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DIE FURCHE 19.09.2024

DIE

DIE FURCHE · 38 12 Gesellschaft 19. September 2024 In der „Nische“ Obwohl laut Gesundheitsministerium rund 20 Prozent der österreichischen Bevölkerung mit einer Behinderung leben, fehlt es in der Medizin an Grundwissen zu inklusiven Behandlungen. Von Sandra Lobnig Manchmal sind es ganz banale Umstände, die den Ausschlag geben. Die Länge der Wartezeit bei einem Arztbesuch zum Beispiel. Für Dominik Heiling ist die Anzahl an Minuten, die er auf eine Untersuchung warten muss, keine nebensächliche Kleinigkeit. Dauert es dem 32-jährigen Niederösterreicher zu lange, ist das nicht nur unangenehm, es kann für ihn sogar unerträglich werden. Dominik ist von Geburt an mehrfach beeinträchtigt. Er leidet am Prader-Willi-Syndrom, einem seltenen Gendefekt, außerdem am Angelman-Syndrom und ist Autist. „Wenn er warten muss“, erzählt seine Mutter Daniela, „hält er das nicht aus.“ Aber auch wenn eine Sprechstundenhilfe Dominik und seine Mutter rasch zum Arzt durchwinkt: Die Untersuchung selbst ist herausfordernd – für den Arzt, für Dominik und für seine Mutter gleichermaßen. Denn Dominik lässt sich nicht in den Mund schauen oder mit dem Stethoskop abhorchen. Er spricht nicht, hat eine hohe Schmerztoleranz und teilt erst spät mit, wenn ihm etwas wehtut. Ohne seine Mutter wären weder Untersuchung noch Diagnose möglich. Sie kennt ihren Sohn und fungiert als Bindeglied zwischen ihm und dem medizinischen Personal. Keine Musik, nüchterne Ausstattung So wie Daniela Heiling für ihren Sohn Dominik sind viele Angehörige von Menschen mit Behinderungen bei Arzt- und Krankenhausbesuchen unverzichtbar für eine Diagnose. „Wir verlassen uns auf das, was die Betreuungspersonen uns mitteilen“, sagt auch Daniela Cravos. Die Allgemeinmedizinerin leitet die inklusive Ambulanz der Barmherzigen Brüder in Wien. Sie und ihr Team behandeln zahlreiche Menschen mit hohem Pflegegrad. „Sehr häufig kommen Patienten mit gastrointestinalen Störungen. Sie verlieren Gewicht und wir müssen herausfinden, woran es liegt. Es könnte sich um ein Problem im Magen-Darm-Bereich handeln, aber genauso gut um Zahnweh.“ Mittels genauer Beobachtungen, sensibler Untersuchungen und den Erzählungen der Angehörigen gelingt es, eine Diagnose zu Lesen Sie dazu auch „Kinder mit Behinderung: Kämpfen, hadern, hoffen“ vom 30.8.2018 von Doris Helmberger-Fleckl auf furche.at. Einrichtungen wie die inklusive Ambulanz der Barmherzigen Brüder in Wien bieten für Menschen mit Behinderungen kompetente medizinische Versorgung. Im Gesundheitswesen insgesamt müssen aber noch Barrieren abgebaut werden. „Viele Ärzte haben sich vor meinem Sohn gefürchtet“ „ Wenn ein Patient sich nicht zu uns hereintraut, dann komme ich zu ihm raus und untersuche ihn dort – wenn er mich lässt. “ Daniela Cravos erstellen, teilweise im Ausschlussverfahren und durch Rückschlüsse. In manchen Fällen ist eine Narkose nötig, um einen Patienten ausführlich untersuchen oder behandeln zu können. Die inklusive Ambulanz bei den Barmherzigen Brüdern gibt es seit 2011. „Für uns ist es ein Grundanliegen, sie zu betreiben“, sagt Thomas Sautner, der Ärztliche Direktor des Krankenhauses. Die Ambulanz schloss vor 13 Jahren eine große Lücke: Davor gab es im Krankheitsfall keine spezialisierte Anlaufstelle für Menschen mit mehrfachen Behinderungen, wo sie mit all ihren Bedürfnissen von fachkundigen Personen wahrgenommen werden. Die Barmherzigen Brüder betreiben darüber hinaus eine große Behinderteneinrichtung in Kainbach bei Graz sowie welche in Linz, wo Menschen mit Beeinträchtigungen betreut und medizinisch versorgt werden. In Wien werden in der Ambulanz an zwei Tagen der Woche Patienten ab 18 Jahren behandelt. „Wir sind eine reine Terminambulanz. So können wir vermeiden, dass die Patienten lange warten müssen, und wir haben die nötige Zeit und Ruhe für die Untersuchungen“, sagt Daniela Cravos. Manche ihrer Patienten werden in Stresssituationen laut und möglicherweise aggressiv. Um empfindliche Menschen nicht noch mehr zu irritieren, wird auf eine ruhige Atmosphäre viel Wert gelegt. Es gibt keine Musik, die Räumlichkeiten sind nüchtern. Die Inklusionsambulanz der Barmherzigen Brüder ist Woche für Woche ausgebucht. Auf freie Termine muss man derzeit über ein halbes Jahr warten. Nur für dringende Anliegen bekommt man innerhalb von vier Wochen einen Termin. „Der Foto: iStock/KatarzynaBialasiewicz Bedarf ist sehr groß“, sagt Daniela Cravos. „Wir leben zwar im Zeitalter der Inklusion, es müsste aber noch viel mehr getan werden.“ Viele Ärzte hätten heute zwar schon einen selbstverständlicheren Zugang zu Menschen mit Behinderungen als früher; Patienten, die besonders viel Geduld und Einfühlungsvermögen bei Behandlungen bräuchten, sind im Ordinations- und Krankenhausalltag aber nicht vorgesehen. Dazu komme, dass Ärzte und Pflegepersonal über behindertenspezifische Krankheitsbilder oft zu wenig Bescheid wüssten. Weder in der Pflegeausbildung noch im Medizinstudium werde dem Thema „Behindertenmedizin“ ausreichend Aufmerksamkeit eingeräumt. Spezielle Schulungen für Pflege- oder ärztliches Personal gebe es kaum. Persönliche Betroffenheit als Motivation Wichtig, so Daniela Cravos und Thomas Sautner, sei auch ein Behindertenmedizinreferat in der Ärztekammer, für dessen Gründung sich die Allgemeinmedizinerin seit mehreren Jahren einsetzt. Ziel müsse sein, das Gesundheitswesen in Österreich insgesamt inklusiver zu gestalten. „Wir legen jetzt schon viel Wert darauf, nur die zu behandeln, die im niedergelassenen Bereich nicht versorgt werden können. Alle Befunde gehen von uns immer zurück an den behandelnden Arzt.“ Auch Bernhard Schmid, Generalsekretär der Lebenshilfe Wien, sieht in Sachen Inklusionsmedizin in Österreich noch großen Nachholbedarf. „Alle zwei Jahre findet eine Ärzte-Fachtagung zu speziellen Krankheitsbildern statt. Die wird zwar besucht, aber trotz intensiver Bewerbung immer von denselben Personen. Dabei wäre aber die breite Vermittlung dieses medizinischen Spezialwissens und des richtigen Umgangs mit nonverbalen Patienten besonders wichtig“, sagt Schmid. Inklusive Medizin umfasst laut Schmid auch physische Barrierefreiheit. Die sei bei Weitem noch nicht in allen Gesundheitseinrichtungen gegeben. Barrierefreiheit beinhaltet aber auch den informellen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und gesundheitsrelevanten Informationen. „Eine Riesentafel mit hunderten Texthinweisen im Eingangsbereich eines Krankenhauses kann für Menschen mit Lernschwierigkeiten, die ohne Begleitung unterwegs sind, schwer zu lesen sein. Besser wären Symbole und Leitsysteme sowie verfügbare Informationen in einfacher Sprache.“ Solange Inklusivmedizin in der Ausbildung keinen entsprechenden Platz erhält, wird es so bleiben, wie es derzeit oft ist: Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal entwickeln vor allem bei persönlicher Betroffenheit behindertenmedizinische Kompetenz und den Wunsch, mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten. So war es auch bei Daniela Cravos. Ihr zweiter Sohn kam vor 31 Jahren mit schweren Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf auf die Welt. „Es gab damals gar keine Stelle, bei der wir gut betreut waren. Viele Ärzte haben sich vor meinem Sohn gefürchtet. Da habe ich verstanden, wie sehr Menschen mit Beeinträchtigungen einen Ort brauchen, an dem sie kompetent versorgt werden.“ Mit der inklusiven Ambulanz der Barmherzigen Brüder wurde ein solcher Ort geschaffen. Hier wird niemand zu einer Untersuchung gezwungen. Wenn nötig, macht sich Daniela Cravos auf den Weg vor die Ambulanz. „Wenn ein Patient sich nicht zu uns hereintraut, dann komme ich zu ihm raus und untersuche ihn dort – wenn er mich lässt. Unsere Tür und unser Herz sind für Menschen mit allen Behinderungen offen.“

DIE FURCHE · 38 19. September 2024 Gesellschaft 13 Noch immer werden Menschen mit Behinderungen im Wahlprozess ausgegrenzt und mangelhaft informiert. Wieso es mehr als nur Rampen braucht, um die Demokratie wirklich barrierefrei zu gestalten. Eine Wahl voller Hürden Von Isabel Frahndl „Es gibt Menschen ohne Beine und Arme, die wirft man ins Becken – und wer als Letzter ertrinkt, der hat gewonnen!” Während Athletinnen und Athleten mit Behinderungen in den vergangenen Wochen bei den 17. Paralympischen Sommerspielen in Paris zur Höchstform aufliefen, fanden sie sich verstärkt als Zielscheibe von derlei tiefen Witzen wieder. Im deutschsprachigen Raum wurde vor allem Comedian Luke Mockridge im Podcast „Die Deutschen“ für Aussagen wie die obige heftig kritisiert. Die Konsequenzen: Sein Management beendete die Zusammenarbeit, der Fernsehsender Sat.1 strich die neue Quizshow „Was ist in der Box?“ mit dem 35-Jährigen aus dem Programm. Seine Tour „Funny Times“ hingegen startet nun verspätet, aber doch; und zwar mit einer ausverkauften Show in Wien. Barrierefrei ist nicht gleich barrierefrei Aber auch den Paralympischen Spielen selbst wird Schikane vorgeworfen. Grund ist der offizielle Social-Media-Auftritt: Auf der Kurzvideoplattform TikTok wurden vor allem Clips gepostet, in denen Missgeschicke in verschiedenen Bewerben mit lustigen Audios hinterlegt sind. Knapp 40 Millionen Aufrufe generierte das erfolgreichste dieser Videos. Während viele darin einen Marketing-Erfolg sehen, der die Reichweite der Paralympischen Spiele enorm steigerte, kritisieren andere, man spiele die Fähigkeiten und harte Arbeit der Paralympioniken herunter. Auch Behindertenrechtsaktivisten wie Imani Barbarin meldeten sich zu Wort: „Nachdem ich mir einige Videos des Paralympics-Accounts angesehen habe, kann ich ehrlich sagen: Sie haben keine Stimme – und sie haben keinen Blickwinkel“, so die US-Amerikanerin. Mit den Paralympics und den Kontroversen rundherum hat das Thema Inklusion in letzter Zeit verstärkt medial und gesellschaftlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Obwohl laut Statistik Austria rund 20 Prozent aller Menschen in Österreich mit einer Behinderung leben, scheint es, als würden Diskussionen über Ableismus – also Diskriminierung von beeinträchtigten Menschen – oft erst dann in der Öffentlichkeit Raum erhalten, wenn es einen aktuellen Anstoß gibt. Anlässlich der anstehenden Nationalratswahl in Österreich stellt sich freilich ganz konkret die Frage: Inwiefern gehen die wahlwerbenden Parteien auf dieses knappe Fünftel der Bevölkerung ein? Wer die Wahlprogramme der fünf Parlamentsparteien nach Inklusionsthemen durchsucht, entdeckt viele ähnliche Floskeln: In allen Programmen findet sich beispielsweise der schwammige Begriff der „Selbstbestimmung“ wieder; konkrete Maßnahmen und Schritte, wie diese zu erreichen sei, fehlen jedoch weitgehend. Generell wird Inklusion meist als eigenes kompaktes Nischenthema angeführt, anstatt barrierefreie Ansätze durch das Wahlprogramm zu streuen. Inhaltlich fällt auf, dass Inklusionsthemen durch die Bank im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Forderungen genannt werden; zum Beispiel in Form der Die Qual der Wahl Foto: Stadt Wien / Bubu Dujmic Was für die meisten Menschen eine Sache von ein paar Minuten an einem Sonntag ist, gleicht für andere einer Odyssee. „ Auch in diesem Wahlkampf war Inklusion kein großes Thema, sondern eher eine Randnotiz. Ob es für mehr Aufmerksamkeit ein paar Monate früher einen Skandal gebraucht hätte? “ Forderung von fairer Integration behinderter Menschen in der Arbeitswelt unter dem Slogan „Lohn statt Taschengeld“. Aber auch die Programme selbst sind unterschiedlich barrierefrei gestaltet: Während NEOS, Grüne und FPÖ eine zusätzliche Fassung in einfacher Sprache veröffentlicht haben, sucht man eine solche bei ÖVP und SPÖ vergebens. Von den drei vorhandenen Fassungen sind die von NEOS und Grüne immerhin über 20 Seiten lang – bei der FPÖ nur zwei. Inklusion im Nachsatz Ein erster Schritt, Menschen mit Behinderungen überhaupt zu erreichen und auch zum Wählen zu animieren, wird hier bereits versäumt. Und das, obwohl der ganze demokratische Prozess rund um die Wahlkabine ohnehin von Hürden gespickt ist: Zwar können Briefwahl oder die fliegende Wahlkommission in Anspruch genommen werden; für Unterstützungserklärungen von neuen Parteien muss man jedoch persönlich beim Gemeindeamt erscheinen. Weiters wurden erst bei der EU-Wahl im vergangenen Juni in Wien entsprechend der Wahlrechtsnovelle von 2023 erstmals alle Wahllokale barrierefrei gestaltet. Mithilfe von Rampen und breiten Wahlkabinen sollte vor allem gehbehinderten Menschen das Wählen ermöglicht werden. Vielen anderen Bedürfnissen wird jedoch nach wie vor nicht entgegengekommen; so fordern beispielsweise Menschen mit Sehbehinderungen Brailleschrift auf den Wahlbögen. Zwar gibt es Schablonen fürs Ankreuzen, trotzdem sind viele hier oft auf Unterstützung von anderen Personen angewiesen, wodurch das Recht auf Geheimhaltung bei der Wahl eingeschränkt wird. Es ist die bittere Wahrheit, dass das Thema Inklusion oft im gesellschaftlichen und politischen Diskurs unter den Tisch fällt. Und auch, dass Skandale wie jener um Luke Mockridge und die Paralympischen Spiele nötig sind, um Licht auf die Bedürfnisse einer derart großen Bevölkerungsgruppe zu werfen. Auch in diesem Wahlkampf war Inklusion wieder einmal kein vordergründiges Thema, sondern höchstens eine Randnotiz. Ob es für mehr Aufmerksamkeit schon ein paar Monate früher einen Skandal gebraucht hätte? Ein Wahlquiz in einfacher Sprache hat die Redaktion „andererseits“ für Menschen mit Behinderungen gestaltet: www.wahlchecker.at/nr-2024 Wochenausblick DIE FURCHE nimmt in den kommenden Ausgaben diese Themen in den Fokus: Der schwärzeste Tag Nr. 40 • 3. Oktober Israel erlebte durch den Überfall der Hamas am 7. Oktober den größten Massenmord an Juden seit der Schoa. Nun jährt sich das Massaker zum ersten Mal. Über die Folgen des Gegenangriffs und die Option Frieden für die Region. Denker mit dem Hammer Nr. 41 • 10. Oktober Vor 180 Jahren, am 15. Oktober 1844, wurde Friedrich Nietzsche geboren. Mit seinem Denken, seiner scharfen Religionsund Kulturkritik sowie seinem Stil hat er bis dahin gängige Muster gesprengt und die Philosophie bis heute geprägt. Genuss oder Gift? Nr. 42 • 17 Oktober Im Durchschnitt nehmen Menschen in Österreich 95 Gramm Zucker pro Tag zu sich. Fast doppelt so viel, wie die WHO empfiehlt. Mediziner schlagen Alarm, eine Zuckersteuer wird gefordert. Über eine Debatte zwischen Fakten und Hysterie. Jeden Mittwoch und Freitag! Aller Heiligen Nr. 43 • 24. Oktober Die katholische Kirche kennt unzählige Heilige. Doch wie wird man eigentlich heillig und wer entscheidet darüber? Mit Carlo Acutis wird außerdem der erste Heilige des Internetzeitalters zur „Ehre der Altäre“ erhoben. Wer war der „Cyberapostel“? US-Wahl als Wendepunkt Nr. 44 • 31. Oktober Die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten am 5. November werden nicht nur die USA, sondern die Welt an sich verändern. Über eine Stimmabgabe, die es vermag, die Weichen für Frieden, Krieg, Hass oder Vernunft zu legen. The Winner Took It All? Nr. 45 • 7. November Die historische Entscheidung ist gefallen. Entweder zieht erstmals mit Kamala Harris eine Frau ins Weiße Haus ein - oder die Welt erlebt ein Comeback von Donald Trump als US-Präsidenten. Die Bilanz einer Schicksalswahl. Nichts mehr verpassen – Newsletter abonnieren Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten. 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