DIE FURCHE · 25 18 Wissen 20. Juni 2024 „Ich“ ohne Substrat Aus Sicht der Hirnforschung gibt es keinen „Ich“-Kern. Das Selbst wird durch die Aktivität eines Netzwerks von Nervenzellen hervorgebracht („Default Mode Network“, DMN). Eine gefühlte innere Leere wird gern mit Größenfantasien gefüllt. Von Martin Tauss Es ist noch nicht so lange her, dass Hirnforscher herausfanden, was sich im Kern unseres „Ich“ befindet: nichts. Säuglinge sind noch ohne ein Selbst. Erst im Laufe der Entwicklung prägt sich ein Netzwerk von Nervenzellen aus, das in unserem Erleben immer wichtiger wird. Neurowissenschafter bezeichnen dieses Netzwerk (DMN) manchmal als „Orchesterdirigent“ des Gehirns. Es spielt bei der Erzeugung geistiger Konstrukte eine Rolle, in deren Zentrum die Vorstellung vom eigenen „Ich“ steht. Das Selbst wird demnach in einem rauschenden Fluss durch das Flirren und Flackern der Neuronen hervorgebracht. Das ist kein fester Grund, auf dem man sicher stehen kann. Kommt daher der existenzielle Durst, nach einem einheitlichen, kontinuierlichen, möglichst imposanten Über-Selbst zu greifen? Ursachen im Kinderzimmer Identität ist eines der wichtigsten Konzepte der Psychologie und Soziologie des 20. Jahrhunderts. Wird es jetzt zum Schlüssel für das Verständnis des disruptiven 21. Jahrhunderts? Identitäre Verhärtungen prägen unsere krisengeschüttelte Gegenwart, von der Politik bis zu Kunst und Kultur. Im heurigen Superwahljahr steht vieles auf dem Spiel: Wird eine radikalisierte FPÖ in Österreich den Kanzler stellen? Welche Lehren sind aus dem Rechtsruck bei Zur Psychoanalyse der russischen Identität siehe auch „Kriege der Erinnerung“ von Rainer Gross (6.4.2022), auf furche.at. Der Drang nach Zugehörigkeit prägt die krisengeschüttelte Gegenwart. Um Fundamentalismus zu verhindern und gesund mit Identität umzugehen, bedarf es deren ständiger Relativierung. Ein Rundgang. Die Seifenblasen des Über-Selbst der EU-Wahl zu ziehen? Und wird Donald Trump erneut als düstere Galionsfigur einer postfaktischen Politik zum US-Präsidenten gewählt? „Die rechtspopulistische Agenda dreht sich nicht um die Realität, sondern um Fragen der Identität – im Grunde ist sie eine einzige Suche nach Größe, Schutz und Bedeutung.“ Das schreibt Herbert Renz-Polster im neuen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ (Kösel 2024). Darin fragt der deutsche Kinderarzt, wie der Aufschwung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien entstehen konnte – und welche Rezepte es dagegen gibt. Von Berufs we gen landet er im Kinderzimmer. Denn Fragen der Identität drehen sich „genau um die Themen, die Kinder bei ihrem Aufwachsen verhandeln: Habe ich eine Stimme oder nicht? Werde ich gesehen oder nicht? Kann ich vertrauen, oder lebe ich auf unsicherem Grund?“ Herbert Renz-Polster sieht das rechtspopulistische Programm als „ideales Ersatzangebot, das besonders dort wirkt, wo entsprechende Lücken aus der Kindheit verbleiben“. Menschen mit solchen Mangelerfahrungen würden in ihrer Identitätssuche anfällig dafür, die Bindung zu Heimat, Nation oder Religion toxisch aufzuladen. „ Es geht darum, von klein auf Selbstwert, Schutz und Sicherheit zu vermitteln, sodass dafür kein identitäres Substitut mehr nötig ist. “ Bild: iStock / Maksim Tkachenko Das ist aber sicher nicht der einzige Grund, warum Identität heute an allen Ecken und Enden eine so überbordende Bedeutung erlangt. Der Prozess der Digitalisierung heizt diese Entwicklung schon länger an. Obwohl das Internet als „globales Dorf“ zunächst ein heimeliges Ambiente versprach, wurde es rasch zur Ursache einer unheimlichen Uferlosigkeit. Im unendlichen „Markt der Möglichkeiten“ kann man sich allzu leicht verlieren. „Die Hypervernetzung begünstigt ein Gefühl der mangelnden Abgrenzung, des Identitätsverlusts“, sagte der Psychiater Oliver Pintsov in einem FURCHE-Artikel. Die menschliche Reaktion liegt auf der Hand: Überall werden Pflöcke eingeschlagen, Trennlinien gezogen, Identitäten bekräftigt. Die unüberschaubare Informationsdichte verleite zur großangelegten Simplifizierung, so Pintsov: „Dann werden die Grautöne herausgefiltert – und es bleibt nur noch ein Schwarz-Weiß-Denken in krassen Gegensätzen.“ Ein Befund, den kürzlich Hubert Patterer in seiner Dankrede anlässlich des an ihn verliehenen Kurt-Vorhofer-Preises bestätigt hat: Derzeit habe das Bemühen um journalistische Differenzierung einen schweren Stand, so der Chefredakteur der Kleinen Zeitung. Denn „in Zeiten der großen Spaltungen“ gehe es nicht mehr um Verständigung, „um das Herausschälen des eigenen Urteils zwischen zwei Polen, sondern vorrangig um Zugehörigkeit. Auseinandersetzungen, zumal jene in den Netzwerken, haben etwas von alten Stammeskriegen; wer differenziert, macht sich verdächtig.“ Das gefährliche Spiel mit der Stammesidentität ist heute auch weltpolitisch Trumpf. Es ist gespenstisch zu sehen, dass der Kampf um eine neue Weltordnung durch gekränkte kollektive Identitäten vorangetrieben wird. Ein zentrales Motiv ist die historische Revanche gegenüber „dem Westen“. Das gilt für das durch die Opiumkriege des 19. Jahrhunderts gedemütigte China ebenso wie für Russland, wo ein mörderisch-neoimperiales Expansionsprojekt die Schmach der bitteren Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion – für Putin die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – tilgen soll. Der Größenwahn im Kreml kennt heute keine Grenzen mehr; die russische Welt („Russki Mir“) soll bis zu Europas Atlantikküste prägend werden. Die Gruppe im Zelt Revanchemotive gibt es auch im aufstrebenden Indien – aufgrund der britischen Kolonialzeit, aber auch der muslimischen Herrschaft in vorkolonialer Zeit. Dort wähnt sich der eben wiedergewählte Staatschef Narendra Modi auf einer „göttlichen Mission“, um Indien als neue Großmacht zu positionieren. Treibstoff dafür ist die Hindutva-Ideologie, die autoritäre Ausrichtung des Landes an einem politisch-kulturellen Hinduismus. Dabei hat sich Modi als besonders geschickt erwiesen, die immense Kraft des Kapitalismus zu entfachen und zugleich dessen schädliche Nebenwirkungen (Entwurzelung, Vereinzelung) durch exzessiven Nationalismus im Zaum zu halten. In den Worten des Kinderarztes Renz-Polster: Es geht um Größe, Schutz und Bedeutung. Die identitäre, noch dazu religiös aufgeladene Verankerung ist heute vielerorts das probate politische Mittel, um dem rauen Wind einer hemmungslosen Globalisierung und hyperkompetitiven Wirtschaft standzuhalten. Der Psychoanalytiker Vamik Volkan vergleicht kollektive Identität mit einem Zelt, in dem eine Großgruppe Unterschlupf und Sicherheit findet. In der Mitte befindet sich ein (charismatischer) Führer wie ein Pfosten, der das Zelt aufrechthält, während an der
DIE FURCHE · 25 20. Juni 2024 Wissen 19 „ In einer intimeren Begegnung mit sich selbst und anderen Menschen verlieren Identitäten ihren Reiz. Erstaunlich, wie viel Unheil daraus entstehen kann. “ Innenwand die Bilder, Mythen und Legenden zu sehen sind, die für die „Bewohner“ des Zeltes Gemeinsamkeit stiften. Analog dazu beschreibt der Soziologe und Gruppenanalytiker Norbert Elias die kollektive Schicht der Identität wie einen Mantel, der uns schützt und wärmt. Diese Metaphorik verdeutlicht: Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist ein Grundbedürfnis, auf das man in der Regel ebenso wenig verzichten kann wie auf Kleidung oder ein Dach über dem Kopf. Das Stammesdenken der Steinzeit wirkt auch heute noch fort, denn für das Mängelwesen Mensch war es evolutionär überlebensnotwendig. Tatsächlich kann das Bewusstsein von Gemeinschaft fast schon übermenschliche Kräfte freisetzen. „You will never walk alone“, brüllen die Fans des FC Liverpool in ihren ergreifenden Schlachtgesängen. Doch nüchtern betrachtet bleiben individuelle wie kollektive Identitäten stets äußerlich. Man braucht sie aus rein praktischen Gründen; es gibt keinen Grund, sie zu überhöhen. Führt man sich das gigantische Leid und den unendlichen Horror von Massakern, Kriegen und Genoziden vor Augen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte im Namen von Identitäten angerichtet wurden, dann versteht man einen Mann, der in einem Musikvideo an einem weißen Klavierflügel sitzt, um mit verträumtem Blick eine der bekanntesten Pop-Balladen anzustimmen. John Lennons Song „Imagine“ von 1971 verbindet eine eingängige Melodie mit bewusst schlichten Formulierungen: „Stell dir vor: keine Vaterländer, so schwer ist das nicht. Nichts, wofür man töten oder sterben sollte, und auch keine Religion. (…)“ Utopien in Kunst und Religion DIE FURCHE EMPFIEHLT Apropos Religion: So wie der Popstar Lennon nahm sich auch Achan Buddhadasa kein Blatt vor den Mund. Der buddhistische Mönchsgelehrte pflegte in seinem thailändischen Dschungelkloster die Lust an der Provokation. 1969, zwei Jahre vor „Imagine“, hatte er einen Essay mit dem Titel No Religion („Keine Religion“) veröffentlicht. Darin wollte der große Reformer des ritualfixierten Thai-Buddhismus weder seinen eigenen Job als Abt obsolet machen noch religiöse Werte und Praktiken diskreditieren. Ganz im Gegenteil: Er betonte, dass es das authentische Kennzeichen eines religiösen Weges sei, Identitäten zu relativieren, loszulassen und zu transzendieren, und das gelte letztlich auch für die Religion selbst. Immer wenn das geschehe, so Buddhadasa, stoße man auf eine gemeinsame Grundlage, eine tragfähige Basis für Dialog und Verständigung. Bei Lennon hieß das (damals noch nicht gegendert) brotherhood of men, Brüderlichkeit der Menschheit. Sind das weltfremde Utopien und Träumereien – oder dringend benötigte Botschaften einer neuen Aufklärung, die darauf abzielen muss, Fundamentalismen aller Art den Nährboden zu entziehen? Ein solches Unterfangen müsste tatsächlich in den Kinderzimmern beginnen, deren Atmosphäre ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Der Regisseur Michael Haneke hat das in seinem Kunstfilm „Das weiße Band“ (2009) meisterhaft durchexerziert: Darin wird die Frage verhandelt, inwiefern das Aufwachsen vieler Kinder in emotional frustrierenden Verhältnissen später dazu beigetragen hat, dem Nationalsozialismus den Weg zu ebnen. Es geht also darum, von klein auf Selbstwert, Schutz und Sicherheit zu vermitteln, sodass dafür kein identitäres Substitut mehr nötig ist. In einer intimeren Begegnung mit sich selbst und anderen Menschen verlieren Identitäten ihren Reiz. Aus den tieferen Schichten unseres Wesens betrachtet erscheinen sie wie Seifenblasen, als bunt schillernde Gebilde ohne wirkliche Substanz. Erstaunlich, wie viel Unheil daraus entstehen kann. Während John Lennon am Piano sitzt und „Imagine“ singt, öffnet seine Frau Yoko Ono der Reihe nach die Fensterläden eines leeren, einladenden Raums. Die Szenerie wird dadurch immer heller. Heute, in einer Zeit der identitären Verhärtungen, könnte man sagen: Es würde guttun, wenn wieder mehr Licht hereinkäme. Diskussionen zu „Degrowth“ Die Ökonomin Katharina Mau bietet in „Das Ende der Erschöpfung“ (Löwenzahn, 2024) einen Überblick über Diskussionen zu „Degrowth“-Ansätzen, u. a. zu neuen Arbeitsformen oder Konsumkorridoren. Die Buchpräsentation wird von der Univ. für Weiterbildung Krems und dem Umweltbüro der Erzdiözese Wien im Rahmen der „Akademie der Transformation“ veranstaltet. „Unterwegs in der Uferlosigkeit“: Verena Kast, Walter Lorenz und Oliver Pintsov über Identität in der Digitalisierung, auf furche.at. Buchpräsentation „Das Ende der Erschöpfung“ 24. Juni, 18.00–19.30 Stephaniesaal, Stephansplatz 3, 1010 Wien Ingeborg- Bachmann- Preis Die Tage der deutschsprachigen Literatur finden 2024 zum 48. Mal statt. Der seit 1976 jährlich verliehene Ingeborg- Bachmann-Preis ist eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen im deutschen Sprachraum. Starten Sie mit einem FURCHE-Artikel und blättern Sie durch verknüpfte Beiträge – zurück bis 1945. Starten Sie Ihre Zeitreise! Blicke/Wissenstropfen 29. Juni 2006 Bodo Hell über den Bachmannpreis. Texte in der Welt: die Kriterien der Literaturkritik 6. Juni 2024 Literatur soll man nach ihrer Ästhetik bewerten, heißt es. Doch den Text allein gab es nie und gibt es nicht. Entsprechend divers sind die Maßstäbe und Kriterien der Literaturkritik. Brigitte Schwens-Harrant 2024 u Losstarten: www.furche.at/abo/gratis aboservice@furche.at +43 1 512 52 61 52 1945 Allah gegen Allemann in Klagenfurt 4. Juli 1991 Der 15. Ingeborg Bachmann Preis in Klagenfurt brachte nicht nur literarische Highlights, sondern auch hitzige Debatten. Egyd Gstättner Wie Literaturpreise den Geschmack bilden 28. April 2021 Im Juni wird wieder der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Die öffentliche Diskussion macht den Prozess der Entscheidungsfindung transparent. Was wurde aus den Preisträgerinnen und Preisträgern? Anthon Thuswaldner
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