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DIE FURCHE 19.10.2023

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DIE FURCHE · 42 18 Wissen 19. Oktober 2023 Foto: iStock/gilaxia Foto: APA / AFP / Saul Loeb Illustration: Rainer Messerklinger Foto: iStock/AndreasWeber Außer sich-Sein Ekstatisches Feuer lodert in unzähligen Flammen – vom Oktoberfest über die Technoparty bis hin zum gewalttätigen Aufstand. Foto: iStock/jun In einer Zeit der Zukunftsangst boomt die Suche nach dem intensiven Augenblick. Die Wiederkehr der Ekstasen ist auch politisch relevant – höchste Zeit, sie kritisch zu durchleuchten. Von Manuela Tomic Kokolo MOZAIK 1988, in meinem Geburtsjahr, kauften meine Eltern einen Papagei. Sie nannten ihn nach dem Album einer ex-jugoslawischen Popgruppe: Kokolo. Auf dem Cover prangte ein blau-gelber Ara. Unser Kokolo war jedoch ein kleiner Nymphensittich. Sein Käfig stand neben dem Fernseher. Wenn Vater abends mit einem Glas Rakija in der Hand fernsah, trillerte Kokolo und schielte mit geneigtem Kopf zum flimmernden Schirm. Vater vernahm die Nachrichten in Begleitung von Kokolos Pfeifen. Die schrille Papageien-Stimme mischte sich in die Reden der Nationalisten, die Krieg vorbereiteten. Synchron schimpfte Vater vom Sofa. Mit den Jahren wurde Kokolo lauter und Vater leiser. Als wir schließlich 1992 aus Bosnien flüchteten, blieb Kokolo zurück. Im österreichischen Fernsehen sah Vater Bilder von zuhause, begleitet von Worten, die er nicht verstand. Wochen nach unserer Ankunft wählte er die Telefonnummer unserer alten Wohnung und sprach mit unseren Nachmietern, einem alten Ehepaar aus Sarajevo. „Sie haben Kokolo nun freigelassen“, erzählte Vater aufgeregt. Wir sahen ihn mit fragenden Augen an. Nach einer Atempause fuhr Vater fort: „Er hat aufgehört zu pfeifen.“ FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Im absoluten Jetzt Von Martin Tauss Es war ein röhrender Büffelmann, der der US-Demokratie nachhaltigen Schrecken eingejagt hat: Wenn sich der Sturm auf das Kapitol in Washington im Jänner zum zweiten Mal jährt, dann erinnert man sich an seine bizarre Erscheinung. Jake Angeli (bürgerlich Jacob Chansley) gerierte sich als Anführer von Donald Trumps Meute. Auf dem Bauch hatte er einen Hammer des nordischen Donnergotts Thor tätowiert, ins Gesicht die „Stars and Stripes“ der US-Flagge gemalt, und auf dem Kopf trug er eine Pelzkappe mit ausladenden Büffelhörnern. Durch tiefe Brunftschreie wollte der Öko-Querdenker seine Rolle als Alpha-Mann und „geborener Führer“ zum Ausdruck bringen. Dass er mit dem gehörnten Pelzkopf an die Indianer der „Northern Plains“ erinnerte, war kein Zufall, denn Angeli sah sich selbst als Schamane; als Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, der „energetische Heilungen“ durchführen kann. Der berühmte Religionswissenschafter Mircea Eliade sah im Schamanismus eine „archaische Ekstasetechnik“: Demnach sind Schamanen die Bewusstseinskünstler in den vorzivilisatorischen Jäger- und Sammler-Gesellschaften. Sie beherrschen bestimmte Techniken, mit denen sie außer sich geraten (gr. ékstasis: „Aus-sich-Heraustreten“). Die Ekstase erlaubt ihnen, in heilsamen Kontakt mit anderen Welten zu treten. Monotone Musik, stampfender Tanz und oft auch Rauschmittel dienen dabei als Vehikel. Dass heute ein Trump-Anhänger im Bann einer rechtsreaktionären Verschwörungsmythologie (QAnon) das „Outfit“ eines Schamanen wählt, ist bezeichnend: Es verdeutlicht, dass Ekstasen nicht unpolitisch sind, ja politisch gefährlich sein können, und dass man sich gerade jetzt mit ihnen beschäftigen sollte. Derzeit gebe es eine globale und gut vernetzte Szene, „in der Elemente wie Zivilisationskritik, Archaik, Naturromantik, Wissenschaftsskepsis und Spiritualität verschiedene Konstellationen eingehen – und in der Ekstasen eine zentrale Rolle spielen“, schreiben die deutschen Journalisten Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter. In ihrem Buch „Ekstasen der Gegenwart“ (2023) präsentieren sie eine „ Hanske und Sarreiter plädieren für eine Ethik der Ekstatik – mit ‚Safe Spaces‘, in denen die Neigung zur Entrückung harmlos ausgelebt werden kann. “ leichtfüßige, anregende, assoziative und zugleich fundierte Deutung dieses Phänomens, das sich bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurückverfolgen lässt. Das Streben nach rauschhafter Entgrenzung ist so alt wie der Homo sapiens. Insofern liegt es nahe, darin ein existenzielles Grundbedürfnis zu erkennen. „Tanzend in die Lüfte“ Die Kulturgeschichte der Ekstasen, wie sie Hanske und Sarreiter aufrollen, ist jedoch eine Geschichte der Verdrängung. Das zeigt sich bereits in einem der ältesten schriftlichen Zeugnisse, der antiken Tragödie „Die Bakchen“ von Euripides (406 v. Chr.). Sie erzählt von der Ankunft des griechischen Gottes Dionysos in Theben, wo dieser bald eine weibliche Gefolgschaft um sich schart. Er stiftet sie an, im Wald zu „schwärmen“ und lässt sie in Ekstase fallen. Seine Anhängerinnen tanzen, lärmen und jagen; mit bloßen Händen erlegen sie wilde Tiere. Der König von Theben hört die befremdlichen Berichte; letztlich treibt ihn die Neugier selbst in den Wald. Doch die rasenden Frauen entdecken ihn und zerreißen den König in einer Blutorgie. Was wollte Euripides mit seinem drastischen Stück sagen? Dass die Macht des ekstatischen Gottes unbedingt anzuerkennen ist? Dass Ekstasen blutig enden, wenn man sie zu verbannen versucht? Dass die Ordnung der Zivilisation immer von diesem archaischen Erbe bedroht sein wird? Die

DIE FURCHE · 42 19. Oktober 2023 Wissen 19 „ In einer hyperkapitalistischen Kultur geht es bei den ekstatischen Strategien nicht mehr um transformierenden ‚Ich-Verlust‘, sondern um kreative Selbstoptimierung. “ weitere Geschichte der Ekstasen wird jedenfalls rasch sehr unübersichtlich, wie Hanske und Sarreiter zeigen. Sie umfasst antike Mysterienkulte, mittelalterliche Mystik und neuzeitliche Hexenmagie, und sie findet vor allem in der Moderne einen neuen Hort der Verkündigung: die Kunst. „Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen“, schrieb Friedrich Nietzsche, der große Theoretiker der dionysischen „Rauschkunst“ im Jahr 1872. Der Dirigent im Gehirn Was aber passiert, wenn Menschen sich vor lauter Inspiration selbst vergessen und intensive Momente der Abgehobenheit oder auch Versunkenheit erleben? Ein Schlüssel für das neurowissenschaftliche Verständnis ist das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk im Gehirn, das erst in den 2000er-Jahren entdeckt wurde. Die entsprechenden Nervenzellverbindungen dürften vor allem für die Selbstreflexion und die Beschäftigung mit der Zukunft und Vergangenheit verantwortlich sein. Hirnforscher sehen in diesem Netzwerk einen „Dirigenten der globalen Gehirnfunktionen“, und dieser Dirigent ist nicht weniger als das, was wir im Alltag als unser „Ich“ bezeichnen. Wenn er seinen Dirigentenstab vorübergehend beiseitelegt, verfällt das Reich der Nervenzellen in kreative Unordnung: Das ist der neuronale Nährboden, auf dem ekstatische Erfahrungen gedeihen. Hanske und Sarreiter charakterisieren diese Erfahrungen durch typische Merkmale: Das Zeiterleben schmilzt zum absoluten Augenblick, zum Gefühl höchster Intensität und reiner Präsenz. Das Alltags-Ich schwindet und geht auf in einem größeren Zusammenhang: im Kontakt mit anderen Welten, einer göttlichen Wirklichkeit, archaischen Ideen oder einer Masse an Gleichgesinnten. „Die Ekstase ist auch eine Art Universalwerkzeug, das an ganz viele Probleme der Gegenwart angelegt wird, um diese individuell zu bearbeiten: den Zusammenbruch der großen Zukunftserzählungen, ökologische und soziale Angst sowie den so wahrgenommenen Verlust von Sinn und Perspektiven.“ Ekstatische Positionen stehen meist quer zur religiösen und politischen Autorität, zum gesellschaftlichen Mainstream. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als in der Pop- und Jugendkultur, die seit den 1950er-Jahren eine nicht versiegende Abfolge von Szenen hervorgebracht hat. Vom Rock´n Roll bis zur Rave- und Technobewegung wurde hier den ältesten Ekstasetechniken gehuldigt: Musik und Tanz, oft gepaart mit Rauschmitteln. Die US-Publizistin Barbara Ehrenreich sieht darin ein Beispiel für die „kollektive Freude“ an der Ekstase, der eine subversive Dynamik innewohnt: Den Herrschern, dem Adel und Militär, der Kirche und den Kolonialherren, dem Bürgertum und Volksgesundheitsaposteln war sie daher oft ein Dorn im Auge. Doch das Beispiel des Trumpisten Jake Angeli zeigt: „ Was bleibt den Deklassierten und Abgehängten? Durch ekstatische Erfahrung wirkt das Rollenmodell einer archaischen Männlichkeit hochauthentisch. “ Es gibt auch martialische Ekstasen; der Umsturz kann auch in eine autoritäre Richtung erfolgen. Gerade die Galionsfiguren einer rechten Ideologie wie Ernst Jünger („Der Kampf als inneres Erlebnis“) oder Gerd Bergfleth („Der Augenblick der Ewigkeit“) haben die Kraft der Ekstase beschworen. In der Geschichte des Phänomens zeigen sich daher multiple Konfliktlinien: Archaik vs. Zivilisation, Masse vs. Elite, Inklusion vs. Exklusion, Kollektiv vs. Herrschaft, nicht zuletzt Krieg vs. Frieden. Das macht den Umgang mit ekstatischen Bewusstseinszuständen angesichts zunehmender Konflikte und neuer Kriege so relevant. Zumal die Ekstasen heute in vielschichtiger Form wiederkehren: Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter beleuchten aktuelle Trends und Phänomene wie spirituelle Kreistänze, moderne Hexenkulte („Wicca“), Pfingstkirchen, intensive Yoga-Retreats oder Rituale mit psychedelischen Wirkstoffen, die einst von Schamanen genutzt wurden und derzeit nicht nur in der Medizin ein „Revival“ erfahren, sondern auch als exotischer Lifestyle-Trip angeboten werden. In einer hyperkapitalistischen Kultur geht es bei diesen ekstatischen Strategien jedoch weniger um transformierenden „Ich-Verlust“, sondern vielmehr um kreative Selbstoptimierung. Deshalb stehen derzeit die kontrollierten, „verdünnten Ekstasen“ so hoch im Kurs: Achtsamkeit zur Stressreduktion, Psychedelika in Mikrodosis oder ein bisschen Extremsport. Sie dienen der Schmückung des Selbst oder werden in den Dienst der eigenen Konkurrenz- und Leistungsfähigkeit gestellt. Was aber bleibt den Deklassierten und Abgehängten? Ideale einer archaischen und gewalttätigen Männlichkeit haben gerade heute einen großen Reiz – egal, ob es sich um rechtsextreme Mobilisierung oder islamistische Rekrutierung handelt: Durch die Aussicht auf ekstatische Erfahrungen wirken diese Rollenmodelle besonders authentisch, so Hanske und Sarreiter. Die beiden Autoren plädieren letztlich für eine Ethik der Ekstatik – mit „Safe Spaces“, in denen die universelle menschliche Neigung zu Entrückungen aller Art harmlos ausgelebt werden kann. Ekstasen der Gegenwart Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie Von Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter Matthes & Seitz Berlin 2023 351 S., geb., € 28,80 Gute Nachrichten in ungewissen Zeiten. Werbung in Zeitungen und Magazinen ist eine gute Investition. Die anerkannte und unabhängige österreichische Reichweitenerhebung Media-Analyse hat das Werbeimage unterschiedlicher Mediengattungen erhoben. Zeitungen und Magazine punkten mit hohen Imagewerten. Werbung in Zeitungen und Magazinen – gedruckt oder digital – wird vor allen anderen Mediengattungen als informativ, nützlich, hochwertig und relevant wahrgenommen. Werbung ist... INFORMATIV NÜTZLICH HOCHWERTIG FÜR MICH RELEVANT in Zeitungen/Zeitschriften print 46,9 % 38,8 % 33,1 % 33,0 % in Zeitungen/Zeitschriften print/digital 52,4 % 43,5 % 36,6 % 39,1 % im Fernsehen 32,6 % 25,9 % 30,6 % 26,6 % im Radio 23,5 % 18,1 % 12,6 % 16,3 % auf Social Media Plattformen 15,7 % 16,3 % 8,2 % 20,3 % in Außenwerbung 15,5 % 16,2 % 19,4 % 14,3 % Quelle: Werbeimage 2023, Verein Arbeitsgemeinschaft Media-Analysen, n=2.277

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