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DIE FURCHE · 16 20. April 2023 Lebenskunst 23 Foto: picturedesk.com / Hans Ringhofer Vienna City Marathon Der größte österreichische Sportevent findet heuer zum 40. Mal statt. Er bringt am 23. April rund 40.000 Läufer(innen) aus aller Welt nach Wien. Illustration: Rainer Messerklinger Ein Marathon beflügelt zu Spitzenleistungen. Doch für Hobbyläufer lohnt es sich, nicht auf die Zeit zu schauen, sondern auf das Gefühl. Über die innere Natur der Bewegung. Wie es besser läuft Von Manuela Tomic MOZAIK Von Martin Tauss Schneller und weiter: Das war lange Zeit die Maxime im Läuferleben von Peter Koller (Name von der Red. geändert). Sie passte zum leistungsorientierten Umfeld, in dem er aufgewachsen war. Mit dem Laufen hatte er schon in der Unterstufe des Gymnasiums begonnen. Einige Klassenkameraden waren im Laufverein, und der Wien-Marathon war bereits damals ein Thema. Ein Schüler der Nebenklasse lief ihn mit 14 in der stolzen Zeit von dreieinhalb Stunden. Diese Distanz hat sich Koller bis heute nicht zugetraut. Seine Stärke waren die mittleren Strecken. Doch auch da folgte er seinem Glaubenssatz: Ein guter Lauf endet so wie das Boxtraining des Rocky Balboa in den Filmen von Sylvester Stallone – mit Blut, Schweiß und Tränen. Mit der totalen Erschöpfung. Und mit einem großen Erfolg. Es dauerte lange, dieses mythische Narrativ zu überwinden. Nie wieder hecheln Fragt man Koller heute nach seinem Hobby, wird er philosophisch. Er erzählt von seiner Begegnung mit Körper-Geist-Praktiken wie Feldenkrais, Yoga und Achtsamkeitsmeditation. Das habe seinen Zugang radikal geändert. Die Fixierung auf die Uhr oder das smarte Leistungsmonitoring via Lauf-App können ihm gestohlen bleiben, betont er immer wieder. Denn er versuche primär, „auf sein Gefühl zu hören“. Aber ist das nicht gar ein bisschen launisch und undiszipliniert? So necken ihn alte Sportsfreunde, die ihn beim Ehrgeiz packen wollen. „Ganz und gar nicht“, sagt Koller. „Es verlangt viel innere Arbeit.“ Spüren ist die fundamentalste Form des Erkennens. Bereits vor Jahrmilliarden hatten die ersten Lebewesen diese Fähigkeit. Selbst primitive Einzeller spüren ihr Umfeld sowie ihren inneren Zustand. Und sie reagieren intelligent auf das, was sie spüren: Ist es zu heiß, zu kalt, schmerzhaft oder sonst wie stressig, versuchen sie, ein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen – Wissenschafter sprechen von Homöostase. Wenn das gelingt, stellt sich ein unmittelbarer Effekt ein: angenehmes Empfinden. „Gefühle waren und sind der Anfang eines Abenteuers namens Bewusstsein“, schreibt der Hirnforscher Antonio Damasio. Emotionen kommen evolutionär aus dem Körper und spiegeln die Situation des Organismus. Gute Gefühle sind also wie ein Kompass: Sie zeigen an, wohin wir uns bewegen sollen. Nach einem langen Arbeitstag reicht es, langsam trabend noch eine kleine Runde zu drehen: Koller weiß das Wohlgefühl zu schätzen, das sich bei ihm nach so einem Lauf einstellt. Dann, wenn er es nicht übertreibt und auf die Bedürfnisse des Körpers achtet. „Der Stress des Tages ist danach wie weggewaschen“, berichtet der 50-jährige Manager. Seinen Laufstil habe er im Laufe „ Offenbar wussten schon die Yogis im alten Indien, dass es sich ‚stimmig‘ anfühlt, wenn man auf den Körper hört wie auf ein Musikinstrument. “ der Jahre ziemlich umgekrempelt: Das begann nach der Lektüre eines Buches zum Thema Laufen mit Feldenkrais – einer Methode der Körperarbeit, die auf „Bewusstheit durch Bewegung“ (so ein Buchtitel von Moshé Feldenkrais) basiert. Um leichter zu laufen, sollte etwa der Körperschwerpunkt vorne sein und der Antrieb aus der Hüfte kommen. Erfahrungen mit Yoga führten ihm dann die Macht des Atmens vor Augen. Seither ist der Hobbyläufer zur Nasenatmung konvertiert. Wie der „Atemkörper“ den „Fleischkörper“ formen kann, ist jahrtausendealtes Yogi-Wissen. Wer beim Laufen durch die Nase atmet, begünstigt einen Entspannungsmodus, in dem das Joggen zum puren Genuss werden kann. Schließlich fand Koller über die buddhistische Meditation ein schönes Gleichnis dafür, wie viel Anstrengung angemessen ist. „Als ob Buddha ein Läufer gewesen wäre“, schmunzelt er. So wie die Saiten einer Laute dumpf wabern, wenn sie zu locker sind, und so wie sie reißen, wenn man sie zu streng anzieht, gilt es, einen „mittleren Weg“ im Bemühen zu finden. Offenbar wusste man schon im alten Indien, dass es sich stimmig anfühlt, wenn man auf den Körper hört wie auf ein Musikinstrument. „Mit dieser Anleitung wird man zum Virtuosen des Laufens“, meint der Manager. „Das ist ein geiles Gefühl“, sagt Detlef zu seiner jungen Freundin Christiane F., nachdem er sich auf einem Popkonzert einen Schuss Heroin verabreicht hat: Das ist eine signifikante Szene im Drogenfilm „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Denn die Suche nach „geilen Gefühlen“ ist das grundlegendste Motiv der Menschheitsgeschichte. Beim Heroinjunkie wird sie ebenso zur Sucht wie bei so manchem Langstreckenläufer. Der große Unterschied: Während sich der Junkie die Droge tragischerweise von außen zuführen muss, produziert der Körper beim Ausdauersport von selbst opiatartige Stoffe (Endorphine) mit schmerzstillender und euphorisierender Wirkung. Prinzipiell ist die Apotheke unserer „körper eigenen Drogen“ prall gefüllt; wir müssen nur lernen, sie anzuzapfen. Qual und Triumph Laufen kann man so gut wie überall. Peter Koller ist heilfroh, dass er einen gesunden Weg zu guten Gefühlen gefunden hat. Nicht dass er nun ganz ohne Ehrgeiz wäre: Dass Koller beim ersten Halbmarathon aufgrund hoher Temperaturen im Sommer gescheitert ist, wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Im nächsten Jahr probierte er es erneut, diesmal im Herbst. Er schaffte es knapp über der heimlich anvisierten Zeit von zwei Stunden. Es war erhebend und ernüchternd zugleich. Denn als der Manager mit bereits wackeligen Beinen über die Ziellinie lief, verspürte er das untrüg liche Gefühl, keinen Schritt mehr weiterlaufen zu wollen. „Danke, es reicht. Ende Gelände“ – nicht unbedingt das beste Signal, um künftig einen ganzen Marathon anzugehen, gibt er zu. „Aber tief drinnen in mir weiß ich: Für das große Gefühl, einmal diese Königsdisziplin zu bestehen, würde ich sogar ein paar Qualen in Kauf nehmen.“ Marijans Erbe Ururgroßvater Marijan Tomic hatte es eines Tages satt, nur Fische und Oliven zu essen. Darum zog er in den 1870er Jahren vom kargen kroatischen Küstenort Mimice ins fruchtbare bosnische Hinterland. Unter den Osmanen beackerte Marijan als fleißiger kmet – eine Art Leibeigener – ein Feld. Nach 1878 wurde Bosnien Teil von Österreich-Ungarn. Die Monarchen vertrieben Marijans Lehnsherren und übergaben ihm das Land. So wurde der Ort Tomici in Zentralbosnien nach meinen Vorfahren benannt. Als Kind verbrachte ich dort jedes Jahr den Sommer. Tomici beginnt am Ende einer Waldlichtung und ist von Hügeln und kurvigen Straßen umgeben. Über eine Schotterstraße gelangt man hinauf zum Friedhof, wo Ururgroßvater Marijan begraben liegt. Sein ganzes Leben lang hat er sich von den fruchtbaren Böden ernährt und Tiere gehalten. Als Großvater Ivo Tomic starb, erbte mein Vater ein Stück von Marijans Wald. Wenn Vater von Marijan und seinem Waldstück erzählt, beginnt er, von der unberührten Natur zu schwärmen. Doch schon als Kind verstand ich nicht, wie man das Meer gegen einen Wald eintauschen konnte. Ich sehne mich nach der Küste, den Pinienbäumen und zirpenden Zikaden. Vor Fischgräten habe ich als Hinterwäldlerin aber Angst. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Möchten Sie mozaik abonnieren und das neueste Stück digital lesen? furche.at/newsletter
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