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DIE FURCHE 19.09.2024

DIE

DIE FURCHE · 38 22 Wissen 19. September 2024 Lesen Sie dazu auch das ausführliche Interview von Martin Tauss mit dem Kulturphilosophen Thomas Macho („Epiphanie im virtuellen Raum“, 5.9.2024), auf furche.at. Siehe dazu den Film „Eternal You“, der die aktuellen Entwicklungen rund um das Thema „Digital Afterlife“ beleuchtet (Filmkritik am 4.9.2024 von Martin Tauss), auf furche.at. Von Adrian Lobe In der Folge „Be Right Back“ der britischen Science-Fiction-Serie „Black Mirror“ trauert Martha um ihren Verlobten Ash, der am Tag des Einzugs in das gemeinsame Landhaus bei einem tragischen Autounfall ums Leben kommt. Auf Empfehlung ihrer Freundin Sarah abonniert Martha einen Online-Dienst, der auf Basis von Social-Media-Profilen und Textnachrichten eine virtuelle Version von Ash kreiert – zuerst als Chatbot, dann als Stimmklon am Telefon und schließlich als humanoider Roboter, mit dem sie auch Sex hat. Virtuelle Realität Durch die Immersion mithilfe einer VR-Brille entsteht der Eindruck, dass man Verstorbenen tatsächlich begegnet. Familienangehörige lassen Verstorbene per Avatar wiederauferstehen, um mit ihnen kommunizieren zu können. Das Geschäft mit der digitalen Unsterblichkeit ist im Anmarsch. Doch die Technik wirft zahlreiche ethische Fragen auf. Liebe Grüße aus dem Jenseits Konserviertes Leben Die Anthologieserie inspirierte die Unternehmerin Eugenia Kuyda zur Entwicklung ihrer Chat- App „Replika“, mit der Nutzer Romanzen mit virtuellen KI- Freundinnen führen können. 2015 war ihr bester Freund, der Start-up-Gründer Roman Mazurenko, bei einem Autounfall in Moskau tödlich verunglückt – im Alter von nur 32 Jahren. Kuyda, die gerade beruflich in der russischen Hauptstadt weilte, war geschockt. Um ihre Trauer zu bewältigen, scrollte sie durch tausende Chatnachrichten, die sie mit ihrem Freund ausgetauscht hatte. Die Textnachrichten, aus denen Mazurenkos Humor sprach, waren das Einzige, was von ihm übrig geblieben war. Sein Leichnam war verbrannt worden, seine Fotos auf Instagram hatte er schon zu Lebzeiten fast alle gelöscht. Doch Kuyda wollte ihren Freund in Erinnerung behalten. Also überlegte sie, wie sie ein Andenken für ihn schaffen könnte. Und hatte, nachdem sie die „Black Mirror“-Folge gesehen hatte, eine Idee: einen Chatbot. „Replika“ ist heute eine App mehr für Einsame als für Trauernde, doch mittlerweile gibt es eine Reihe von Diensten, die Tote digital wiederauferstehen lassen. Zum Beispiel die App „HereAfter“. Familienangehörige können darin den gesamten Nachlass des Verstorbenen wie Fotos, Sprachnachrichten oder Videos hochladen und in einem Interview Erinnerungen teilen – etwa die erste Liebe, gemeinsame Reisen oder Lieblingsbücher. Auf Grundlage des Datenmaterials wird dann ein „Life Story Avatar“ kreiert. Und das geht so: Ein Algorithmus lernt in einem ersten Schritt wie ein Biograf die wichtigsten Stationen im Leben und erstellt daraufhin ein Profil. In einem zweiten Schritt extrahiert eine KI aus den Audio-Dateien Stimmcharakteristika und synthetisiert einen Stimmklon, der mithilfe eines „Text-to-Speech“-Systems die präparierten Skripte vorträgt – und dabei genauso klingt, lacht und spricht wie die verstorbene Person. So können Hinterbliebene per Sprachnachricht am Hoch- „ Die KI kreiert einen Avatar, der so spricht und lacht wie der Verstorbene. So können Hinterbliebene per Sprachnachricht mit dem toten Partner in Kontakt treten. “ Foto: iStock / Arnav Pratap Singh zeits- oder Todestag mit ihrem verstorbenen Ehepartner kommunizieren. Der Tote ist jederzeit telefonisch erreichbar – das (gelebte) Leben wird in der App konserviert. Rund neun Euro im Monat kostet die Vollversion, bei der man den Avatar auch mit anderen Familienmitgliedern teilen kann. Solche „Deathbots“, also Chatbots von Verstorbenen, erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Todkranke Menschen lassen sich vor ihrem Ableben digital klonen, um als interaktive KI-Version ihrer selbst im digitalen Raum fortzuleben. Die Vision, mit Toten in Kontakt zu treten, fasziniert die Menschen seit jeher und spielt in den Jenseitsvorstellungen antiker Kulturen eine wichtige Rolle. Mit digitalen Reproduktionstechniken rückt dieser alte Traum der Menschheit in greifbare Nähe. In Zukunft, frohlocken die Transhumanisten, wird niemand mehr sterben müssen. Für ein paar hundert Euro lassen sich in den virtuellen Frankenstein-Laboren digitale Doubles erschaffen. Das Geschäft mit der digitalen Unsterblichkeit boomt. Auch Amazon will darin einsteigen: Der Online-Riese hat ein Programm entwickelt, das seine Sprachsoftware „Alexa“ die Stimme von Menschen imitieren lässt. So soll es möglich sein, dass die verstorbene Oma dem Enkel auf Knopfdruck Geschichten vorliest. In den Ohren der meisten Menschen klingt das reichlich gruselig. Doch in China, wo Menschen Beziehungen mit Robotern führen und sich Influencer fürs Livestream-Shopping klonen lassen, ist es nichts Ungewöhnliches, Video-Gespräche mit dem Avatar der verstorbenen Mutter zu führen. So wie mancher eine Urne zu Hause aufbewahrt, hat der andere den Verstorbenen am Handy. In Ostasien haben sich – kulturell bedingt – ganz eigene Trauerrituale etabliert. So hat in Südkorea eine Mutter ihre verstorbene Tochter in der virtuellen Realität als Avatar „wiedergetroffen“. Es sind rührende Szenen, wie die Mutter mit Datenhandschuhen über die Wangen des Mädchens streicht und mit ihm Geburtstag feiert. Durch die Immersion entsteht der Eindruck, dass man diesen fiktiven Moment jetzt gerade mit seinem Körper erlebt. KI macht Tote wieder lebendig – und transzendiert den biologischen Körper. In Taiwan hat ein Start-up eine App entwickelt, mit der sich Avatare von verstorbenen Haustieren kreieren lassen. Die „Digital Afterlife Industry“ ist ein riesiger Wachstumsmarkt – und umfasst neben virtuellen Klonen unter anderem auch die „digitale Grabpflege“, etwa die Betreuung von Gedenkseiten. In Südkorea gibt es sogar „Cyber-Beerdigungen“, bei denen digitale Existenzen feierlich zu Grabe getragen werden. Spezialisierte Firmen bieten gegen eine Gebühr die Löschung aller personenbezogenen Daten im Netz an. Das Internet hat den Tod nie mitbedacht. Im Gegensatz zum analogen Leben, wo man nach dem Tod beigesetzt wird, gibt es in der Digitalität keine Bestattungskultur. Der Datenkörper ist immer noch präsent, auch wenn der biologische Körper längst verbrannt oder verwest ist. Menschen gehen, Daten bleiben. Ob diese digitale Unsterblichkeit die Trauerarbeit erleichtert oder erschwert, ist unter Forschern umstritten. Einige Psychologen argumentieren, dass „Deathbots“ zu Therapiezwecken eingesetzt werden können. Justin Harrison, Gründer der KI-Schmiede „You, Only Virtual“, die Chatbots von Verstorbenen entwickelt, glaubt sogar, das Gefühl von Trauer gänzlich eliminieren zu können. Experten sind jedoch skeptisch. Cybersex mit dem Chatbot Cambridge-Forscher haben unlängst in einer Studie vor den Folgen der Technik gewarnt: Chatbots, die Verstorbene imitieren, könnten psychologische Schäden bei ihren Schöpfern verursachen und zu einer emotionalen Belastung werden, weil sie das für die Trauerbewältigung wichtige Abschiednehmen verschleppen. Vor allem für Kinder, die noch keine Vorstellung vom Tod haben, sei die Interaktion mit „Deathbots“ verwirrend. Wie soll ein Kind wissen, ob die Oma, die aus dem Amazon-Echo-Lautsprecher plappert, längst tot ist? Die digitalen Reproduktionstechniken werfen eine Reihe ethischer Fragen auf: Hat der Verstorbene der Nutzung seiner Daten zugestimmt? Wie lässt sich aus einem Konvolut an Daten der letzte Wille ermitteln? Gibt es ein Copyright auf digitale Klone bzw. ihr „Original“? Endet die Privatsphäre nach dem Tod? Wie sähe einvernehmlicher Cybersex mit einem Chatbot aus? (All diese Fragen thematisiert auch der Film „Eternal You“ , der derzeit in den österreichischen Kinos läuft.) Derweil setzt man Cyberwesen in die Welt, ohne sich Gedanken über die Folgen zu machen. Die Cambridge-Wissenschaftler fordern daher klare Richtlinien und ethische Standards für die „Digital Afterlife Industry“. Konkret: Einen Aus-Knopf für die „Deathbots“. Auch ein Avatar muss irgendwann mal sterben.

DIE FURCHE · 38 19. September 2024 Lebenskunst 23 Phasen einer außergewöhnlichen Klarheit und Geistesgegenwart können das Leben nicht nur bereichern, sondern auch verändern. Über Präsenzerlebnisse in buddhistischer Meditation und Psychotherapie. Ein Beitrag zum Symposium „Magic Moments“ in Puchberg/Wels. „Komplette Fülle der Erfahrung“ Von Martin Tauss Eine persönliche Anekdote vorweg: Anlässlich eines Psychotherapie-Symposiums über transformative Momente fragte ich mich, was der erste „Magic Moment“ war, an den ich mich erinnern kann. Noch heute ist mir im Gedächtnis, wie ich als kleiner Bub das Radfahren lernte. Meine Großmutter ging mit mir in einen nahegelegenen Park und stützte mich, wenn ich auf dem Fahrrad saß. So wiegte ich mich in Sicherheit, bis ich eines Tages plötzlich merkte, dass mir die Oma nicht mehr die Hand gab – und ich ganz allein dahinfuhr. Das war ein einschneidender Moment. Wenn man beginnt, sich auf eine meditative Praxis einzulassen, ist es in vielerlei Hinsicht ähnlich: Es geht darum, eine Balance zu finden. Es können sich Aha-Erlebnisse einstellen („So geht das also!“). Und der Übergang in einen neuen Zustand liegt in der Luft: So wie beim Radfahren soll etwas, das einem zunächst fremd und schwierig erscheint, zu einer Fähigkeit werden, die einem in Fleisch und Blut übergeht. Präsenzerfahrungen sind oft „Magic Moments“. Gesteigerte Klarheit und Geistesgegenwart können im Alltag aus heiterem Himmel entstehen: Beim Spaziergehen zum Beispiel braut sich ein Gewitter zusammen, auf einmal erscheint ein heftiger Blitz am Horizont. Sofort wird man aus dem Grübeln oder den Tagträumen herausgerissen und ist ganz im „Hier und Jetzt“. Oder im Straßenverkehr: Ein Auto biegt unerwartet ein, man muss auf die Bremse springen. In diesem Moment ist die volle Geistesgegenwart gefordert, um einen Unfall zu vermeiden. Das sind Präsenzerfahrungen, die durch ein äußeres Ereignis (also „Top-Down“) hervorgerufen werden. Es gibt aber auch Präsenzerfahrungen, die unabhängig von solchen Anlässen kultiviert werden können – durch systematische Übung (also „Bottom-Up“). In Yoga-Praktiken spielen sie seit Jahrtausenden eine zentrale Rolle. Auch in der buddhistischen Meditation, die historisch auf dem Nährboden der uralten Yoga-Tradition in Indien gewachsen ist, sind Präsenzerfahrungen ein Schlüsselmoment in der spirituellen Praxis. Warum ist das so? „Schau'n Sie sich das an!“ Der Überlieferung zufolge soll der Buddha (563–483 v. Chr.) seine gesamte Lehre folgendermaßen auf den Punkt gebracht haben: Es geht nur um Zweierlei – „Dukkha“ und „Nirwana“. Genau genommen geht es darum, „Dukkha“ zu überwinden, um „Nirwana“ zu verwirklichen. In den „vier edlen Wahrheiten“, gewissermaßen der Kern beziehungsweise die DNA der buddhistischen Lehre, ist dieser Zusammenhang dargelegt. „Dukkha“ lässt sich als Leid, Stress und Ungenügen übersetzen. Der amerikanische Psychoanalytiker und Buddhismus-Lehrer Mark Epstein sieht darin traumatische Erfahrungen im weitesten Sinn („The Trauma of Everyday Life“, 2014). Man könnte „Dukkha“ aber auch als jegliche Form von Enttäuschung oder Frustration beschreiben, die mit dem Leben immer wieder einhergeht. Ein traditionelles Gleichnis spricht von zwei Pfeilen, die auf uns geschossen werden: Der erste Pfeil bedeutet schmerzhafte Erfahrungen, die der menschlichen Existenz unweigerlich innewohnen. Der zweite Pfeil hingegen ist das vielgestaltige Unglück, das durch die blinden Reaktionsweisen des menschlichen Geistes entsteht. Ein banales Beispiel: Man stößt sich den Kopf an einer Lampe an und beginnt zu denken: „Aha, heute ist ein schlechter Tag. So etwas kann auch nur mir passieren…“ Auf einen ersten Pfeil folgt oft ein zweiter, der den Schmerz noch vergrößert. Die Botschaft der buddhistischen Lehre lautet: Durch Übung ist es möglich, das Unheil des zweiten Pfeils zu behandeln, zu lindern, letztendlich ganz auszumerzen. Der entsprechende Übungsweg verbindet Weisheit, Ethik und Meditation. Letztere zielt darauf ab, Achtsamkeit über längere Zeit zu stabilisieren und dadurch Zustände einer außergewöhnlichen Klarheit, Ruhe und Geistesgegenwart hervorzubringen. Westliche Meditationslehrer verdeutlichen die Entfaltung der Achtsamkeit manchmal mit einem Kühlschrank, dessen nervenaufreibendes Surren allmählich leiser wird oder zuweilen ganz verstummt: Die ständigen Gedankenimpulse werden eingehegt und verlieren an Attraktivität, wenn der Geist durch Sammlung („Samadhi“) zur Ruhe kommt. Solche Bewusstseinszustände sind aus buddhistischer Sicht kein Selbstzweck, sondern dienen dazu, die Augen zu öffnen, tiefer zu sehen und somit „Dukkha“ und seine Ursachen immer subtiler zu durchschauen. Insofern ist die Botschaft des Buddha durchaus vergleichbar mit dem Leitmotiv von Karl Farkas: „Schau'n Sie sich das an!“ Szenenwechsel: „Als ich 1998 ein Buch von Carl Rogers las, in dem er von seiner Erfahrung einer heilsamen Präsenz in Encounter-Gruppen berichtete, erinnerte mich das augenblicklich an Erfahrungen, in denen ich selbst in zwischenmenschlichen Beziehungen ein heilsames Gewahrsein erlebt hatte.“ Das schreibt der Wiener Psychotherapeut und Buddhismus-Lehrer Harald E. Tichy in einer Studie, die den Mehr als Achtsamkeit Im Buddhismus sind Präsenzerfahrungen ein Schlüsselmoment, um Einsichten tiefer sickern zu lassen (Bild: tibetische Gebetsfahnen). Präsenzerfahrungen von Carl Rogers auf den Grund geht. Der Begründer der Personzentrierten Psychotherapie hatte in mehreren Schriften darüber berichtet, etwa in folgender Passage: „Wenn es in der Beziehung diese komplette Einheit, Einmaligkeit und Fülle der Erfahrung gibt, dann erhält sie diese quasi außerirdische Qualität, die von vielen Therapeuten beschrieben wird, eine Art tranceartiges Gefühl in der Beziehung, aus dem sowohl der Klient als auch ich am Ende der Stunde herauskommen wie aus einem tiefen Brunnen oder Tunnel.“ Doch Rogers hatte „ Präsenzerfahrungen gehen gegen den Strom der Konsumgesellschaft und zeigen eindringlich, dass Glück und Wohlbefinden nicht an sinnliche Genüsse gekoppelt sind. “ nichts mit buddhistischer Meditation am Hut – wie war es ihm dann möglich, solche veränderten Bewusstseinszustände in seinen Therapien zu erleben? Der Psychotherapie-Pionier übte sich darin, die „drei therapeutischen Einstellungen“ im Zwiegespräch zu verwirklichen – absolute Wertschätzung, Empathie und Kongruenz (Authentizität). Das führte dazu, dass er zugleich eine außergewöhnliche Geistesgegenwart entwickelte. In seinem letzten Interview 1987 warf Rogers sogar noch die Frage auf, ob er in seiner Theorie nicht das wichtigste therapeutische Element übersehen hätte – nämlich Präsenz. Die Verbindung von Meditation und Psychotherapie erscheint heute vielfach Foto: iStock / James Dene Magic Moments: Rhythmus und Präsenz Herbstsymposium der Öst. Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) Schloss Puchberg, 4600 Wels 20.–21. 9. www.existenz analyse.at relevant: Einerseits können meditative Erfahrungen das therapeutische Setting bereichern, andererseits ist psychotherapeutisches Know-how essenziell, um auftauchende Schwierigkeiten in der Meditation zu verstehen und eventuell einer Behandlung zuzuführen. Gerade bei intensiven Retreats im Schweigen kann es zu „Meditationsunfällen“ kommen: Vor allem Trauma ist hier ein bekanntes Problem, da der meditative Öffnungsprozess gut verborgene emotionale Wunden ans Tageslicht bringen kann. Die wissenschaftliche Forschung dazu ist noch relativ jung; in letzter Zeit finden Studien zu den unerwünschten Nebenwirkungen von Meditierenden jedoch zunehmende Beachtung. Der amerikanische Forscher Jon Kabat- Zinn hat seit den 1970er Jahren wesentlich dazu beigetragen, das Prinzip Achtsamkeit aus der buddhistischen Lehre in zahlreiche therapeutische Anwendungen zu übersetzen; der folgenreiche Startschuss dafür war die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR). Doch die Dimension eines intensiveren Präsenzerlebens wird in Kabat-Zinns Theorie nicht berücksichtigt. Auch die Tatsache, dass die im Buddhismus so wichtige ethische Fundierung der Meditation oft ausgeklammert bleibt, hat der modernen Achtsamkeitsbewegung zuweilen den Vorwurf eingebracht, sie würde lediglich ein „Fast- Food“-Angebot verkaufen, das wie maßgeschneidert zu den Bedürfnissen einer schnelllebigen, hyperkapitalistischen Gesellschaft passt. Denn während „Achtsamkeitstraining“ heute zum Teil im Sinne einer neoliberalen Selbstoptimierung fungieren soll, sind Präsenzerfahrungen inhärent subversiv: Sie gehen gegen den Strom der Mainstream-Konsumgesellschaft und zeigen eindringlich, dass Glück und Wohlbefinden nicht an sinnliche Genüsse, finanzielle Belohnungen oder Status- und Prestigegewinne gekoppelt sind. Und diese Erfahrungen gehen einher mit einer tiefen inneren Zufriedenheit, die nicht mit irgendeiner Form des Ressourcenverbrauchs assoziiert ist. Transformative Kraft Einsichten dieser Art können eine transformative Kraft entfalten. „Es ist ein Irrtum zu glauben, die entscheidenden Momente eines Lebens, in denen sich seine gewohnte Richtung für immer ändert, müssten von lauter und greller Dramatik sein (…)“, heißt es im Roman „Nachtzug nach Lissabon“ (2004) von Pascal Mercier (das Pseudonym des Schweizer Philosophen Peter Bieri). „Das ist ein kitschiges Märchen, das saufende Journalisten, blitzlichtsüchtige Filmemacher und Schriftsteller, in deren Köpfen es aussieht wie in einem Boulevardblatt, in die Welt gesetzt haben. In Wahrheit ist die Dramatik einer lebensbestimmenden Erfahrung oft von unglaublich leiser Art. Sie ist dem Knall, der Stichflamme und dem Vulkanausbruch so wenig verwandt, dass die Erfahrung im Augenblick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revolutionäre Wirkung entfaltet und dafür sorgt, dass ein Leben in ein ganz neues Licht getaucht wird und eine vollkommen neue Melodie bekommt, so tut sie das lautlos, und in dieser wundervollen Lautlosigkeit liegt ihr besonderer Adel.“ Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag des Autors beim nebenstehenden Symposium der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse („Präsenzerfahrungen in Buddhismus und Psychotherapie“).

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