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DIE FURCHE 20.06.2024

DIE

DIE FURCHE · 25 16 Kunst 20. Juni 2024 Lesen Sie auch „Kulturhauptstadt Salzkammergut: Das Widerborstige einer Region“ von Anton Thuswaldner (17.1.2024) auf furche.at. Foto: © Ella Raidl, courtesy Kulturhauptstadt Europas Bad Ischl Salzkammergut 2024 Von Otmar Lahodynsky Auf dem Hauptplatz von Traunkirchen steht seit Ende Mai die riesige Bronzeskulptur „Swing Theorie of Hegel“ von Fernando Sánchez Castillo, ein Hauptwerk unter 100 Beiträgen von 16 heimischen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern für die Ausstellung „Villa Karbach – Wie der Skurrealismus in die Welt kommt“. Die beiden Kuratoren, der Schweizer Paolo Bianchi und der Ober österreicher Martin Sturm, haben schon den eigenwilligen Kunstpfad „Höhenrausch“ in Linz entworfen. Nun haben sie für ihre Schau im Rahmen der „Europä ischen Kulturhauptstadt Bad Ischl – Salzkammergut“ zwei besondere Orte am Traunsee ausgewählt: die Villa Pantschou lidzeff in Traunkirchen, 1850 vom Architekten Theophil Hansen für eine georgische Fürstentochter entworfen, und Literatur entdecken Begleiten Sie den Bachmannpreis und entdecken Sie mit einem kostenlosen FURCHE-Testabo Texte namhafter Autor:innen – gedruckt vor Ihre Haustüre und online zurück bis 1945. Jetzt 4 Wochen gratis lesen! „Berg ahoi!“ Eindrucksvoll wird in dem Video „BERG“ (2016/2024) das hölzerne Modell eines Berges über den Traunsee manövriert. Die Villa Pantschoulidzeff in Traunkirchen, das Werksgelände im Steinbruch Karbach am Ostufer und der Ortsplatz in Traunkirchen werden in der Kunstschau „Villa Karbach“ zum gemeinsamen Schauplatz einer entdeckungsfreudigen Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Neuer Skurrealismus am Traunsee u Gleich bestellen: www.furche.at/abo/gratis aboservice@furche.at +43 1 512 52 61 52 online im Navigator seit 1945 den Steinbruch Karbach am mystischen Ostufer des Traunsees, der erst nach einer kurzen Bootsüberfahrt erkundet werden kann. Beide Orte sind erstmals öffentlich zugänglich. In der „Russenvilla“ sind vom Keller bis in den ersten Stock Skulpturen, Videos und Fotoarbeiten zu besichtigen. Wo sich Reales und Skurriles begegnen, kommt der „Skurrealismus“ in die Welt. Diese Wortschöpfung, zugleich Titel der Ausstellung, stammt vom 2018 verstorbenen Ebenseer Schriftsteller und Künstler Walter Pilar, einem der geistigen Anstifter des Kunstprojekts „Villa Karbach“. So ist im Gartensaal Pilars Hauptwerk „Karbach-Hochaltar“ zu bestaunen, ein dreiteiliger Fensterstock mit Blechwanne, der das Salzkammergut symbolisch zeigen soll. „ In der ‚Russenvilla‘ sind Skulpturen, Videos und Fotoarbeiten zu besichtigen. Wo sich Reales und Skurriles begegnen, kommt der ‚Skurrealismus‘ in die Welt. “ Im Salon, im Schlafzimmer und im Kabinett gibt es weitere surreale Kunstwerke zu sehen. Der Schweizer Künstler Jonas Burkhalter schuf mobileartige Nachbildungen von Pottwalen, die unter der Meeresoberfläche senkrecht und in Gruppen schlafen. Die Österreicherin Anita Gratzer zeigt in 50 Fotografien eigenwillige Kopfbedeckungen, darunter eine den weißgekleideten Ebenseer „Glöcklern“ nachempfundene übergroße Kappe aus Papier. Die Schweizerin Barbara Signer schuf mit der Skulptur „Endless Necklace“ eine schier endlose Halskette aus Plastik. Die Österreicherin Isa Stein ist mit Videos von ihren Performances vertreten, bei denen sie auch unter Einsatz ihres Haares als Pinsel großflächige Zeichen auf verschiedenen Oberflächen hinterlässt. Ab Juni erscheint auf einer Felswand beim Steinbruch Karbach ein mit Naturfarbe gemaltes, riesiges Herz, das mit der Zeit verblassen wird. Ein lost place als Kunstort Der seit 1890 bestehende Steinbruch am Ostufer des Traunsees ist eine Art lost place, der von den Kuratoren als ideale Verbindung zwischen Kunst und industriell veränderter Naturlandschaft gewählt wurde. Hier wurde bis zum Jahr 2005 Kalkstein abgebaut, zerkleinert und mit großen Booten („Plätten“) zur nahen Solvay-Fabrik in Ebensee zur Sodaerzeugung gebracht. So wurde, wie Autor Pilar schrieb, „der Berg über den See transportiert“. Da vor Kurzem der Steinbruchbetrieb wiederaufgenommen wurde, können die dort ausgestellten Kunst- und Soundinstallationen nur von Freitag bis Sonntag besichtigt werden. So ist bereits die alte Steinzerkleinerungsanlage mehr als ein Industriedenkmal. Denn sie musste auf Anordnung von Behörden von außen wie ein typisches Landhaus am Traunsee aussehen, mit Holzverkleidungen an den blinden Fenstern. Drinnen läuft die Toninstallation „Rolling Stones“ von Andrea Sodomka. Dahinter wird in einem 500 Meter langen Stollen die Lichtinstallation „Die Sonne unter die Erde holen“ von Siegfried A. Fruhauf gezeigt. Hundert Baustellenwarnleuchten bringen das Berginnere zum Glühen. Im ehemaligen Werkstattgebäude zeigt Thomas Feuerstein die Schau „Ultramarina. Den See austrinken“. Im lichtblau beleuchteten Raum wachsen Grünund Kieselalgen in der Skulptur „Polyphore“. Kieselalgen aus dem Traunsee und Kalkstein aus dem Steinbruch werden hier zu einem Pigment verarbeitet, das die Farbe „Traunseeblau“ darstellt. Leider ist eine Attraktion beim Steinbruch, das urige und bei Seglern beliebte Gasthaus Karbach, seit einem Jahr geschlossen. Die Bundesforste haben die Pacht nicht verlängert, obwohl die Kuratoren darum ersucht hatten. Villa Karbach – Wie der Skurrealismus in die Welt kommt Villa Pantschoulidzeff Allg. Öffnungszeiten der Ausstellung Fr, Sa, So, 10 bis 18 Uhr Die „Kunst- und Naturexpedition“ findet in Traunkirchen bis 29. September immer von Freitag bis Sonntag statt. Infos: salzkammergut-2024.at

DIE FURCHE · 25 20. Juni 2024 Film 17 Pia Hierzegger beim Sterben zuschauen: Der tagtägliche Umgang mit dem Tod ist in Eva Trombischs exzeptionellen Beziehungsdrama „Ivo“ weit mehr als bloßes Szenario. KURZKRITIKEN Gevatter Tod, anno 2024 Von Otto Friedrich Langsam, ruhig, in keineswegs akzentfreiem Deutsch erklärt Johann Campean der ALS-kranken Solveigh, die „selber bestimmen“ will, wann es zu Ende geht, was er tun kann. Er wird ihr kein Todesmedikament verschreiben. Aber er kann sie, wenn das Atmen zur Qual wird, mit Opiaten sedieren. Und er erläutert, wie Solveigh dann aus dem Leben dämmern wird. Nüchtern ist dieser Palliativmediziner. Campean spielt in Eva Trobischs eindrücklichen Film „Ivo“ quasi sich selbst, denn er ist auch im wirklichen Leben Palliativmediziner und hat im Ruhrgebiet ein Netzwerk ambulanter Palliativpflege und Hospizbetreuung begründet. Campean hat die Macherin dieses Films, in dem der Tod omnipräsent ist, auch exzellent beraten: So gegenwärtig das Sterben in diesen 105 Minuten ist, so distanziert nähert sich der Plot dem Geschehen – und lässt gleichzeitig erahnen, mit welchen Fragen, Mühen und Leiden die Betroffenen, die Angehörigen und die professionellen Betreuenden konfrontiert sind. Ein Dreier im Sterbebett Aber neben all dem sorgfältig gestalteten realistischen Szenario, das Eva Trobisch – auch unter Zuhilfenahme von Laiendarstellern – gebaut hat, ist „Ivo“ eine Beziehungsgeschichte, die das Publikum erst recht DRAMA In der Fremdenlegion mitnimmt: Ivo, die Titelheldin (Minna Wündrich), ist eine engagierte ambulante Palliativpflegerin, die am Tag und auch nachts zu ihren Klientinnen und Klienten unterwegs ist. Ihr Leben spielt sich – außer in den Sterbezimmern – in ihrem Škoda ab. Für ein großartiges (Familien-)Leben lässt dieser Job wenig Platz. Kein Wunder also, dass Ivos halbwüchsige Tochter sich der Mutter mehr und mehr entfremdet. Die meisten, die Ivo pflegt und begleitet, kennt sie nicht. Sie leben allein oder mit Familie und kommen mit ihrer Situation, ihren Schmerzen und Ängsten unterschiedlich zurecht. Mitunter machen sie denen, die sie betreuen, nicht zuletzt gleichaltrige Partner, das Leben zur Hölle. Und Ivo, die Professionelle, hat ein vorgeschriebenes Zeitkontingent, innerhalb dessen sie die medizinische Betreuung leisten, aber mehr noch Zuversicht und Hoffnung verbreiten soll. Eine Quadratur des Kreises irgendwie – im Wissen, dass das jeweilige Ende eines Lebens vor der Tür steht. Solveigh, die ALS-Patientin (Pia Hierzegger), ist hingegen eine langjährige Freundin von Ivo. Die Nervenkrankheit, Giacomo Abbruzzese lässt in seinem Spielfilmdebüt „Disco Boy“ einen Belarussen (Franz Rogowski) nach Frankreich fliehen, wo er in der Fremdenlegion eine neue Identität und Heimat sucht. Bald aber wird er nach harter Ausbildung mit einem Trupp ins Niger-Delta geschickt, um französische Geiseln aus der Hand von Guerillakämpfern zu befreien ... Nicht breit ausformuliert, sondern fragmentiert und extrem verdichtet erzählt der Italiener nicht nur vom Gegensatz zwischen Osteuropa und dem Sehnsuchtsland Frankreich, sondern auch vom Spannungsfeld zwischen Europa und Afrika. Während die Szenen von der Ausbildung, die intensives Körperkino bieten, unübersehbar an Claire Denis’ „Beau Travail“ anknüpfen, wecken die Szenen vom nächtlichen Dschungelkampf Erinnerungen an Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“. Diesen mit Wärmebildkameras gefilmten, surrealen Bildern stehen wiederum dokumentarische Flugaufnahmen der durch die Ölgewinnung verwüsteten Region und riesiger Raffinerien gegenüber. Aber auch der Kontrast von unberührtem grünem Dschungel und den Folgen des barbarischen menschlichen Eingriffs in die Natur wird hier sichtbar. Zerrissen wirkt „Disco Boy“ zwar in seiner Sprunghaftigkeit, entwickelt aber durch die Kameraarbeit von Hélène Louvart und den pulsierenden Soundtrack des Elektromusikers Vitalic einen suggestiven Sog. So überträgt sich durch das Aufeinanderprallen von Gegensätzen wie auch durch das starke Spiel von Franz Rogowski das Gefühl der Fremdheit direkt auf das Publikum und macht die Zerrissenheit, aber auch die Sehnsüchte des Protagonisten intensiv erfahrbar. (Walter Gasperi) „ Ivo hat ein vorgeschriebenes Zeitkontingent, innerhalb dessen sie die medizinische Betreuung leisten, aber mehr noch Zuversicht und Hoffnung verbreiten soll. “ Leben im Škoda Palliativpflegerin Ivo (Minna Wündrich) klappert im Ruhrgebiet ihre todgeweihten Patienten ab. Für ein Leben außerhalb davon ist wenig Platz. wissen Solveigh und Ivo genau, wird sukzessive alle Lebensfunktionen lahmlegen. Auch Franz, Solveighs Mann (Lukas Turtur), versucht mit der Situation umzugehen. Zwischen Solveigh und Ivo scheint es mehr als Freundschaft zu geben, und zwischen dem Ehemann und der Freundin baut sich mehr als eine Schicksalsgemeinschaft auf: Franz und Ivo begehren einander auch körperlich, als ein fremdgehendes Paar schlafen sie miteinander in Hotelzimmern, um dann ins Siechtum nach Hause zurückzukehren, wo Solveigh – siehe oben – daran denkt, selbst ihr Leben zu beenden, solange sie es noch selbst vermag. Selten ist Derartiges so einfühlsam, aber auch so nüchtern realistisch im Film betrachtet worden. Und selten konnten das Darsteller so kraftvoll, körperlich, empathisch und alle Konsequenz auskostend auf die Leinwand bringen wie dieses Trio Wündrich/Hierzegger/Turtur. Ivo D 2024. Regie: Eva Trobisch. Mit Minna Wündrich, Pia Hierzegger, Lukas Turtur, Johann Campean. Polyfilm. 105 Min. Franz Rogowski sucht in „Disco Boy“ in der Fremdenlegion eine neue Identität und Heimat. Wird er sie finden? Disco Boy F/I/B 2023. Regie: Giacomo Abbruzzese. Mit Franz Rogowski, Morr Ndiaye, Laëtitia Ky. Filmladen. 92 Min. Bruderzwist um zwei Lebensentwürfe sind eine Delikatesse der venezianischen Küche. Um „Moeche“ den Niedergang deren traditioneller Fischerei und den Expansionsdrang der Tourismusbranche dreht sich das Familiendrama „Welcome Venice“. Nach dem Tod des Fischers Toni droht die Entzweiung seiner Brüder Pietro und Alvise. Obwohl vom Touristentrubel bisher halbwegs verschont, beginnt auch in ihrem Milieu normaler Alltag und seit Jahrhunderten gelebte Tradition in Folklorismus umzukippen. Während Pietro ihr weiterhin verhaftet bleibt, will Alvise das Elternhaus in eine gehobene Ferienunterkunft verwandeln ... Dass Andrea Segre zumeist dokumentarisch arbeitet, erweist sich hier als kontraproduktiv. Zwar beobachtet er Pietros strapaziöses Handwerk genau, aber er kann seinem Plot keine plastische Authentizität einhauchen. Wenn er die zwei Lebensentwürfe kontrastiert, wirkt das dramaturgisch wie pflichtschuldig abgehandelt. Dennoch geht mit der Zuspitzung des Bruderzwists beider Schicksal nah. (Heidi Strobel) Welcome Venice (Welcome Venice) IT 2022. Regie: Andrea Segre. Mit Paolo Pierobon, Andrea Pennacchi. Polyfilm. 104 Min. Die Freiheit auf zwei Rädern Für Kathy (Jodie Comer) ist es Liebe auf den ersten Blick, als sie 1965 den Bike rider Benny (Austin Butler) kennenlernt und ihn nach nur fünf Wochen heiratet. Aber einen eingefleischten Motorradhelden ändern zu wollen? Das kann nicht funktionieren! Denn das Biken ist des Bikers größte Lust. „Es war die goldene Zeit für die Biker“, sagt Kathy. Jeff Nichols hat mit „Bikeriders“ einen Film gedreht, der irgendwo zwischen einer Hommage an „Easy Rider“ und an den „Wilden mit seiner Maschin’“ oszilliert. Nichols beschwört Marlon-Brando-Kult und referiert sehr zeitgeistig über die Selbstfindung der Jugend und über das Außenseitertum. Das hat in einer Zeit der Vereinsamung Jugendlicher vor dem Smartphone seine Berechtigung und ist auch optisch effektgeladen umgesetzt – als Porträt einer spezifischen Form von Jugendkultur ist der Film dennoch nur bedingt tauglich. Zu viel Beiwerk, aber Fans des Bikens und der damit verbundenen „Freiheit“ werden bestens bedient. (Matthias Greuling) The Bikeriders USA 2024. Regie: Jeff Nichols. Mit Austin Butler, Tom Hary, Jodie Comer. Universal, 116 Min.

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