DIE FURCHE · 38 18 Theater 19. September 2024 In Wien fand vergangenes Wochenende der zweite Teil des Premierenreigens der beiden größten Bühnen der Bundeshauptstadt statt. Stimmengewirr der Gegenwartsdebatten Von Patric Blaser Den Auftakt der zweiten Premierenrunde machte am Donnerstag auf der großen Bühne des Burgtheaters Nicholas Ofczarek. Wohl nicht ganz zufällig im 40. Jahr nach dem Erscheinen brachte er begleitet vom Musikensemble Musicbanda Franui Thomas Bernhards „Erregung“, so der Untertitel von „Holzfällen“, in einer Lesung zu Gehör. Zu Erinnerung: Ein Ich-Erzähler beobachtet aus der sicheren Distanz eines Ohrensessels als geladener Gast der auersbergischen Abendgesellschaft die Menschen und Vorgänge um sich herum. Man hat sich in der großbürgerlichen Wohnung nach dem Begräbnis der durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Bewegungskünstlerin Joana eingefunden und erwartet nun die Lesen Sie schon FURCHE-Newsletter? Ihre ausgewählten Lieblingsthemen ab sofort täglich in Ihrer Mailbox. Eingebildet krank Im Burgtheater wird Molières Stück mittels genderfluider Besetzung und Fokus auf eine gewaltfreie Kommunikation, gendersensible Sprache, neu geschaffene Gender-Pronomen und Inklusionssprech modern überschrieben. Jetzt anmelden: furche.at/newsletter Journalismus mit Sinn. Ankunft eines großen Burgtheaterschauspielers, der noch den Ekdal in Ibsens „Wildente“ gibt. Schnell sinniert sich der Beobachter in Rage über die Lebenslügen und Defekte der anderen Gäste des künstlerischen Abendmahls, sodass sie ihm zum eigentlichen Gegenbild einer verlorenen Welt werden. Bernhard hatte die mit Häme und beißendem Spott überschüttete Gesellschaft aber so unverhohlen realitätsnah geschildert, dass sich so manch ein Zeitgenosse von 1984 in der literarischen Denunziation erkannt fühlte, was nach dem Erscheinen „ Der eingebildete Kranke, der durch seine Überem pfindlichkeit die Umwelt tyrannisiert, wird zur Sensibilität einer ganzen Gesellschaft aktualisiert. “ Jetzt neu: tägliche Ressort- Newsletter des Buches zu einem der größten Literaturskandale der Zweiten Republik führte. Von dieser Erregung ist heute nichts mehr zu spüren. Umso mehr spürt man aber – vermittelt durch die Vortragskunst von Ofczarek – die unbändige Lust des Autors Thomas Bernhard, die imaginär beobachteten und – wer weiß – vielleicht real gemeinten Figuren verbal zu zerlegen. Und er findet in Nicholas Ofczarek einen überaus willigen Vollstrecker. Obwohl dessen Stimm-Gebärden nur schwer beschreibbar sind, hat man den Eindruck, als wolle er mittels Drehen, Halten und gutturalem Wenden der Silben und Worte im Mund sein sinnerfassendes Ablesen des Textes beim Deklamieren und Rezitieren gleichsam verdoppeln und über die bloße Kommunikations-, Darstellungs- und Ausdrucksfunktion hinaustragen. Man könnte diese Vortragskunst mit der „sprießenden Wirkung“ bezeichnen, von der Roland Barthes in seinem berühmten Aufsatz „Die Körnung der Stimme“ spricht, in dem es um jene Bedeutung aus dem Innersten der Sprache und ihrer eigentlichen Materialität geht. In diesem Zusammenhang ist auch das Duett mit der kongenialen Musik des zehnköpfigen Franui-Ensembles zu verstehen: als Simultaneität von mehreren Stimmdimensionen, als Vervielfachung jenseits des propositionalen Gehalts des Gesagten. Kreisel der Überempfindlichkeit Tags darauf konnte man im Akademietheater die „Vielfalt“, die der neue Direktor der Burg statt eines Mottos ausgerufen hat (siehe FUR- CHE Nr. 37, S. 13), gleich in mehrfachem Sinne überprüfen. Denn die aus Köln mitgebrachte und für Wien neu überarbeitete Inszenierung der „Überschreibung“ von Molières „Der eingebildete Kranke“ durch Barbara Sommer und Plinio Bachmann „setzt die Figuren in einen Kreisel der Überempfindlichkeit des 21. Jahrhunderts“, wie es im Programm heißt. Damit ist gemeint, dass der eingebildete Kranke von 1673, der durch seine selbstbezogene Überempfindlichkeit die Umwelt tyrannisiert, in der Überschreibung nun zur Sensibilität einer ganzen zeitgenössischen Gesellschaft aktualisiert wird. Das sieht dann so aus: Die Flatulenz, das Klistier und die Stuhlkonsistenz bleiben die Lieblingsthemen des Stückes, erfahren aber Konkurrenz durch die genderfluide Besetzung einerseits und den Text sowie das verfremdete Spiel der Figuren andererseits. Es drängen sich so aktuelle Debattenthemen um politische Korrektheit, gewaltfreie Kommunikation, gendersensible Sprache mit neu geschaffenen Gender-Pronomen und Inklusionssprech etc. in den Vordergrund. So will Argans Tochter Angélique (Paul Basonga), sich endlos wiederholend, niemanden „emotional erpressen“. Ihr heimlicher Geliebter und Schauspiellehrer Cléante, den die virtuose Lola Klamroth als jungen Mann mit Drahtbrille und Flaum um den Mund spielt und dessen Achtsamkeit ihm nervöse Zuckungen nahe dem Tourette einbringen, will sich erst die Ansprache als „Mein Herr“ verbitten. Dann möchte er „niemals jemanden bedrängen“, immerfort „sicheren Raum schaffen“ und selbstverständlich setzt er „Hen, Hyn und Ham als Pronomen für Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität“ voraus. Als er mit Angélique eine Szene improvisieren soll, versagt er als Foto: Tommy Hetzel Intimitätsregisseur allerdings, sodass die heute in Theater und Film geforderten fünf C’s (Context, Communication, Consent, Choreography, Closure) zur einvernehmlichen Abwicklung einer Liebesszene vor ihrem realen Begehren auf der Strecke bleiben. Der derbe Fäkalhumor von Molières Stück, dessen Einladungen zu überbordenden Wortspielen nur allzu gerne nachgegeben wird, ist in der Wiener Fassung zumindest deutlich zurückgefahren. Letztendlich bleiben die Albernheiten und der komödiantische Wortwitz von Molières Original aber ebenso auf der Strecke, wie die etwas unterkomplexe Aktualisierung der Überschreibung rund um die Diversitätsdiskussion und deren Persiflierung den in der Gegenwart polarisierenden Debatten womöglich einen Bärendienst erweist. Sprachduelle Im Volkstheater schließlich, dessen scheidender Intendant Kay Voges wird ab nächster Spielzeit die Nachfolge von Stefan Bachmann am Schauspiel Köln übernehmen, war am Samstag die Premiere von Virginie Despentes Briefroman „Liebes Arschloch“ in der Regie von Stephan Kimmig zu sehen. Passend zum Motto der Spielzeit – „show down!“ – bietet der Abend zuerst ein Sprachduell. Oscar (großartig als zunächst uneinsichtiger Macho Paul Grill), ein ungepflegt wirkender, halbwegs erfolgreicher Schriftsteller, referiert in seinem spärlich möblierten Wohncontainer herumgammelnd seinen hasserfüllten Post, den er über die einst von ihm bewunderte Jugendbekanntschaft und ehemalige Starschauspielerin Rebecca veröffentlicht hat. Sie, die „göttliche Frau“, die früher einmal „die Faszination der weiblichen Verführung“ versinnbildlicht habe, sei heute zur Schlampe verkommen, sei nicht nur alt, sondern auch auseinandergegangen, sei verlebt und habe schlechte Haut. „Ein schmuddeliges lautes Weibsstück.“ Die Bühne dreht sich und wir sehen Birgit Unterweger als gepflegt wirkende Rebecca mit Sonnenbrille im Sessel sitzen. „Liebes Arschloch“, beginnt sie ihre Antwort auf den misogynen Post, „ich interessiere mich einen Scheiß für dich“. Damit ist die Latte für einen wüsten Sprachfuror gelegt. Vorerst. Wir erfahren, wie der Schriftsteller – wie er überzeugt ist – schuldlos zum Opfer einer bösartigen #MeToo-Kampagne wurde. Die ehemalige Pressereferentin des Verlages und mittlerweile feministische Bloggerin Zoé Katana (atemberaubend im Zorn, berührend in ihrer Verletzlichkeit – Irem Gökçen) hat sie, mit Folgen auch für sich selbst, öffentlich gemacht. Rebecca geißelt wütend sein Selbstmitleid und erklärt Oscar – durchaus nicht ohne Selbstkritik, weil sie sich einst selbst als Objekt vermarktet hat – warum er kein Opfer, sondern Täter ist. Aber Virginie Despentes ist zu klug, um die komplexen Verhältnisse nicht mehrperspektivisch, bis hinein in ihre Widersprüchlichkeit, zu beleuchten. Als die Sprache auf die Drogen kommt – Oscar konsumiert Kokain und Alkohol, um cool und entspannt zu sein, Rebecca nimmt Drogen, um schlank zu bleiben und gegen die Langeweile – kippt das Verhältnis. Leider auch ein wenig die Inszenierung, die unter dem Anreißen der vielen Themen auch formal an Strenge verliert. Trotzdem ist der Abend wegen der fabelhaften Darsteller sehenswert und macht Lust, Despentes zu lesen! Holzfällen Burgtheater, 22.10. Der eingebildete Kranke Akademietheater, 22.9., 24.9, 1.10. Liebes Arschloch Volkstheater, 27.9., 3.10., 10.10., 13.10.
Pipilotti Rist, Bauchhöhle überfliegt Staumauer, 2024 / 25, museum in progress. Dieses Zeitungs-Multiple erscheint anlässlich des Eisernen Vorhangs 2024 / 25 von Pipilotti Rist in der Wiener Staatsoper. Projektpartner: iSi Group und Sikkens Prize. Medienpartner: Die Furche und Die Presse. Support: ART for ART, Hotel Altstadt, Bildrecht, Johann Kattus, Schweizerische Botschaft in Österreich und SO/ Vienna. museum in progress
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