oberarzt Franz Nissl und der Leiter der Anstalt Emil Sioli wollten das ändern. Sie führten große Wachsäle mit vielen Betten ein und beruhigten Patienten mit warmen Dauerbädern. Ebenso erlaubten sie einigen von ihnen, sich im Park der Klinik frei zu bewegen oder Ausflüge zu machen. Deshalb gilt Alzheimer auch als Vorreiter der modernen Psychiatrie. 1894 bat ihn Wilhelm Erb, nach Algerien zu kommen und seinen Patienten Otto Geisenheimer zu untersuchen, einen Frankfurter Diamantenhändler. Der Patient litt an Gehirnerweichung und starb an der Krankheit. Alzheimer verliebte sich in die Witwe Cecilie Geisenheimer und kehrte mit ihr nach Frankfurt zurück. Von Alzheimer unbedrängt, trat die Jüdin zum katholischen Glauben über und heiratete Alzheimer im Februar 1895 kirchlich. 1901 starb Cecilie Alzheimer jedoch, und Alois Alzheimer blieb mit seinen drei Kindern allein zurück. Im selben Jahr stürzte er sich in die Arbeit, um seinen Kummer zu verarbeiten, und begegnete Auguste Deter, jener Patientin, die zur Entdeckung der damals neuartigen Hirnkrankheit führen sollte. „Ich habe mich verloren“ Heute stehen neue Therapien gegen Alzheimer kurz vor der Zulassung. Mithilfe von Antikörpern sollen die Ablagerungen, die Amyloid-Plaques im Gehirn bekämpft und so die Hirnleistung wiederhergestellt und die Krankheit verzögert werden. Alzheimer wird derzeit auch mit Antidementiva, Antidepressiva oder Neuroleptika behandelt. Nach wie vor gilt: Je früher die Krankheit erkannt wird, desto besser kann sie behandelt werden. Hauptrisikofaktor der Erkrankung bleibt das Alter: Rund ein Prozent der 60-Jährigen ist betroffen, bei den 90-Jährigen bereits 30 Prozent. Alzheimer zeigt sich vor allem in Form einer gravierenden Persönlichkeitsveränderung, Verhaltensstörungen und Gedächtnisund Konzentrationsschwächen. Das nach dem bayrischen Arzt benannte Leiden bleibt für Medizinerinnen und Mediziner auch 2024 eine große Herausforderung. Nach seiner Zeit in München zog es Alzheimer im Jahr 1912 nach Breslau, um eine Professur für Psychiatrie an der Friedrich- Wilhelm-Universität zu übernehmen. Auf der Reise erkrankte er an einer infektiösen Krankheit, die unter anderem sein Herz betraf und von der er sich sein restliches Leben nicht mehr erholen sollte. Er starb im Alter von 51 Jahren an Organversagen. Sein Dialog mit Auguste Deter ist längst in die Geschichte eingegangen: Zu Mittag isst Frau A. Deter Schweinefleisch mit Karfiol. „Was essen Sie?“ „Spinat.“ (Sie kaut das Fleisch) „Was essen Sie jetzt?“ „Ich esse erst Kartoffeln und dann Kren.“ „Schreiben Sie eine fünf.“ Sie schreibt: „Eine Frau“. „Schreiben Sie eine Acht.“ Sie schreibt: „Auguste“. Beim Schreiben sagt sie wiederholt: „Ich habe mich sozusagen verloren“.

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