DIE FURCHE · 42 16 Film 19. Oktober 2023 FAMILIENDRAMA Fortgeschrittener Kinderwunsch Als die 40-jährige Lehrerin Rachel (Virginie Efira) beim Gitarrekurs den geschiedenen Automobildesigner Ali (Roschdy Zem) kennenlernt, verliebt sie sich sofort. Auch dessen vierjährige Tochter Leila schließt sie rasch ins Herz. Gleichzeitig weckt dieses Mädchen, ebenso wie die Schwangerschaft ihrer Schwester, ihren eigenen Kinderwunsch. Rebecca Zlotowski erzählt in ihrem mitreißenden Melodram schnell und in dichter Szenenfolge. Unterstützt wird das Erzähltempo vom fulminanten Soundtrack, der diesem ebenso energetischen wie hoffnungsvollen Film unterlegt ist. Intensiv beschwört die 43-jährige Regisseurin so das Glück der neuen Liebe, dargestellt im Wochenendtrip der Patchwork-Familie. Sie macht aber auch sichtbar, dass die emotionale Bindung Leilas zu ihrer getrennt lebenden, leiblichen Mutter viel stärker ist als zur neuen Freundin ihres Vaters. Bald spürt die von Virginie Efira mit Verve gespielte Rachel, dass sie in diesem Beziehungsviereck für das Kind immer nur eine Randfigur bleiben wird. Gleichzeitig baut Rebecca Zlotowski mit dem Schulalltag, in dem sich Rachel intensiv um einen schwierigen Schüler kümmert, einen effektiven Gegenpol zum Privatleben auf. In diesem kann die Lehrerin vielleicht Glück und Erfüllung finden – auch wenn sich ihr Kinderwunsch nicht erfüllen sollte. (Walter Gasperi) Dein Kind und wir (Les enfants des autres) F 2022. Regie: Rebecca Zlotowski. Mit Virginie Efira, Roschdy Zem. Filmladen. 103 Min. Prekäres Glück: Eine Patchwork-Familie mit Virginie Efira und Roschdy Zem. Bei guten Filmen und anspruchsvollen Diskussionen bietet die Viennale die Möglichkeit, die eigene Gedankenwelt zu erkunden. Entdecken Sie neue Zusammenhänge und Perspektiven - heute bei der Viennale und gerne auch ab morgen in Ihrer FURCHE. JETZT 4 WOCHEN GRATIS LESEN furche.at/abo/gratis Foto: Viennale Die Viennale präsentiert wieder eine feine Auswahl des jüngsten Filmschaffens. Das Spektrum des Wiener Festivals reicht von seltenen Kunstkino-Schätzen bis zu großen Produktionen mit Starbesetzung. Weitläufige Wiener Melange Von Michael Krassnitzer Alle Artikel seit 1945 im FURCHE- Navigator Ein Schüler fällt bei der Maturaprüfung in Geschichte durch, weil seine Gedanken vor allem um eine heiß begehrte Mitschülerin kreisen. Dem streng konservativen Vater gegenüber behauptet der an Politik uninteressierte Junge jedoch, sein linksliberaler Lehrer habe ihn aus politischen Gründen durchsausen lassen. Als der Vater die vermeintliche Ungerechtigkeit einem rechtskonservativen Journalisten zusteckt, wird aus der verpatzten Prüfung eine landesweite Affäre. Der Film „Magyarázat mindenre – Explanation for Everything“ des ungarischen Regisseurs Gábor Reisz zeigt, wie in einer politisch gespaltenen Gesellschaft – und das von Viktor Orbán autoritär regierte Ungarn ist eine solche – durch Empörungsmechanismen aus einer kleinen Mücke ein veritabler Elefant wird. „ Im Zentrum der Retrospektive steht die neu restaurierte Fassung eines Meisterwerkes aus dem Jahr 1981, das in Österreich Jahrzehnte unter Verschluss war. “ Obwohl der Film durchaus regierungskritisch gesehen werden kann, schlägt sich der Regisseur nicht auf eine Seite, sondern zeigt Verständnis und Empathie sowohl für die Protagonisten aus dem regierenden rechten als auch dem oppositionellen linken Lager. „Magyarázat mindenre“ ist der Eröffnungsfilm der Viennale 2023, die am 19. Oktober startet. Das Wiener Filmfestival präsentiert wie immer einen breit gefächerten Auszug des jüngsten weltweiten Filmschaffens. Das Spektrum reicht von schwer verdaulichem Kunstkino, das zu sehen die Viennale eine in Österreich einmalige Gelegenheit bietet, bis hin zu großen Produktionen mit Starbesetzung, die wohl bald auch regulär im Kino anlaufen werden. Zu dieser Kategorie zählen etwa der Gewinner der diesjährigen Goldenen Palme in Cannes „Anatomie d‘une chute“ (Regie: Justine Triet), die US-Produktion „She Came to me“ (Regie: Rebecca Miller) mit Peter Dinklage, Marisa Tomei und Anne Hathaway, oder „Coup de chance“, der neue Film von Woody Allen, der ja bei Teilen des Publikums in Ungnade gefallen ist. Gleich mit zwei neuen Filmen ist Wim Wenders vertreten: „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ und „Perfect Days“. Yorgos Lanthimos greift in seinem bei den Filmfestspielen in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Streifen „Poor Things“ (mit Emma Stone, Mark Ruffalo und Willem Dafoe) das Frankenstein-Motiv auf – ein Stoff, der interessanterweise auch einem zweiten bei der Viennale gezeigten Film zugrunde liegt: „Birth/Rebirth“ von Regisseurin Laura Moss. Der österreichische Film ist bei der Viennale mit mehr als 20 Arbeiten vertreten, inklusive Kurzfilmen (u. a. von Sasha Pirker) und internationaler Koproduktionen. In Jessica Hausners neuem Film „Club Zero“ geht es um eine Lehrerin (Mia Wasikowska) an einer englischen Privatschule, die ihre Schülerinnen mit ihrem Streben nach bewusster Ernährung konsequent in die Essstörung treibt. Nikolaus Geyrhalter zeigt in seinem Stoff aus Ungarn Dokumentarfilm „Stillstand“ eindringliche Bilder aus der ersten Phase der Corona-Pandemie: verwaiste Straßen, leere Tramways, aber auch provisorische medizinische Einrichtungen und die täglichen TV-Meldungen über die aktuelle Zahl der Todesopfer. Sehr wienerisch wird es in „Rickerl“: Unter der Regie von Adrian Goiginger schlägt sich ein erfolgloser Musiker, verkörpert von niemand anderem als Voodoo Jürgens, durch sein potschertes Leben. Vorliebe für Außenseiter „Magyarázat mindenre – Explanation for Everything“: Der Eröffnungsfilm des ungarischen Regisseurs Gábor Reisz zeigt Verständnis sowohl für die Protagonisten aus dem regierenden rechten als auch dem oppositionellen linken Lager. Die Retrospektive in Zusammenarbeit mit dem Filmarchiv Austria ist dem österreichischen Film der 1980er-Jahre gewidmet. Nachdem in Österreich 1981 die staatliche Filmförderung etabliert wurde, entstand eine neue Filmkultur, die stark von einer „No future“-Stimmung geprägt war und deren Blick sich mit Vorliebe auf gesellschaftliche Außenseiter richtete. Im Zentrum steht die neu restaurierte Fassung eines Meisterwerkes aus dem Jahr 1981, das in Österreich Jahrzehnte unter Verschluss war, aber im Ausland unter Genre-Liebhabern als Kultklassiker gilt: „Angst“ von Gerald Kargl (1981) war filmisch und thematisch seiner Zeit weit voraus. In dem verstörenden, grandios gespielten Psychothriller geht es um einen Serienkiller, der unmittelbar nach seiner Haftentlassung seine nächsten Morde begeht. In „Ich oder Du“ (Dieter Berner, 1984) wiederum glänzt der damalige New-Wave-Musiker Hansi Lang in einer Rolle als Rocksänger auf dem Weg in die Selbstzerstörung. Der Beginn der Militärdiktatur in Chile jährt sich heuer zum 50. Mal. Unter dem Titel „Widerstand, Erinnerung, Neuerfindung“ widmet die Viennale daher dem chilenischen Kino einen Schwerpunkt, in das sich die Schreckensherrschaft unter Augusto Pinochet (1973 bis 1990) als Konstante eingeschrieben hat. Auch die Retrospektive im Wiener Filmmuseum steht im Zeichen eines (exil-)chilenischen Regisseurs: Raúl Ruiz. Filmfestival Viennale 2023 19. bis 31. Oktober, www.viennale.at
DIE FURCHE · 42 19. Oktober 2023 Film 17 Martin Scorsese liefert mit 80 mit „Killers of the Flower Moon“ erneut ein Meisterwerk ab. Leonardo DiCaprio und Robert De Niro performen Bösartigkeit hinter der Maske der Gutwilligkeit. Morden in Osage County Von Otto Friedrich Zuerst hätte es ein Film über die Anfänge des (Federal) Bureau of Investigation werden sollen, in der Leonardo DiCaprio den FBI-Agenten Tom White zu spielen hatte, der eine unaufgeklärte Mordserie im Indianerreservat Osage County in Oklahoma aufklären sollte. Doch Martin Scorsese und sein Hauptdarsteller disponierten um: In „Killers of the Flower Moon“ gibt Di- Caprio den tragischen Helden Ernest Burkhart, der in die Sache verwickelt ist. Endlich wieder ein Scorsese – und man darf sich auf großes episches Kino des Altmeisters freuen, indem überdies ein unbekanntes Kapitel US-amerikanischer Schuldgeschichte der Weißen gegenüber den Native Americans aufgearbeitet wird. Auch wenn man ordentlich Sitzfleisch benötigt – knapp dreieinhalb Stunden im Kinosaal verlangt der Film dem Publikum ab. Aber obwohl Scorsese mit AppleTV+ einmal mehr bei einem Streaminganbieter untergekommen ist (Hollywood stemmt die hohen Produktionskosten einfach nicht mehr), braucht sein Film die Kinoleinwand. Native Americans, steinreich Die Historie, auf der „Killers of the Flower Moon“ fußt, ist ebenso unbekannt wie mitnehmend: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dem Volk der Osage ein Territorium in Oklahoma als Siedlungsgebiet zugewiesen. Als dort Öl gefunden wurde, wurden die Osage innerhalb weniger Jahre steinreich. Allerdings versuchten die Weißen, den Osage die lukrativen Schürfrechte abzuluchsen – unter anderem durch juristische Tricks wie einer „Vormundschaft“, die Weiße über Angehörige der Osage ausüben konnten, damit diese Rechtsgeschäfte abwickeln können. Am brisantesten aber waren die Morde an Hunderten der Native Americans zwischen 1920 und 1924. Weil die örtliche Polzei korrupt und in Kumpanei mit den weißen Glücksrittern agierte, wandten sich die Osage-Führer an US-Präsident Calvin Coolidge, der das damals noch junge FBI mit „ Die Kunst dieses großartigen Scorsese- Epos besteht darin, dass Suspense wie im klassischen Thriller nicht nötig ist: Das Publikum weiß bald, wer die Bösewichte sind. “ Vergiftete Lovestory Gladstone als Osage-Braut Mollie, Leonardo DiCaprio als ihr (Noch-)Chauffeur Ernest. den Ermittlungen betraute, die letztendlich zur Aufklärung der Morde führten. „Killers of the Flower Moon“ rankt sich um die Liebesgeschichte der Osage-Frau Mollie (Lily Gladstone) mit dem Weltkriegsheimkehrer Ernest Burkert (DiCaprio), dem Neffen von William Hale (Robert De Niro), ein Rinderzüchter, der die Sprache der Osage spricht und auf Seiten der Native Americans zu stehen scheint. Mollie ist als Osage eine äußerst gute Partie, aber bald stirbt eine ihrer Schwestern nach der anderen auf mysteriöse (und von der Polizei nicht ermittelte) Weise. Auch Mollie, die an Diabetes leidet, wird immer kränker, sodass ihr gleichfalls das Schicksal der Schwestern droht – weswegen ihr Vermögen in den Dunstkreis ihres Schwiegeronkels Hale kommen könnte. Erst als sich der einstige Texasranger Tom White (Jesse Plemons) als FBI-Agent der Kriminalfälle annimmt, kommt Licht in die dunklen Machenschaften. Scorsese macht aber keinen im Mittelwesten spielenden Thriller aus dem Plot, sondern er webt genial Psychogramme der Handelnden zu einem Gesellschaftstableau zusammen: Der ehrlich um Liebe zu Molly bemühte Ernest entpuppt sich gleichzeitig als kaltblütiger Zeitgenosse, der im Verein mit seinem Onkel Strippen zieht, die ebendiese Gesellschaft arg in Mitleidenschaft ziehen. Die Kunst dieses einmal mehr großartigen Scorsese-Epos besteht darin, dass Suspense wie im klassischen Thriller nicht nötig ist: Das Publikum weiß bald, wer die Bösewichte sind – und es gelingt Scorsese trotzdem, die Spannung so aufrecht zu halten, dass die Überlänge des Films selten zu spüren ist. Die Oscars winken Ganz gewiss zählen Scorsese und der Film als Ganzes zu den Oscar-Favoriten, detto Leonardo DiCaprio für seine tatsächlich unnachahmliche Performance als Ernst Burkert. Und Hollywood-Oldie Robert De Niro spielt den diabolisch freundlichen Strippenzieher Hale, dass es eine Freud’ ist. Das Ende der Osage-Mörder wird dem p.t. Publikum per Radio-Show im Stil der 1950er Jahre nahegebracht – auch das ein genialer Kunstgriff von Martin Scorsese, bei der sich der Regie-Meister noch mit einem Cameo-Auftritt feiert: Scorsese ist das letzte Gesicht des Films. Chapeau! Killers of the Flower Moon USA 2023. Regie: Martin Scorsese. Mit Leonardo DiCaprio, Lily Gladstone, Robert De Niro, Brendan Fraser. Constantin. 206 Min. KOMÖDIE Spätes Aufblühen in den Tanzproben Schon 50 Jahre sind der 75-jährige Germain (François Berléand) und Lise (Dominique Reymond) ein Paar. Während er kontemplativ orientiert ist und sich an Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erfreut, beginnt sie an den Proben für eine Modern Dance-Aufführung mitzuwirken. Bestens umsorgt wird das ältere Paar von seinen drei erwachsenen Kindern. Aber vor allem Germain fühlt sich durch deren Überfürsorge in seiner Freiheit und Selbstständigkeit eingeschränkt. Dann stirbt Lise plötzlich und die Kinder glauben, sich noch mehr um den Vater kümmern zu müssen. Weil sich Germain und Lise aber einst gegenseitig versprochen haben, dass der jeweils Überlebende die letzte Aufgabe des Verstorbenen fortsetzt und beendet, beginnt er heimlich selbst bei der Tanzkompagnie mitzuwirken. Ein warmherziges Vergnügen ist es zuzusehen, wie der von Francois Berléand mit viel Gefühl gespielte Pensionist langsam Spaß am neuen Hobby entwickelt, sich nach Unsicherheiten in die Tanztruppe einfügt, zunehmend Lust an Bewegungen und der Entdeckung des Körperlichen empfindet. Seine Geheimniskrämerei gegenüber seinen Kindern führt dabei bald zu witzigen Missverständnissen, falschen Einschätzungen und zu Wendungen, die das Vergnügen an „Last Dance“ noch steigern. Dass alles etwas zu glatt abläuft, alle zu nett sind und der Film von Harmoniesucht durchzogen ist, kann man Delphine Lehericeys „Feelgood-Movie“, das viel Lebensfreude, insbesondere die Lust am Tanzen und Essen, verbreitet, natürlich vorwerfen. Trotz dieser Schwäche erlebt man eine runde und feinfühlige Dramödie, die liebevoll und mit Witz dem Wunsch der älteren Generation nach Aktivität und selbstbestimmtem Leben gerecht wird. Ein Film, der aber auch die Fürsorge durch die Kinder feiert – wenngleich in ihrem Übermaß sanft kritisiert. (Walter Gasperi) Last Dance CH/B 2022. Regie: Delphine Lehericey. Mit Kacey M. Klein, François Berléand. Panda Film. 84 Min. Ein älteres Paar hat eine geheime Abmachung getroffen: „Last Dance“ ist warmherziges Wohlfühlkino. KREUZ UND QUER EINE FAMILIE – ZWEI WELTEN DI 24. OKT 22:35 Der Wiener Filmemacher Peter Mahler begibt sich auf Spurensuche nach zwei grundverschiedenen Zweigen seiner Familie: Wie war es möglich, dass der eine Großvater als Jude im Dritten Reich nur durch Flucht dem gewaltsamen Tod entkommen konnte, während der andere als SS-Mann den brutalen nationalsozialistischen Judenverfolgern angehörte? religion.ORF.at Furche23_KW42.indd 1 11.10.23 14:47
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