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DIE FURCHE 19.10.2023

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DIE FURCHE · 42 2 Das Thema der Woche Nach dem Pogrom 19. Oktober 2023 AUS DER REDAKTION Eigentlich sollte es diese Woche um den „Süden“ gehen – als Fortsetzung einer FURCHE-Reihe über die politischen Himmelsrichtungen. Doch der 7. Oktober hat die weltpolitischen Koordinaten nachhaltig erschüttert. Aller Augen sind seither auf den Nahen Osten gerichtet – und auf den Flächenbrand des Hasses, der als Folge des Massakers der Hamas an Jüdinnen und Juden die ganze Welt erfasst. Im Fokus „Nach dem Pogrom“ haben wir die Auswirkungen dieses Tages auf den christlich-jüdischen Dialog wie auch auf bisherige Friedensbewegte in Nahost skizziert. Wenig erfreulich ist auch der Blick nach Argentinien, wo der Rechtspopulist Javier Milei neuer Präsident werden könnte. Kann man angesichts all dessen auch nur ansatzweise „hoffnungsfroh und liebesfähig“ bleiben? Für angehende Lehrkräfte sei dies jedenfalls wesentlich, meint die Religionspädagogin Silvia Habringer-Hagleitner; Sozialethikerin Ingeborg Gabriel erklärt, warum die katholische Kirche demokratischer ist, als viele glauben; und Thomas Köhler sucht den christlich-sozialen Flügel der ÖVP. Etwas lichter wird es im Feuilleton: mit einer Würdigung der Schriftstellerin Ilse Helbich, die 100 wird, mit der Laudatio auf den Fritz-Csoklich- Demokratiepreisträger Dževad Karahasan, mit einem Blick auf die Viennale und einem Essay über Ekstasen der Gegenwart. Angesichts der aktuellen Nachrichten wäre man geneigt, sich ihnen hinzugeben. (dh) Das Gespräch führte Otto Friedrich Auch für Liliane Apotheker, Präsidentin des Internationalen Rates der Christen und Juden, der weltweiten Dachorganisation christlich-jüdischer Dialog-Vereinigungen, bedeutet das Pogrom der Hamas vom 7. Oktober eine Zäsur. Apotheker, in Belgien als Tochter von Überlebenden der Schoa geboren, wanderte 1971 nach Israel aus, wo sie auch studiert hat. Heute lebt sie in Frankreich. Im FURCHE-Gespräch thematisiert sie ihre Sprachlosigkeit angesichts des Terrors, der – wie das Attentat von Brüssel am Montag zeigt – längst nicht zu Ende ist. Aber auch ihre Hoffnungen – trotz allem. DIE FURCHE: Frau Apotheker, Sie sind ganz gewiss vom Morden der Hamas betroffen. Liliane Apotheker: Ich bin als Jüdin tief erschüttert. Ich habe das Gefühl und auch die Wahrnehmung, dass am vorletzten Samstag, am Schabbat, dem Fest Simchat Tora, ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung im Süden von Israel stattgefunden hat, durchgeführt von einer terroristischen Organisation, die nichts anderes vorhatte, als zu töten. Seit der Schoa ist dies die größte Zahl von Juden, die an einem Tag ermordet wurden. DIE FURCHE: Die Ereignisse werden oft mit dem Jom Kippur-Krieg verglichen. Aber der Angriff hat nicht am größten Buß- und Trauertag der Juden, sondern eben an Simchat Tora, dem Fest der Tora-Freude stattgefunden. Bedeutet das nicht noch eine besondere, auch religiöse Qualität an Brutalität? Apotheker: Simchat Tora ist das Fest, an dem die Tora im Jahresverlauf zu Ende gelesen wurde – ein Fest der Hoffnung: Alle kommen in die Synagoge, man tanzt dort mit der Tora. Das ist in unserer Tradition eigentlich ein sehr glücklicher Tag. Davor hatten wir ja das Neujahrsfest Rosch ha-Schana und Jom Kippur: Da haben wir gebetet, gebüßt, gefastet. Und dann kommt das Fest, wo dies alles mit dem Feiern der Freude an der Tora beendet wird. DIE FURCHE: Wird dieses Fest noch so gefeiert werden können wie vor dem 7. Oktober? Apotheker: Es wird ein Gedenken an diesen Tag bleiben. Da haben Sie recht. Es gibt einen Before- und einen After-Effect. Dieser Tag hat etwas Grundsätzliches geändert. DIE FURCHE: Was ist dieses Grundsätzliche? Apotheker: Es geht um das Gefühl von Sicherheit, dass Israel allen Israelis, aber auch den Juden in der Diaspora immer geboten hat. Ich war zum Beispiel nach 9/11 in Israel und fühlte mich da völlig sicher, was in Frankreich, wo ich lebe, nicht unbedingt der Fall war. Dieses Gefühl, dass man dort sicher ist, ist jetzt erschüttert. Es wird lange dauern, bis man das überwinden kann. DIE FURCHE: Wenn Sie die Reaktionen in unseren Ländern – Frankreich, Deutschland, Österreich … – betrachten: Haben Sie das Gefühl, dass die Öffentlichkeit oder auch die Politik begriffen hat, was dieser Tag und diese Tat für Jüdinnen und Juden bedeuten? Apotheker: Die Politik hat das, glaube ich, begriffen, weil die Juden wieder einmal die Opfer waren. Das hat jeder wahrgenommen. Was ich mir wünsche, ist, dass die Bevölkerung in allen Ländern das wahrnimmt als etwas, das gegen den Humanismus, nicht nur gegen Juden gerichtet ist. Foto: picturedesk.com / Action Press / NIBOR Ohne Wenn und Aber Solidarität mit den Jüdinnen und Juden weltweit ist ein Gebot der Stunde (Bild: Kundgebung in Hamburg am 9.10.2023) Das müsste als viel mehr verstanden werden als bloß als Akt der absoluten Barbarei. DIE FURCHE: Sie sind Präsidentin einer Organisation, die sich um den christlich jüdischen Dialog bemüht. Was bedeuten die Attentate fürs christlich-jüdische Gespräch? Apotheker: Wir haben ein Statement herausgegeben, in dem wir feststellen: Wir werden unsere Arbeit weiter leisten, wir werden nicht zulassen, dass diese Barbarei „ Ich möchte, dass sich die Humanität von allen herausschält, und dass man Mitgefühl mit den Opfern zeigt, die auf so brutale Weise ermordet wurden. “ Das Gespräch mit Liliane Apotheker können Sie auch in unserem Podcast nachhören: furche.at/ podcast Der 7. Oktober 2023 hat in Israel – wie für die ganze jüdische Welt – Grundsätzliches verändert, meint Liliane Apotheker, Expertin für den jüdisch-christlichen Dialog, im Gespräch. „Bin als Jüdin tief erschüttert“ das, was wir aufgebaut haben, einfach vernichtet. Aber es liegen schwierige Tage vor uns. Mein Mitgefühl gilt natürlich als erstes den Israelis, die so stark betroffen sind. Das bedeutet nicht, dass ich nicht auch die Zivilbevölkerung in der Region im Blick habe. Aber ich möchte dazu schon sagen: Es ist sehr schwer, in dieser Lage an zwei Völker zu denken. Das muss man sich immer wieder vornehmen. Man darf das nicht vergessen. Aber es gibt Momente, wo ich als Jüdin mit Familie und Freunden in Israel das nicht schaffe. DIE FURCHE:Im Internationalen Rat der Christen und Juden versuchen Angehörige zweier Religionen, von denen die christliche Seite in der Geschichte den Juden unermessliches Leid angetan hat, wieder auf Augenhöhe zusammenzukommen. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Christen zum Terror der Hamas adäquat verhalten? Apotheker: Es gibt ja auch Christen im Nahen Osten. Die brauchen auch Solidarität. Aber ich kann nicht einsehen, dass Christen mich auch auffordern, an die Christen im Gazastreifen zu denken. Ich kann kein generelles Statement dazu abgeben, was die Christen tun sollen. Das hängt von den einzelnen Ländern wie von den einzelnen Kirchen ab. Das hängt vom Verhältnis zur neuen Theologie, die zwischen uns Juden und den Christen entstanden ist, ab. Nicht alle Christen haben Nostra Aetate (das Konzilsdokument aus 1965, mit dem die katholische Kirche das Verhältnis zum Judentum neu bestimmte, Anm.) oder die entsprechenden Dokumente der protestantischen Kirchen wirklich in ihr Beten und die Art, christlich zu sein, aufgenommen. Da muss noch viel geschehen. Und die Frage nach Israel folgt unmittelbar: Was ist das theologische Verständnis von der Rückkehr von Juden an diesen Ort – das Foto: Doris Helmberger Liliane Apotheker, 68, ist Präsidentin des Internationalen Rates der Christen und Juden. Heilige Land, das drei Religionen heilig ist? Das ist eine sehr komplexe Frage. DIE FURCHE: Es gibt Kritik an der Positionierung der Spitze der katholischen Kirche: Sie stehe zu wenig auf der Seite Israels (vgl. Seite 3 dieser FURCHE). Ist das nicht ein Beispiel dafür, dass der Dialog doch belastet ist? Apotheker: Als Jüdin bin ich das gewohnt. Das ist nichts Neues. Andererseits: Was kann der Papst sagen? Das ist sehr kompliziert. Das ist schon in der Bibel so: Die Propheten denken und hoffen. Die Politiker müssen die Politik führen. Ich möchte, dass sich die Humanität von allen herausschält und dass man Mitgefühl mit den Opfern zeigt, die auf so brutale Weise ermordet wurden. Das wäre das erste. DIE FURCHE: Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Österreich hat seine Mitglieder aufgefordert, in diesen Tagen keine jüdischen Utensilien wie eine Kippa öffentlich zu tragen … Apotheker: Das ist ja nicht das erste Mal. Ich bin 1955 in Belgien geboren und habe eine jüdische Schule in Antwerpen besucht. Da stand immer Polizei davor. Ich war keinen einzigen Tag ohne Polizeischutz in der Schule. Das ist nichts Neues. Aber wir alle müssen uns fragen: Warum ist das immer noch so? DIE FURCHE: Wie sollten sich Christen demgegenüber verhalten? Apotheker: Vielleicht, indem sie alle eine Kippa tragen? DIE FURCHE: In unseren Gesellschaften leben auch Muslime, darunter viele Migranten aus dem Nahen Osten. Im Gefolge der Hamas-Attacken gab es ja auch schon einen islamistischen Mord in Frankreich und auch den Terroranschlag in Brüssel. Apotheker: Man muss auch da etwas tun. Wir haben im Internationalen Rat der Christen und Juden das „Abrahamitische Forum“, das im Dialog auch mit Muslimen steht. Es gibt zum Beispiel in Frankreich eine jüdisch-muslimische Freundschaftsgesellschaft und eine christlich-jüdisch-muslimische. Das alles sind Fragen von Erziehung und Mentalitäten: Wenn man mit Judenhass aufgewachsen ist, dann vergisst man das nicht so leicht. Das muss abgebaut werden. Das ist schwierig. Und bedeutet viel Arbeit. DIE FURCHE: Letztlich geht es darum, zu einem Ausgleich im Nahen Osten zu kommen, zu einer Friedensvision. Glauben Sie, dass so etwas möglich ist? Apotheker: Man muss es glauben. Und man muss alles tun, um eine derartige neue Realität an Ort und Stelle zu schaffen. Zurzeit ist das sehr schwer, weil die Israelis gegen eine Gruppe kämpfen, die nur durch Hass geleitet ist. Das löst aber natürlich die Palästinenserfrage nicht. Da muss etwas anderes kommen. Informationen zum Internationalen Rat der Christen und Juden: iccj.org

DIE FURCHE · 42 19. Oktober 2023 Das Thema der Woche Nach dem Pogrom 3 Nach dem Terrorangriff auf Israel stellt sich die Frage, warum Papst Franziskus nicht unmissverständlich die Verantwortung der Hamas benennt. Zwischenruf eines Theologen, der auch Konsultor der Päpstlichen Kommission für die Beziehungen zum Judentum ist. Church first? Rom bleibt ambivalent Von Gregor Maria Hoff Schockstarre hat Menschen weltweit am Samstagmorgen des 7. Oktobers 2023 erfasst. Erstmals seit der Schoa hat ein Pogrom stattgefunden – dazu auf israelischem Staatsgebiet. Der Terrorangriff der Hamas, 50 Jahre nach dem Jom Kippur-Krieg, trifft Israel und Juden weltweit in dem Maße, in dem mit der größten Zahl jüdischer Opfer seit dem 2. Weltkrieg an einem Tag zugleich die ganze Verletztlichkeit jüdischen Lebens vor Augen steht. Immer und jederzeit, nun aber auch in Israel selbst sind Juden mit tödlicher Gewalt konfrontiert. Alle innenpolitischen Auseinandersetzungen treten hinter der Tatsache zurück, dass sich Israel erneut in einem Existenzkampf auf Leben und Tod befindet. Denn mit der Hisbollah an der libanesischen Grenze und dem Iran im Hintergrund wird ein Zweifrontenkrieg in dem Maße wahrscheinlicher, in dem sich Israel mit der Bodenoffensive im Gazastreifen gegen die Dauereskalation der Hamas zur Wehr setzt. Nach diesem Exzess unvorstellbar brutaler Gewalt gegen wehrlose Menschen, angesichts der Erpressung mit entführten Geiseln, im Spiegel der Bilder hingeschlachteter Kinder steht Israel vor der Herausforderung, dafür zu sorgen, dass solche Gewalt nie wieder von der Hamas ausgehen kann. Vatikan hält sich auffällig zurück Foto: APA / Osservatore Romano Das schließt in der Mehrstimmigkeit israelischer Bürger das Wissen darum ein, dass die Hamas nicht mit den Palästinensern gleichzusetzen ist. Dennoch: Wer die kollektive Erfahrung jahrtausendelanger, permanenter Bedrohung jüdischen Lebens in jedem Augenblick neu machen muss, hat das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen. Wo die Grenzen liegen, haben die UNO und führende Regierungschefs aus der ganzen Welt betont. Aber jede Mahnung schließt verlässliche Solidarität mit Israel ein – und setzt eine eindeutige, folgenbewusste Verurteilung derjenigen voraus, die für diesen Terror verantwortlich sind. Das gilt für den Gazastreifen, den Libanon, den Iran, aber auch für die Länder, in denen Bürger ungeniert ihrer Freude über den Tod von Juden Ausdruck verleihen. Vor diesem Hintergrund verstört die Haltung des Vatikan als völkerrechtliches Subjekt wie als religiöser Akteur erheblich. Während sich Bischöfe etwa aus Österreich und Deutschland sofort und unzweideutig positioniert haben, erschienen die Statements aus dem Vatikan sonderbar zurückhaltend, vor allem ambivalent. „Der Papst sei traurig über die Gewalt und bete für alle Toten und Verletzten dieser neuen Welle der Gewalt“, richtete Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin der internationalen Presse zunächst aus. Zugleich richtete Parolin den Blick auf die Palästinenser in Gaza, die ihrerseits zu Opfern würden. Franziskus selbst forderte ein Ende der Gewalt. Der Vatikan sieht sich als möglichen Vermittler in diesem Konflikt. Seine diplomatische Erfahrung, seine internationalen Netzwerke, seine Verbindungen in Israel scheinen ihn dazu zu prädestinieren. Und die humanitäre Botschaft des Evangeliums verlangt, auf alle Menschen gleich welcher Nation und Religion zu achten, mit besonderer Aufmerksamkeit für die Ärmsten der Armen, wie Papst Franziskus nicht müde wird zu betonen. Aber schließt dies nicht ein, unmissverständlich zu brandmarken, wer diesen Terrorakt begangen hat? Dabei ist aus Sicht der Kirche ein Aspekt von besonderer Bedeutung, der in den Stellungnahmen des Vatikan und auch in der vor einigen Tagen nachgereichten Verurteilung des Hamas-Terrors durch Parolin keine Rolle zu spielen scheint: dass jeder Angriff auf jüdisches Leben und die Vernichtung des Staates Israel, die für Hamas, Hisbollah und Iran ihre Terroragenda anleitet, kein politisches Thema neben anderen für die Kirche sein kann. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil erkennt die katholische Kirche an, dass das Judentum, mit dem Apostel Paulus gesprochen, die Wurzel ist, die das Christentum trägt. Israel und das Judentum gehören untrennbar zur christlichen Identität – mit jüdischem Leben und Glauben in Israel. Nicht nur religionshistorisch, sondern jetzt. Immer. Das schließt echte Solidarität ein, wie die katholische Kirche oft genug betont hat. Umso mehr stellt sich die Frage, warum der Papst in seiner ersten Stellungnahme verschwiegen hat, was Staatschefs und Bischöfe sofort benannten: mit der Verurteilung des barbarischen Angriffs auch die Verantwortung der islamistischen Terroristen. So bleiben Zweifel. Soll Israel aus Sicht des Vatikan mit der problematischen Politik der aktuellen Regierung für dieses Pogrom in Haft genommen werden? Kann es nach der Schoa noch einmal ernsthaft Zweifel geben, wo ein Papst steht? Man fühlt sich für einen Moment an die Entstehungsgeschichte von Nostra aetate 4 erinnert. Das Ringen um die sogenannte „Judenerklärung“ des 2. Vatikanischen Konzils hatte nicht zuletzt mit der Situation der Christen in der arabischen Welt zu tun. Auch jetzt richtet sich der Blick des Vatikan auf alle Opfer der Gewalt, damit aber mehr als nur implizit auf die Lage der palästinensischen Christen, wie eine Stellungnahme u. a. des lateinischen Patriarchats zu erkennen gab. „Die von Gaza aus gestartete Operation und die Reaktion der israelischen Armee versetzen uns in die schlimmsten Papst in Yad Vashem 2014 stand Franziskus in Jerusalem am Ewigen Feuer zur Erinnerung an die Opfer der Schoa. Gedenken der Vergangenheit und Agieren in der politischen Gegenwart decken sich nicht immer. „ Der Papst verliert die Bewertungsbalance sowohl in der Ukraine als auch nun in Israel aus dem Blick, wenn er die unmittelbare Tatverantwortung nicht klar benennt und verurteilt. “ Lesen Sie zum Thema von Gregor Maria Hoff auch „Eine sich auflösende Erinnerung“ am 16.1.2020, nachzulesen auf furche.at. Zeiten unserer jüngsten Geschichte zurück“, wurde bekundet. Und weiter: „Einseitige Erklärungen über den Status religiöser Stätten und Gebetshäusern erschüttern die religiösen Gefühle und schüren noch mehr Hass und Extremismus.“ Umso wichtiger sei es, „den Status Quo für alle Heiligen Stätten des Landes und insbesondere in Jerusalem aufrechtzuerhalten.“ Church first? Genau das wird man dem Papst nicht vorwerfen wollen. Er globalisiert die politische Bedeutung der Botschaft Jesu, sei es ökonomisch mit seiner Kapitalismuskritik, sei es ökologisch wie zuletzt wieder. Dabei aber verliert er die Bewertungsbalance sowohl in der Ukraine als auch vor allem nun in Israel aus dem Blick, wenn er die unmittelbare Tatverantwortung nicht klar benennt und verurteilt. Seine menschenrechtliche Agenda und seine Autorität nehmen Schaden. Welche Lernerfolge bleiben? Nicht nur sie. Was bedeutet es für die Kirche, wenn der israelische Botschafter die erste zurückhaltende Stellungnahme des Papstes beim Angelus-Gebet am Sonntag nach dem Angriff öffentlich kritisiert? Inzwischen hat Franziskus das Selbstverteidigungsrecht Israels betont und damit die Wogen geglättet. Aber warum nicht von Anfang an? Mit Botschafter Raphael Schutz muss man – im Blick auf die Position des lateinischen Patriarchen, aber auch anfangs des Vatikan – festhalten: „Die Tendenz, sich angeblich ausgewogen zu verhalten, ist ein Problem. Ich sage, man kann nicht ausgewogen sein, wenn es eine gute Seite und eine böse Seite gibt. Dann muss man etwas Substanzielles sagen.“ Während in Rom an der Päpstlichen Universität Gregoriana einerseits über die Rolle Pius XII. und sein Schweigen zur Schoa diskutiert wird, und zwar kontrovers, wird andererseits im Vatikan die synodale Verfassung der Kirche eingeübt. Für Pius XII. weist Kirchenhisto riker Hubert Wolf zurecht darauf hin, dass man über die Figur des Papstes hinaus die Politik der Kurie berücksichtigen müsse. Das trifft den historischen Augenblick und die zeitgeschichtliche Gegenwart. Denn damit werden systemische Aspekte in der Wahrnehmung des Judentums markiert. Welche politisch belastbaren Lernerfolge, die theologisch unbestreitbar erreicht wurden, ergeben sich aus den vergangenen 60 Jahren intensiven Dialogs der katholischen Kirche mit dem Judentum. Dass diese Frage noch einmal gestellt werden kann, zumal, aber nicht nur von Jüdinnen und Juden, ist beschämend. Und dass sich die in Rom versammelte Synode über Gebete hinaus nicht zu einer Stellungnahme veranlasst oder auch berechtigt zu sehen scheint, gleichfalls. Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumene an der Uni Salzburg.

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