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DIE FURCHE 20.06.2024

DIE

DIE FURCHE · 25 10 Diskurs 20. Juni 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Ich konnte mir meinen Kindheitswunsch erfüllen Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast „ Als Kind habe ich mir Gedanken über den Frieden in unserem Land und in der Welt gemacht. Die Erzählungen meines Großvaters haben mich nie losgelassen. “ In Ihrem letzten Brief hat mir ein Satz besonders gut gefallen: „Gescheit über Kunst daherreden bringt nichts.“ Oh, das begeistert mich! Ich möchte am liebsten auf den Esstisch springen und jubeln: „Nieder mit dem Klassismus.“ Okay, ich übertreibe. Vielleicht liegt meine Euphorie auch an meiner neugewonnenen Lebensqualität. Nach 15 Jahren sehe ich endlich wieder glasklar. Es ist unglaublich, wie sich meine Wahrnehmung der Welt durch einen fünfminütigen Eingriff verändert hat. Ich erkenne die Straße, in der ich lebe, kaum wieder. Na ja, eigentlich erkenne ich plötzlich viel mehr in meiner Straße. Stellen Sie sich vor: Wenn ich aus meinem Küchenfenster sehe, kann ich sogar die einzelnen Blätter des Baumes in unserem Innenhof erkennen. So müssen sich Superheldinnen fühlen, wenn sie sich verwandeln und plötzlich neue Kräfte entwickeln. Ich erzähle Ihnen das aber nicht nur, um meine Freude mit Ihnen zu teilen. Ich möchte mich auch gleich dafür entschuldigen, dass ich vielleicht nicht in bester Form schreibe. Kurze Randnotiz: Mir fällt auf, dass ich mich in unseren Briefen immer wieder für eventuell mangelnde Leistung entschuldige. Woran könnte das liegen? Vielleicht gehe ich so mit meinem Impostor-Syndrom um. Haben oder hatten Sie das auch? Damit sind massive Selbstzweifel gemeint. Man stellt die eigenen Fähigkeiten, beruflichen Erfolge oder Leistungen infrage. Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass nicht meine Ausdauer, sondern Glück und Zufall mein Gelingen bestimmen. Bei manchen Menschen geht es ja so weit, dass sie sogar Angst davor haben, als Betrügerinnen oder Betrüger entlarvt zu werden. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, frage ich mich, wie sehr der Leistungsgedanke, der bereits im Kindergarten und in der Schule beginnt, diese Unsicherheiten prägt. Sie haben mir von Ihrer Volksschule erzählt, die Sie bei einem Heimataufenthalt besuchten. Wie waren Sie denn als Schüler, wenn ich fragen darf? Haben Sie gute oder schlechte Erinnerungen an den Unterricht? Aber zurück zu Ihrem Brief: Sie fragen mich, ob ich mir Sorgen um Europa mache. Ich gehe davon aus, dass Sie sich auf das Ergebnis der EU-Wahl beziehen? In den vergangenen Monaten habe ich Sie an meinem Weltschmerz und meiner Abgestumpftheit teilhaben lassen. Diese sind das Produkt andauernder Sorgen. Schon als Kind habe ich mir Gedanken über den Frieden in unserem Land und in der Welt gemacht. Die Erzählungen meines Großvaters, der als Jugendlicher in den Krieg eingezogen wurde, haben mich nie wirklich losgelassen. Als ich in der Volksschule nach meinem größten Wunsch gefragt wurde, meinte ich ganz ehrlich und aufrichtig: „Weltfrieden“. Ich mache mir heute genauso viele Sorgen um Europa wie früher, mit dem Unterschied, dass ich heute weiß, dass Europa auch damals nicht heil war. Außerdem konnte ich mir meinen Kindheitswunsch, wie Valerie aus dem Buch „Valerie und die Gutenachtschaukel“ die Welt zu bereisen, erfüllen. So habe ich einige Freundschaften über verschiedene nationale Grenzen hinweg. Vielen meiner Freundinnen geht es wie mir: Sie wollen Frieden, Freiheit und eine gesunde (europäische) Zukunft. Keine Ahnung, ob meine Antwort Sie befriedigt, aber mehr fällt mir nicht ein. Vielleicht motiviert die aktuelle EM die eine oder andere Person dazu, die kulturelle Vielfalt wertzuschätzen. Von Wolfgang Peschel Österreich hat eine sehr lange Fußballtradition. Aber In FURCHE Nr. 23 warum begeistert die Jagd nach dem runden Leder 3800 6. Juni 2013 auch im Jahr 2024 immer noch so viele Menschen? Das österreichische Auftaktspiel bei der Fußball-EM, bei dem sich das Team von Ralf Rangnick Frankreich mit 0:1 geschlagen geben musste, haben vergangenen Montag 1,66 Millionen Zuschauer am Bildschirm verfolgt. Tausende Fans versammelten sich an den unzähligen Public-Viewing-Orten in ganz Österreich. Auch 2024 bleibt die Fußball-Europameisterschaft, die bis 14. Juli in Deutschland ausgetragen wird, ein Massenereignis. Woher rührt die Begeisterung für diesen Sport? Der langjährige Sportjournalist Wolfgang Peschel hat diese Frage bereits 2013 in der FURCHE beantwortet. Österreich hat eine sehr lange Fußballtradition. Nach dem Entstehen des modernen Fußballspiels um die Wende zum 20. Jahrhundert zählte die „Alpen-Republik“ – mit den vielen Vereinsgründungen durch englische Studenten wie First Vienna Football Club im Jahr 1894, Sportklub (SK) Rapid im Jahr 1899 oder Red Star Penzing um 1903 – zunächst zu den führenden Fußballnationen der Welt. Anfang der 1930er Jahre schaffte es das österreichische Nationalteam unter Trainer Hugo Meisl und mit der zentralen Spielerfigur des Matthias Sindelar, Faszination Fußball 14 Spiele unbesiegt zu bleiben und dabei auch übermächtig scheinende Gegner zu besiegen. 1931 etwa schickte Österreichs Elite-Auswahl die damals auf dem Kontinent noch unbesiegten Schotten mit 5:0 nach Hause. Dem folgten Triumphe gegen Deutschland mit 6:0 (in Berlin) und 5:0 (in Wien). Italien, immerhin der spätere Fußballweltmeister von 1934, wurde 2:1 besiegt, Ungarn mit 8:1 heimgeschickt. Als man im Dezember 1932 zum Duell der damals besten europäischen Teams an der Londoner Stanford Bridge gegen England antrat und zwar 3:4 verlor, feierten die Zuschauer und die englische Presse die technisch hoch überlegenen Österreicher trotzdem wie einen Sieger: Das sogenannte Scheiberlspiel – eine Vorform des derzeit von der spanischen Mannschaft vorgeführten „Tiki-Taka“ – war der Grund Foto: APA / Max Slovencik dafür. Rückblickend hält der ÖFB auf seiner Homepage fest, dass Österreich gewissermaßen das Brasilien jener Jahre war: „Was Spielwitz und Technik anbetraf, so gab es keinen besseren Fußball als den österreichischen.“ In den 1950er Jahren stand Österreich international auch weit oben: Bei der WM 1954 in der Schweiz, bei der Deutschland das Endspiel gegen Ungarn, das über ein Jahr lang unbesiegt war, sensationell gewann („Wunder von Bern“), besiegte Österreich im Spiel um Platz drei den amtierenden Weltmeister Uruguay mit 3:1. Das bedeutete den bisher größten sportlichen Erfolg von Österreich. Seit dieser Zeit gab es allerdings mehr Rück- als Fortschritt. Der 3:2-Sieg Österreichs als „Fußballzwerg“ gegen den dreifachen Weltmeister Deutschland bei der WM 1978 in Argentinien gilt seither als die herausragende Leistung von Österreichs Spitzenfußball der jüngeren Vergangenheit – Córdoba! Aber nun sieht es seit einigen Jahren wieder etwas besser aus. Ein ausgeklügeltes Jugend-Trainingskonzept kombiniert mit vielen Legionären in europäischen Spitzenligen [...] hat dazu geführt, dass derzeit viel frischer Wind in die österreichische Fußballszene hineinbläst. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. 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DIE FURCHE · 25 20. Juni 2024 Diskurs 11 Fast 30 Jahre dauerte es, bis die Aufforderung Johannes Pauls II. in der Enzyklika Ut unum sint, das Papstamt weiterzudenken, an der Kirchenspitze aufgegriffen wurde. Und die Kirche bewegt sich doch. Ein bisschen. Kardinal König hat Ut unum sint für ein bedeutendes, wenn nicht das bedeutendste Schreiben Papst Johannes Pauls II. gehalten. 1995 hatte der damalige Pontifex in seiner Ökumene-Enzyklika den Dialog mit den anderen Kirchen zu seiner Priorität erklärt. Bei einem dogmatisch als Hardliner wahrgenommenen Papst findet sich in Ut unum sint Erstaunliches. Kardinal König fasste das, was Johannes Paul II. meinte, gegenüber der FURCHE so zusammen: „Ich weiß, dass die päpstliche Führung der katholischen Kirche für die anderen Kirchen ein Stein des Anstoßes ist, die Ökumene bleibt hier hängen. Und wie machen wir das? Da lädt der Papst ein: Reden wir darüber!“ Der damals 95-jährige Kardinal äußerte dies vor beinahe einem Vierteljahrhundert. Seither ist nicht nichts geschehen. Aber ein Weiterdenken der in Ut unum sint aufgeworfenen Fragen war katholischerseits seither unter „ferner liefen“ zu finden. Überhaupt konnte man den Eindruck gewinnen, Ökumene sei so etwas wie kirchliche Routine geworden, in der sich die Kirchen und Konfessionen nicht mehr wechselseitig in die Hölle wünschten, sondern zivilisiert einmal mehr, einmal weniger gemeinsam agierten. Das Ziel einer Einheit der Christenheit schien nicht mehr im Blick. Wer Einheit will, muss Papstamt reformieren Am vergangenen Donnerstag haben der vatikanische „Ökumene-Minister“, Kardinal Kurt Koch, und Kardinal Mario Grech, Generalsekretär der Bischofssynode, ein Studiendokument unter dem Titel „Der Bischof von Rom“ vorgelegt. In diesem 146-seitigen Papier sind die bilateralen Konsultationen zwischen der katholischen Kirche und anderen Kirchen über Ut unum sint zusammengefasst und Schlussfolgerungen für eine Reform des Papstamts angedacht. Es ist zwar viel Wasser den Tiber hinuntergeflossen, bis die Rom auf den Zug aufsprang, den Johannes Paul II. schon vor drei Jahrzehnten in Bewegung gesetzt hatte. Aber die Kirche bewegt sich doch ein bisschen! Denn das Studiendokument geht über Bisheriges hinaus. Dass Einheit der Christen nicht durch Rückkehr der anderen Konfessionen in den Schoß der „wahren“ Kirche zu bewerkstelligen ist, ist auch ka- ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Das Dokument ,Der Bischof von Rom‘ wagt es, die Papstdogmen des I. Vatikanums im Zeitkontext zu lesen. “ tholischerseits klar. Dass dafür aber eine Reform des Papstamtes unabdingbar ist, war an der Kirchenspitze kaum Thema. Dieses heiße Eisen nimmt sich das neue, vom Papst genehmigte Studiendokument vor, das einmal die Stolpersteine im Dialog auflistet. Dabei kommt es – wenig überraschend – zum Schluss, dass vor allem die Festlegungen des I. Vatikanums (Jurisdiktionsprimat des Papstes und Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenfragen) kaum überbrückbare Hürden für die Einheit sind. Dem Dokument ist zugute zu halten, dass es die Vorbehalte der reformierten wie der Ostkirchen auf Augenhöhe referiert. Es wird insbesondere nicht der Versuch gemacht, die Argumente der anderen abzuwerten oder kleinzureden. Das ist ein Fortschritt. Für katholische Augen war aber überraschend, dass das Dokument dann den Versuch wagt, die Papstdogmen des I. Vatikanums in einem zeitbedingten Kontext zu lesen: Das I. Vatikanum wurde bekanntlich 1870 wegen des Deutsch-Französischen Kriegs abgebrochen, es fand in der Umbruchzeit nationaler Revolutionen statt. Ob die dogmatische Sackgasse, in die sich die katholische Kirche da hineinmanövriert hat, durch eine Art historisch-kritische Exegese des I. Vatikanischen Konzils zu lösen ist, kann durchaus bezweifelt werden. Aber man sollte den Versuch, den gordischen Knoten Papstdogmen zu durchschlagen, würdigen. Ein weiterer Punkt im Dokument ist der Vorschlag, die Zuständigkeiten des Bischofs von Rom klarer zu strukturieren. Auch der von Franziskus wieder übernommene Titel eines „Patriarch des Abendlandes“ könnte dazu dienen, Verantwortungsbereiche des Papstes von jenen anderer Patriarchen der Ostkirchen klarer abzugrenzen und dann Modelle zu entwickeln, in denen dem Papst als Nachfolger des Apostels Petrus ein Ehrenvorsitz unter den Patriarchen anderer Kirchen zukommen könne. Keine Herrschaftsansprüche mehr All das muss mit den anderen Kirchen diskutiert werden, ist aber hochinteressant, weil hier keine Herrschaftsansprüche gegenüber anderen Kirchen mehr durchklingen. Es wird eine Rolle des Papstes als Mediator in Glaubensstreitigkeiten angedacht – auch das wäre eine neue Form, die sich fundamental vom heutigen Papstamt unterscheidet. Allerdings muss das gleichfalls innerkatholisch durchgesetzt werden – auch da dürften die Widerstände nicht klein sein. Das Dokument „Der Bischof von Rom“ beruft sich schließlich auf die Synodalität. Wahrscheinlich liegt hier ein Knackpunkt dafür, ob ein ökumenisch akzeptiertes Papstamt möglich ist: Wenn es der katholischen Kirche glaubhaft gelingt, Synodalität zu ihrem kirchlichen Prinzip zu machen, dann darf man Hoffnung auf eine neue Einheit der Christen schöpfen. Unter diesem Gesichtspunkt kommt der Bischofssynode über Synodalität im Herbst eine Schlüsselrolle zu, die auch davon abhängt, ob der Papst wirklich auf die nach synodalem Ringen erfolgte Weichenstellung der katholischen Kirche für die Zukunft eingeht. Das Studiendokument zum Papstamt lässt Perspektiven erhoffen, die aber erst dann Chancen auf Verwirklichung haben, wenn den Worten in der katholischen Kirche Taten folgen. Und zwar auch vom Papst selbst. Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Dieses ewige Getue Ich schreibe an dieser Stelle inflationär über meine senile Bettflucht (wenn es Ihnen zu viel wird, schicken Sie mir unbedingt einen Brandbrief). Wobei von Flucht eigentlich keine Rede ist. Ich bleibe liegen und höre ab 4.30 Uhr Deutschlandfunk. Und was man da alles so hört: Putin trifft Kim Jong-un; Kadyrow hält sich einen Kinderharem; die Huthis wüten im Roten Meer (vgl. Seite 5); hunderte Hitzetote. Ja, ich weiß, es gibt passendere Mittel, um gegen die Schlaflosigkeit anzukämpfen. Aber irgendwann hätte ich mich sowieso mit diesen Vorfällen befassen müssen. Eine Tatsache, die eine Chichi-Medizinerin komplett anders sieht. Weil ich seit Monaten ein paar Wehwehchen mit mir herumschleppe, hat mich eine meiner Freundinnen genötigt, „die beste Ärztin der Welt“ aufzusuchen. Ich hatte mir eingebildet, die Dame empfiehlt mir irgendeine Art von Ernährungsumstellung (Hirse und Mariendisteltee statt Pasta und Wein), schreibt mir Globuli auf oder sticht mir Akupunkturnadeln hinter die Ohren. Stattdessen zeigte sie mir Studien. Darin war untersucht worden, wie Nachrichtensendungen die menschliche Physis beeinflussen: negativ. Daher wäre die einzige wirksame Kur, so die Ärztin, meinen Nachrichtenkonsum zu reduzieren. Ich persönlich glaube ja, sie hat einen Pakt mit dem AMS geschmiedet. Kommt ein Bäcker, rät sie ihm, sich vom Mehl fernzuhalten. Lehrerinnen verbietet sie den Umgang mit Schülern. Einem Gärtner gibt sie den Tipp, sich tagsüber auf versiegelten Flächen aufzuhalten. Ein Pilot soll wegrennen, sobald er in die Nähe eines Flugzeuges kommt. Ja, ich bin zynisch. Aber dieses ewige Getue um Achtsamkeit und Abgrenzung nervt. Ich halte das für ein Erste-Welt-Problem. Den Mediziner will ich sehen, der jemandem in Ouagadougou oder Sanaa rät, sich arbeitsmäßig zurückzunehmen, Abstand zu suchen von dem, was ihn und seine Familie ernährt. Für 150 Euro hätte ich gerne eine Info darüber erhalten, wie ich noch sehr lange meiner beruflichen Leidenschaft nachgehen kann und dabei gesund bleibe. Aber das widerspricht dem Zeitgeist. Also gut, dann widerspreche ich ihm auch. Absichtlich. Heute gehe ich mit der Freundin von oben Pasta essen und Wein trinken. Wir haben uns für 17.30 Uhr verabredet – damit ich zeitig im Bett bin, genug schlafe bis 4.30 Uhr. Stichwort Deutschlandfunk. NACHRUF Ein Senior und Sir gegen Politik-Kasperliaden Ludwig Adamovich ist als Junior dieses Namens auf die Welt gekommen, Österreichs Welt hat er aber als Senior und als Sir geprägt. Der Junior eines dominanten Vaters zu sein, ist nie leicht; in dessen Fußstapfen als Jurist, als Universitätsprofessor und Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) aber nicht zu verschwinden, sondern diese sogar noch zu weiten, ist Lebenskunst. Ludwig Adamovich, der am Sonntag mit 91 Jahren gestorben ist, hat diese Kunst gelebt. „Alles in allem wohl nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine gute kindliche Entwicklung“, fasste er in seiner Autobiografie die von einem „religiös fundierten Verständnis von Autorität und Pflicht“ geprägte Erziehung seiner Eltern zusammen. Nicht nur an einer Stelle des Kindheitskapitels dieser „Erinnerungen eines Nonkonformisten“ wundert sich der Leser, wie das der Bub gut überstehen konnte. Zentral dafür dürfte ein Wesenszug von Adamovich gewesen sein, der ihn auch im Beruf auszeichnete: „An der Gabe der Beobachtung fehlte es mir nicht“, beschrieb er sich als Volksschulkind und nannte als Beispiel die Vorführung eines Kasperltheaters: Ein armer Bauer geriet dabei in die Fänge eines jüdischen Wucherers, dem der Kasperl das Handwerk legte. „Die Unsinnigkeit und Primitivität dieses politischen Theaters war mir sofort bewusst“, schrieb Adamovich über sich als Schüler. Politische Kasperliaden zu durchschauen und sich von ihren Hanswurst-Darstellern nicht einschüchtern zu lassen, beherrschte er Jahrzehnte später auch als VfGH-Präsident. „Wenn man eine ganz konkrete Vorstellung von Gerechtigkeit hat“, erklärte Adamovich sein Amtsverständnis, „muss man zwangsläufig in Konfrontationen eintreten.“ Die heftigste führte er mit Jörg Haider, der am Ortstafel-Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes demonstrieren wollte, dass Recht der Politik folgen müsse und nicht Politik dem Recht, wie das sein Nachnachfolger heute wieder propagiert. Haider jun. schaffte es auch nie, sich von der Gesinnung seines Seniors, die Österreich 1938 zerstörte, zu distanzieren. Ludwig Adamovich jun. gelang es hingegen sehr wohl, zwischen den hellen und dunklen Seiten des politischen Erbes seines Vaters als Ständestaat-Minister vor 1938 zu differenzieren. Auch dieser Glaube an das neue Österreich machte ihn zum Senior, so wie sein altösterreichisches Wesen zum Sir. (Wolfgang Machreich) Foto: APA / Herbert Pfarrhofer Ludwig Adamovich (1932–2024), Präsident des Verfassungsgerichtshofs und Berater zweier Bundespräsidenten.

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