DIE FURCHE · 38 24 19. September 2024 Von Manuela Tomic Illu: RM MOZAIK Kofferraum Vater und seine drei Brüder leben seit dem Krieg in vier verschiedenen Ländern. Einmal im Jahr tauchen sie aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen an einer kroatischen Autobahnraststätte auf, trinken wässrigen Kaffee aus Pappbechern und qualmen. Lauthals erörtern sie, welcher Grenzübergang nach Bosnien am besten sei, wo es den leckersten Lammbraten gebe und ob ihr geliebtes Mütterchen wieder mal zum Arzt müsse. Dann öffnen sie ihre Kofferräume und tauschen Gaben aus. In meiner Kindheit tauchten so aus dem dunklen Muff der Kofferräume für mich oftmals Spielsachen auf. Mein Liebling war ein aufblasbares Einhorn, das ich Adriana taufte. Doch dieses Jahr hatte Onkel Jozo, der Zweitälteste, seinen Kofferraum voller Oktopusse. Im Seitenspiegel sah ich, wie seine Hände schleimige Kraken in die Luft hoben und in Plastiksäcke stopften. Auf der Rückfahrt nach Kärnten stellte ich mir vor, wie ein kalter Oktopus Adriana liebkoste und sich an ihr festsaugte. Erst zu Hause, als Mutter den Oktopus im Schrebergarten auf den Grill warf, lösten sich seine Tentakeln. Der Geruch des Meeres brutzelte in meiner Nase. Adriana ließ die Luft raus. FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Foto: Caroline Gaisbauer Sie ist ein Teenager. Und sie hat Trisomie 21 – besser bekannt als Down-Syndrom. Aber down ist sie nur, wenn sie müde ist. Stille Beobachtungen eines Großvaters. Lernen bei Ann-Sofie „Für Ann-Sofie zählt meist nur das ,Jetzt‘. Ich lerne von ihr, was man unter ,innerem Glück‘ verstehen kann“, sagt Hubert Gaisbauer über seine besondere Enkeltochter. Von Hubert Gaisbauer „ Den Schlüsselsatz hat Ann-Sofies Mutter geprägt: ,Sie hat eben das Chromosom 21 nicht zwei-, sondern dreimal. Das dritte ist das Liebes- Chromosom. “ „Von deinen Kindern lernst du mehr als sie von dir“, hat der Dichter Friedrich Rückert in einem Aphorismus geschrieben – und nicht von ungefähr, er hatte immerhin zehn Kinder. Ich habe vier Enkelinnen und behaupte, dass ich – jetzt, da ich als Großvater entspannt ihrem Aufwachsen staunend zusehen darf – mehr von ihnen lerne, als wenn ich ihnen in elterlicher Verantwortung gegenüber wäre. Da ist Ann-Sofie, meine vierte Enkelin. Oft, wenn sie in meiner Nähe ist oder ich sie mir bildlich vorstelle, fällt mir mein Lieblingssatz des wilden Genies Christoph Schlingensief ein: „Menschen, die auf Zehenspitzen durch die Welt gehen, sind ganz besondere Menschen.“ Das hat er einmal einer Mutter gesagt, als sie ihm dies etwas besorgt von ihrem Kind erzählt hatte. Meine Enkelin Ann-Sofie, so scheint mir, geht in vieler Hinsicht auf Zehenspitzen durch die Welt ihres Lebens. Da hätte ich schon etwas von ihr zu lernen, denke ich, auch noch in meinen späten Jahren: ihre Achtsamkeit. Wenn sie in meinem Zimmer ihre Buntstifte einsammelt und bemerkt, dass ich in meinem Lehnstuhl eingeschlafen bin, wird sie ganz leise und macht die Schlummerprobe: Sie streicht mir so sachte über die Stoppelhaare, dass ich eigentlich nur ihr Vergnügen spüre, dass sie selber an dieser Zartheit empfindet. Natürlich bin ich wach und sie zeigt mir dann, was sie geschrieben oder gezeichnet hat. Ann- Sofie ist inzwischen ein Teenager. Und sie geht wahnsinnig gerne in die Schule. „Wenn sie das Klassenzimmer betritt“, erzählt die Lehrerin einmal den Eltern, „wenn sie dann Freundinnen und Freunde sieht, strahlt nicht nur ihr Gesicht.“ Aus schulorganisatorischen Gründen musste Ann-Sofie heuer die Schule wechseln, weg aus dem vertrauten Umfeld. Aber jedes weitere Schuljahr, das dadurch über die normale Schulpflicht hinaus möglich wird, ist eine äußerst sinnvolle, ja notwendige Förderung. Ann-Sofie braucht fürs Lernen einfach länger! Sie hat das Syndrom Trisomie 21. Oder, wie man meistens sagt, das Down- Syndrom, benannt nach dem englischen Arzt Dr. John Langdon Down, der es 1866 im Royal Earlswood Hospital in England umfassend beschrieben hat. Er gilt als Pionier der Sozialpädiatrie und hatte das Syndrom ursprünglich „Mongolismus“ genannt, ein Begriff, der heute als diskriminierend gilt. Übrigens hatte ein Enkel von Dr. Langdon Down das heute nach ihm benannte Syndrom, er war ein exzellenter Billard-Spieler. Ich sage zu dem Syndrom viel lieber Trisomie 21. Klingt zwar wie eine Krankheit, ist aber keine, sondern eine Eigenwilligkeit des Erbguts. Und down ist unsere Ann-Sofie nämlich höchstens, wenn sie einmal müde ist. Wie jedes andere Kind kann sie natürlich auch manchmal traurig sein. Oder störrisch. Meine Wanderlust zum Beispiel teilt sie nur ungern mit mir. Dabei habe ich einmal gelernt, dass Ann-Sofie Zwang überhaupt nicht schätzt, wäre er auch noch so sanft. Nach einem Erlebnis mit ihr hüte ich mich, ihn je wieder einmal anzuwenden. Als nämlich bei einem der seltenen Anlässe gemeinsamen Gehens ein Gewitter drohte, packte ich sie kurzerhand und zog sie mit mir nach Hause. Doch diese Einsicht fehlte ihr – und in ihrem Sträuben begann sie bitterlich zu weinen. Sie muss gespürt haben, dass auch mir der Schmerz weh tat, den ich ihr zugefügt hatte. Zwischen heftigem Schluchzen hat sie mich stammelnd gebeten, dass es ihr leid tue. Entschuldigte sich für das Unrecht, das ich ihr mit dem Zwang angetan hatte. Ich habe gelernt, dass Zwang, und wäre es auch der vernünftigste, immer als Unrecht empfunden wird. Einen absichtsvoll bösen Gedanken im Herzen von Ann-Sofie kann ich mir einfach nicht vorstellen. Rache, Vergeltung, Bosheit. Dass sie zum Beispiel ein krabbelndes Tier am Boden zertreten würde. Ann-Sofie ist mit ihren 17 Jahren noch wie ein Kind. So wie Friedrich Hölderlin das Kind beschreibt, solange es noch „nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist. In ihm ist Frieden; es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.“ Wenn ich diese Sätze als überaus treffend empfinde, so sind sie nur auf meiner Erfahrung mit Ann-Sofie gegründet. „Ja, so sind sie, die Down-Syndrom-Kinder“, sagen die Leute. Nein, sage ich, so sind sie nicht! Sie sind nämlich so und so und so! Wie alle Menschen. Und das Wort „typisch“ wäre endlich als diskriminierend auszusondern, zumindest wenn man damit Menschen beschreiben möchte. „Wir werden es gut miteinander haben!“ Natürlich war es ein Schock, auch bei uns Großeltern, als wir von der Besonderheit Ann-Sofies erfuhren. Den Schlüsselsatz für alles Weitere, unvergesslich für mich, den hat natürlich Ann-Sofies Mutter, unsere Schwiegertochter, geprägt: „Ann-Sofie hat eben das Chromosom 21 nicht zwei-, sondern dreimal. Und das dritte ist das Liebes-Chromosom.“ Passt auch zu meiner Erstreaktion: „Du, wir werden es ganz sicher gut miteinander haben!“ So ist es. Und nicht nur beim gemeinsamen Palatschinkenbacken. Ich lerne bei Ann-Sofie das Hinhören. Wenn sie sich anstrengt, Worte und Sätze zu bilden. Wenn ich ihr dabei meine ganze Aufmerksamkeit schenke und dabei auch auf die Ausdrucksvielfalt ihres Mienenspiels achte, dann sind wir gut miteinander im Einvernehmen und haben unsere Freude daran. Manchmal erlebe ich sie, wie sie mit Dingen spricht, oft, scheint mir, in einer Fantasiesprache. Oder im Tanz. Völlig wortlos in versunkener Hingabe, im Gleichklang mit den Bewegungen der Wellen an einem Meeres- oder Seeufer. Der Augenblick ist die Ewigkeit. Ich lerne, dass „dann“ oder „morgen“ zu leeren Begriffen werden, oder gar „in einer Woche“. Für Ann-Sofie zählt meist nur das „Jetzt“. Ich lerne von ihr, was man unter „innerem Glück“ verstehen kann. Glücklich sein – ganz anders, ganz weg sein. Weg vor Freude. Wenn sie ein neues Kleid zum ersten Mal anzieht. Freude. Wenn sie Caro, ihre ältere Schwester, nach längerer Trennung wieder sieht. Oh, wie vertraut und verlässlich die beiden miteinander umgehen! Wenn Philosophen und Mystikerinnen fragen, ob und wie man Lieben lernen könne, dann sage ich: Wenn ich die beiden still aus den Augenwinkeln beobachte, bekomme ich den besten Nachhilfeunterricht in einem Lernfach, das nie abgeschlossen ist: Liebhaben. Der Autor ist Publizist. Er leitete die Abteilungen Gesellschaft-Jugend-Familie sowie Religion im ORF-Radio. Über seine Enkelin hat Hubert Gaisbauer in „Erklär mir deine Welt“ auch einen Brief geschrieben: „Ich lerne von Ann-Sofie, was inneres Glück ist“ (28.5.2024).
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