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DIE FURCHE 19.09.2024

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DIE FURCHE · 38 2 Das Thema der Woche Welche Werte wir wählen: Gerechtigkeit 19. September 2024 AUS DER REDAKTION Angesichts von Katastrophen verschieben sich die Prioritäten und die Menschen rücken zusammen. „Solidarität“ ist angesagt – wie auch am Beginn der Corona-Pandemie. Wie rasch diese Solidarität zerbröselt, zeigte sich freilich schon hier. Wie lange wird der Zusammenhalt diesmal dauern? Und was heißt vor diesem Hintergrund „Gerechtigkeit“? Im Rahmen der 4. Folge der FURCHE-Serie „Welche Werte wir wählen“ beleuchten wir dieses Ideal – und mit ihm die SPÖ, die es seit jeher besonders hochhält. Neben der Klimakrise fordert auch die Migration unsere Solidaritätsbereitschaft heraus. Und Viktor Orbán treibt das Sticheln gegen diese Tugend auf die Spitze. Philipp Fritz widmet sich in einer Recherche Orbáns Querschüssen in Sachen Grenzkontrollen, Susanne Glass ergründet, was seine Fans motiviert – und Otto Friedrich hat sich den Film „Explanation for Everything“ angesehen, in dem Gábor Reisz die dramatische Polarisierung in Ungarn beleuchtet. Wie schmal der Grat zum Faschismus ist, zeigt das Interview mit dem brasilianischen Polit-Psychologen Christian Dunker. Und wie rasch eine religiös unmusikalische Gesellschaft von populistischen „Predigern“ gekapert werden kann, illustriert Andreas G. Weiß. Auf der Metaebene bewegt sich Konrad Paul Liessmann, Nestor des Philosophicum Lech, das sich dieser Tage dem „Stören“ widmet. Und Martin Tauss beschreibt prägende Präsenzerfahrungen. In der Flut gab es wohl einige, auf die man gern verzichtet hätte. (dh) Das Gespräch führte Doris Helmberger Vor Kurzem noch war Clemens Sedmak zu Hause in Seekirchen am Wallersee. Nun ist der Theologe und Philosoph wieder an die University Notre Dame (Indiana) zurückgekehrt. Der Wahlkampf begleitet ihn hier wie dort. Ein Online-Gespräch in aller Herrgottsfrühe. DIE FURCHE: Herr Professor Sedmak, wir wollen über Gerechtigkeit sprechen – und über den Zusammenhang mit Solidarität, die ja nicht nur ein Schlachtruf der Linken, sondern auch ein Prinzip der christlichen Sozialethik ist. Wie würden Sie diesen Zusammenhang beschreiben? Sedmak: Solidarität ist eine Einstellung und Gerechtigkeit ist ein Wert. Oder anders gesagt: Solidarität ist die feste Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Und wenn das gelingt, möge am Ende so etwas wie Gerechtigkeit herauskommen, also ein Zustand, bei dem keine Person unter ein bestimmtes Minimum fällt, mit Fairness behandelt wird und das bekommt, was ihr zusteht. Wobei „Gerechtigkeit“ ein Maximalbegriff ist, den wir wohl auf dieser Welt nie einlösen können – das schaffen wir schon aufgrund natürlicher Ungleichheiten oder Unwägbarkeiten wie Schicksalsschläge oder Naturkatastrophen nicht. Aber das heißt nicht, dass es nicht wichtig wäre, sich daran auszurichten. Das Minimum wäre, dass wir uns um eine anständige, solidarische Gesellschaft bemühen. Es gibt das schöne Buch von Nancy Rosenblum über „Good Neighbours“, gute Nachbarschaft. Darin geht es um die Frage, wie man Solidarität einüben kann und sich das dann in die Politik übersetzen lässt. Unter „FURCHE- Wahlserie: Welche Werte wir wählen“ finden Sie auf furche.at alle Artikel dieses Fokus sowie weitere digitale Inhalte. Der in den USA und Salzburg lehrende Sozialethiker Clemens Sedmak über Solidarität aus Sicht von Christ- und Sozialdemokraten, zynische Privilegierte, schwer definierbare „Arme“ und das ewige Thema Neid. „Verzweiflung ist gefährlich“ DIE FURCHE: Was macht dieses Einüben in der Praxis so schwer? Sedmak: Es beginnt damit, dass wir uns damit schwertun, Privilegien als solche zu sehen und zu benennen. Erstens werden Privilegien meist als selbstverständlich betrachtet und zweitens glauben Leute, die Privilegien haben, sehr schnell, es sei ihr Verdienst. Das ist nicht förderlich für Solidarität. Eines der explosivsten Motive der katholischen Soziallehre ist die Idee der universalen Destination der Güter, also der – wenn man so will – naiven Idee, Gott habe die Welt für alle geschaffen und nicht nur für die, die Glück gehabt haben und es sich richten können. Das ist ein anspruchsvoller Gedanke, der Widerstand weckt. Insbesondere in Wahlkämpfen wird dann mit Neid und Angst gespielt: Angst vor Inflation, vor Wohlstandsverlust, vor Migration, vor der nächsten Pandemie – und Neid mit Blick auf bestimmte Gruppen. Das führt in einen unappetitlichen Diskurs. DIE FURCHE: Kommen wir zurück zur Aussage „was jedem zusteht“: Christ- und Sozialdemokraten interpretieren das traditionell unterschiedlich. Erstere betonen Leistung – und sehen bei Sozialdemokraten „Gleichmacherei“. Was kommt dem christlichen Solidaritätsgedanken näher? Sedmak: Ein Begriff, den ich hier einwerfen möchte, ist „Realismus“. Was können wir uns realistischerweise leisten? Die Überschuldung Österreichs hat ein Niveau erreicht, wo wir vorsichtig sein und den Eifer der Gerechtigkeits-Utopisten etwas bremsen müssen. Irgendjemand muss ja auch wieder die Rechnung bezahlen, und wenn es nicht die Kinder sind, dann die Enkelkinder. Es gibt außerdem nicht nur die Verteilungs-, sondern auch die Leistungsgerechtigkeit. Hier hat der britische Philosoph David Miller sehr klug zwischen drei Sphären unterschieden, in denen je unterschiedliche Gerechtigkeitsformen zum Tragen kommen. In der Familie ist der primäre Wert das Bedürfnis: Wer mehr braucht, soll mehr bekommen. Im beruflichen Umfeld ist das wichtigste Kriterium das Verdienst: Wer mehr leistet, soll mehr bekommen. Und im Staatswesen ist der zentrale Wert die Gleichheit: Als Staatsbürger sind wir alle gleich. Ich verstehe also die ÖVP insofern, als sie sagt: Wer mehr leistet, braucht eine entsprechende Motivation, und „ Die Überschuldung Österreichs hat ein Niveau erreicht, wo wir den Eifer der Gerechtigkeits- Utopisten etwas bremsen müssen. “ Ist das gerecht? Eine Szene aus der „Allegoria dell’ingiustizia“ (1656) von Bernardino Mei (1612–1676) . Foto: Getty Images / Heritage Images / Fine Art Images das ist meist Geld beziehungsweise das Gehalt. Darum ist aber auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) so schwierig für Philosophen: Hier bekommt jemand, der elf Stunden gearbeitet hat, ebenso viel wie einer, der nur eine Stunde tätig war. Das kann der ÖVP nicht gefallen. Was man wiederum der SPÖ zugutehalten muss, ist, dass Leistungsmöglichkeiten ungleich verteilt sind – und es auch mit Privilegien zu tun hat, wer wieviel leisten kann. Wenn du in einer lauten, feuchten Wohnung schlafen musst und einen schlecht bezahlten Job hast, wie das Reinigungspersonal hier in den USA, dann kann man nicht sagen: Ihr müsst euch halt mehr anstrengen! Vor einigen Jahren gab es einen sehr kontroversiellen Artikel im Wall Street Journal, in dem ein erfolgreicher Investmentbanker unter dem Titel „Wenn ich ein armes schwarzes Kind wäre“ gute Ratschläge erteilt hat. Das war nicht böse gemeint, aber naiv, denn diese Gleichheit an Möglichkeit gibt es einfach nicht. Und da hat die SPÖ einen wichtigten Punkt. Deswegen geht es um ein Sicherheitsnetz. Das kann natürlich – wie alles – missbraucht werden. Aber angesichts dessen, was manche Firmenpleiten den Steuerzahler kosten und wie schnell Risiken sozialisiert und Verdienste individualisiert werden, verstehe ich die Sensibilität der Linken. DIE FURCHE: Unlängst hat der Fall einer neunköpfigen Familie aus Afghanistan für Aufregung gesorgt, die in Wien 4600 Euro Mindestsicherung erhält. Ist das eine „Neiddebatte“ – oder eine notwendige Diskussion, um den Zusammenhalt zu bewahren? Sedmak: Wenn wir Regeln haben, dann sind sie einzuhalten. Aber man kann sich schon fragen, ob diese Regeln gescheit sind – und sie notfalls ändern, weil solche Extremfälle immer auch Testfälle sind. Das geht aber auch in die andere Richtung, wenn etwa ein Mensch mit Mindestsicherung trotzdem keine Chance hat, über die Runden zu kommen. Oder wenn Asylwerbende keine Chance auf Arbeit haben, weil ihr Verfahren so lange dauert. Solidarität bedeutet eben, dass alle Verantwortung für das Ganze haben. Anders gesagt: Wenn du Teil einer Gemeinschaft bist, dann schuldest du ihr auch etwas. Wir können uns nicht zu viele Leute leisten, die das Maximum aus der Gesellschaft herausholen wollen, aber emotional überhaupt nicht mit ihr verbunden sind. DIE FURCHE: Sollte man den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern, um die Loyalität zu erhöhen? Immerhin darf in manchen Teilen Wiens ein Drittel der Bevölkerung nicht wählen. Sedmak: Ein Drittel ist viel. Aber eines der höchsten Güter, die eine Gemeinschaft vergeben kann, ist doch das Gut der Mitgliedschaft. Insofern würde ich das nicht leichtfertig vergeben. Es gibt ja auch noch Positionen dazwischen, etwa in den USA die „Greencard“, mit der ein Aufenthaltstitel von zehn Jahren samt Arbeitsgenehmigung verbunden ist. Und dann kann sie wieder erneuert werden. Nicht gut ist hingegen, wenn Asylwerbende ewig hingehalten werden, ohne dass sie arbeiten können. Und dann womöglich kriminell werden, was wiederum Populisten in die Hände spielt. DIE FURCHE: In puncto Umgang mit Geflüchteten hat Andreas Khol einmal gemeint, dass es eben Nächsten- und nicht „Fernstenliebe“ heiße. Tatsächlich erhalten weltweit Parteien Zulauf, die Grenzen schließen wollen. Kann Solidarität in Migrationsgesellschaften „überdehnt“ werden? Sedmak: Tatsächlich hat man lange Zeit naiv gesagt: Seid nett zuei-

DIE FURCHE · 38 19. September 2024 Das Thema der Woche Welche Werte wir wählen: Gerechtigkeit 3 „ Angesichts dessen, was manche Firmenpleiten den Steuerzahler kosten, verstehe ich die Sensibilität der Linken. “ Im Wahlkampf setzt die SPÖ auf Fairness und thematisiert Vermögensverteilung sowie leistbares Wohnen: In der FURCHE-Datenanalyse von wahlkabine.at landet sie dabei nur im Mittelfeld. nander – und: Multikulturalität funktioniert. Aber der Respekt muss in beide Richtungen gehen. Gleichzeitig merken wir, dass innerhalb der gesamten EU die Solidarität nachlässt. Die großartige Idee der Europäischen Union basiert aber darauf, dass man nicht nur das Maximum für den eigenen Staat herausholt, sondern auch bereit ist, um eines größeren ganzen Willen den eigenen Vorteil zurückzustellen. Wir hätten ja auch die Nachkriegsordnung nicht ohne den Marshallplan aufbauen können. Umso mehr sollten wir gerade jetzt innerhalb der EU in jene Länder investieren, die benachteiligt waren. Europa schuldet auch der Welt einiges, wenn man etwa an die koloniale Geschichte oder die jüngste Emissionsverschmutzungsvergangenheit denkt. Langfristig ist das auch im eigenen Interesse. DIE FURCHE: Damit wären wir bei der Klimakrise. Durch das Hochwasser hat das Thema wieder an Relevanz gewonnen, zuvor ist es hinter „Sicherheit“ verschwunden. Warum ist es so schwer, ein Bewusstsein für globale oder Generationen-Solidarität zu schaffen? Sedmak: Zum einen ist die Bereitschaft, sich in wirtschaftlich nicht so rosigen Zeiten mit dem – räumlich wie zeitlich – Fernsten zu beschäftigen, nicht sehr groß. Und der Zustand der Erde um 2100 ist emotional weit weg – außer man hat Kinder. Dazu kommt die Erschwernis, dass man bei klimafreundlichem Handeln nicht sofort Effekte sieht. Das fairste Umverteilungsinstrument ist noch immer das Steuersystem. DIE FURCHE: Apropos: Was hält ein Armutsforscher wie Sie von Vermögens- und Erbschaftssteuern? Sedmak: Vom ethischen Grundprinzip her wären Vermögensund Erbschaftssteuern völlig richtig, aber in der Praxis glaube ich, dass sie mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Dazu drei Punkte: Erstens kenne ich einige vermögende Leute, die bereit wären, mehr zu tun und zu geben, wenn man ihnen gute Gelegenheiten geben würde – aber nur wenige, die bereit wären, das unter Zwang zu tun. Zweitens haben wir uns die Pragmatik von Erbschaftssteuern einmal am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Uni Salzburg angesehen: Sie sind pragmatisch schlicht nicht sinnvoll, wenn man das fair durchsetzen Clemens Sedmak (geb. 1971) lehrt an der University of Notre Dame (Indiana/USA) und ist Vizepräsident des Int. Forschungszentrums für soziale und ethische Fragen. Foto: Matt Cashore möchte. Und drittens gilt zwar der Primat der Arbeit vor dem Kapital. Wenn also jemand nur mehr zuschauen muss, wie sein Vermögen immer mehr wird, ist das ethisch hochproblematisch. Doch hier in den USA ist das leider ein riesiges Thema und ich sehe derzeit keine Chance, daran etwas zu ändern. DIE FURCHE: Ein weiteres Prinzip der Sozialethik ist die „Option für die Armen“. Doch wer ist „arm“? SPÖ-Chef Babler thematisierte Kinderarmut und forderte warmes Mittagessen, Kanzler Nehammer meinte darauf, jeder könne sich einen Burger leisten – was ihm einen Shitstorm eintrug. Sedmak: Was den Nehammer- Sager betrifft, so mag hier der Gleichheitsgedanke gelten: Nur was für dich und deine Familie gut genug ist, ist wirklich gut genug. Sonst nicht. Insgesamt bedeutet das Prinzip „Option für die Armen“, dass man bei Gesetzen immer zuerst die Frage stellen muss, was das für die am meisten Benachteiligten heißt. Klar ist aber auch, dass man mit dem Begriff „Armut“ auch leicht Politik machen kann. Je nachdem, wie man „Armut“ definiert, ändert sich die Zahl der Betroffenen um Zehntausende. Ein echtes Problem ist der bröckelnde Mittelstand. Joseph Stiglitz meint, dass wir in den Wohlstandsländern die erste Generation haben, in der die Kinder weniger verdienen werden als ihre Eltern. „ Vom Grundprinzip her wären Vermögens- und Erbschaftssteuern völlig richtig. Aber in der Praxis sorgen sie für mehr Schaden als Nutzen. “ DIE FURCHE: Wären Sie für eine Kindergrundsicherung? Sedmak: Ich bin ein großer Befürworter der Idee einer Grundsicherung, bei der niemand durchfällt. Bei einem Grundeinkommen ohne Arbeit bin ich skeptischer. Aber die Idee, dass gerechter Lohn so hoch sein muss, dass man vernünftig davon leben kann – und das gilt auch für die soziale Zuwendung des Staates –, die ist seit 1891 in der katholischen Soziallehre verankert. Ich war einmal im Finanzministerium in einem Beratungsgremium, wo ein Kollege über die „soziale Hängematte“ gesprochen hat. Ich habe geantwortet, dass ich dankbar bin für diese Hängematte, weil es für manche Menschen eine riesige Leistung ist, in der Früh aus dem Bett oder mit reduziertem Alkoholkonsum durch den Tag zu kommen. Wir reden bei der Grundsicherung also nicht von Solidarität oder Gerechtigkeit, sondern vom absoluten Minimum, das ein Mensch braucht, um in seiner Not nicht extreme Dinge zu tun. Ein Aphorismus bringt das gut auf den Punkt: „Lass dich nicht mit den Verzweifelten ein, denn sie sind zu allem fähig.“ Es ist also unser aller Interesse, dass niemand verzweifelt. Rote fordern Chancengleichheit Solidarität gilt als zentraler Wert der Sozialdemokratie. Doch auch andere Parteien setzen auf Gerechtigkeit und ihre diversen Spielarten. Um das Ausmaß der jeweiligen Fokussierung herauszufinden, hat DIE FURCHE wieder jene Fragen der Online- Orientierungshilfe wahlkabine.at analysiert, die sich an diesem Wert ausrichten. Konkret sind es dieses Mal neun Fragen, die sich mit Gerechtigkeit beschäftigen. Etwa jene nach einer allgemeinen Kindergrundsicherung oder jene nach der gemeinsamen Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. Ebenso gehört hierher die Frage, ob Erbschaften über 1,5 Millionen Euro steuerfrei bleiben sollen und ob ein Mindestlohn von tausend Euro für Lehrlinge eingeführt werden sollte. Wie hat nun die SPÖ all diese Fragen der Online-Orientierungs- 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0 % -20 % -40 % -60 % -80 % -100 % 600 500 400 300 200 100 0 Wer auf Gerechtigkeit schaut DIE FURCHE hat analysiert, welche Parteien sich auf wahlkabine.at auf das Thema Gerechtigkeit fokussieren (maximal 100 Prozent Gewichtung). -66,67 % ÖVP Roter Fokus auf Menschlichkeit Die FURCHE-Schlagwortanalyse der Wahlprogramme ergibt: „Gerechtigkeit“ verspricht die SPÖ am häufigsten – ihr Fokus liegt im sozialen Zusammenhalt (Angaben in Anzahl der Schlagwörter). 321 Freiheit Mit dem Slogan „Herz und Hirn“ lieferte die SPÖ erst zweieinhalb Wochen vor der Wahl ihr finales Programm. Mit rund 116 Seiten Umfang haben sie die Grünen, die ihre Pläne bereits im August veröffentlicht hatten, knapp eingeholt. Reichlich Platz also für die roten Kernthemen. Die FURCHE- Schlagwort-Analyse ergibt: Der Begriff Gerechtigkeit findet sich öfter als Sicherheit, Nachhaltigkeit, Freiheit oder Leistung. Dabei spricht die SPÖ auch vielfach Ungerechtigkeiten an, welche die ÖVP aus ihrer Sicht seit der roten Niederlage 2017 mit anderen Koalitionspartnern umgesetzt habe. Konkret verspricht die SPÖ eine Wieder-Absenkung der „ungerechtfertigten“ Erhöhungen bei Lebensmittelpreisen und Wohnkosten. Gleichzeitig fordert sie Steuergerechtigkeit, indem Millionäre einen „fairen Beitrag“ leisten, um beispielsweise das reformierte Gesundheitssystem zu finanzieren. Hier sehen die Roten Fairness im Ausbau der Kassenplätze – vor allem für Frauen. Wirtschaftliche Gerechtigkeit verspricht die SPÖ sich und den Wählerinnen und Wählern durch eine Steuerreform für Klein- und Einzelunternehmen sowie durch die altbewährte Entlastung der Arbeiter. Nachhaltigkeit soll durch die „ökosoziale Transformation“ erreicht werden, die staatliche Förderungen im Energiesektor gerecht verteilt. Seit sie im Nationalrat auf der Oppositionsbank Platz genommen hat, kann die SPÖ ihre Ziele und Ideen immerhin noch in Form von Initiativanträgen einbringen. Von den insgesamt 895 Anträgen seit 48,15 % SPÖ -70,37 % FPÖ 438 48,15 % Grüne Nachhaltigkeit 11,11 % NEOS 558 Sicherheit 70,37 % 70,37 % KPÖ 29,63 % BIER 648 Gerechtigkeit 22,22 % KEINE Petrovic hilfe wahlkabine.at (die u. a. mit der FURCHE kooperiert) beantwortet? Sie fordert eine ausgeglichene Vermögensverteilung und eine faire Bezahlung für Lehrlinge. Zudem plädiert sie für eine allgemeine Kindergrundsicherung und den Rechtsanspruch auf Betreuung. Soziale Gerechtigkeit sieht sie auch in der Mietobergrenze für Neubauten. Dennoch schneiden die Roten in der Gesamtwertung nur mittelmäßig ab. Minuspunkte kassieren sie beim Pensionsantrittsalter, welches angesichts der steigenden Lebenserwartung im Sinne der Generationengerechtigkeit erhöht werden müsste. Außer den NEOS lehnen freilich alle Parlamentsparteien dies ab. Als gerechte Maßnahme könnte man auch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ansehen, was aber nur KPÖ und KEINE unterstützen. Die Roten setzen demgegenüber auf eine bedarfsorientierte Mindestsicherung. Schlecht abgeschnitten haben ÖVP und FPÖ. Zwar unterstützt die ÖVP den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung – im Gegensatz zur FPÖ –, beide lehnen jedoch Kindergrundsicherung sowie Erbschaftssteuer ab. Auch sind beide gegen ein Gehalt für die Pflege und Betreuung von Kindern und Angehörigen. Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit für Frauen sucht man ebenfalls vergebens. Mehr Geld für Lehrlinge fordert hingegen die FPÖ. Die ÖVP spricht zwar von „fairer Entlohnung“ – ein Mindestgehalt einführen würde sie als einzige Partei dennoch nicht. (Maximilian Hatzl) Pläne einer fairen Gesellschaft 438 Leistung Beginn der 27. Gesetzgebungsperiode am 23. Oktober 2019 unterstützten die Roten insgesamt 207. 171 davon stellten sie auch federführend. Das Ergebnis: Zumindest 23 dieser Anträge befassten sich auch mit dem Thema Gerechtigkeit, wobei am Ende zwei erfolgreich umgesetzt wurden: Gemeinsam mit der FPÖ erleichterte man Einspruchsmöglichkeiten gegen Entscheidungen der Pensionsversicherung; und mit ÖVP und Grünen setzte man den coronabedingten Rechtsanspruch auf Sonderbetreuungszeit durch. (Maximilian Hatzl) Mehr zur FURCHE-Datenanalyse finden Sie online unter www.furche.at/dossier/die-furche-wahlserie-welche-wertewir-waehlen sowie unter dem QR-Code auf Seite 2. Eigene Auswertung; Grafik: Rainer Messerklinger (Quelle: wahlkabine.at) Eigene Auswertung; Grafik: RM (Quelle: SPÖ Wahlprogramm Nationalratswahl 2024)

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