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DIE FURCHE 19.01.2023

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DIE FURCHE · 3 8 Wirtschaft 19. Jänner 2023 FORTSETZUNG VON SEITE 7 „ Unternehmen sind längst politische Akteure. Aber sie können als nicht legitimierte politische Akteure nicht allein die Unbill der ganzen Welt tragen. “ Barbara Coudenhove-Kalergi Risiko nicht leisten können, aufgrund eines möglichen Fehlverhaltens eines Zulieferers von europäischen Ausschreibungsverfahren ausgeschlossen zu werden. Damit verlieren Länder, die im Aufbau sind, gute Partner. Den Menschen vor Ort ist damit wohl kaum geholfen. DIE FURCHE: Ist an diesem Argument nicht etwas dran, Herr Rehling? Könnte Europas Pochen auf Moral nicht nur der Wettbewerbsfähigkeit schaden, sondern faktisch nach hinten losgehen? Rehling: Das darf natürlich langfristig nicht so sein. Denn es ist klar, dass die Menschenrechte universell und unteilbar sind. Wobei es in dem von Ihnen genannten Beispiel nicht um Liefer- und Wertschöpfungsprozesse geht. Aber natürlich muss es Begleitmaßnahmen geben, die ja auch im Entstehen sind. Es ist uns bewusst, dass in Ländern des globalen Südens auch Korruption herrscht, dass Sozialstandards, Arbeitsrechte und Interessenvertretungen viel weniger entwickelt sind. Umso mehr kann so ein Gesetz ein Motor für Entwicklung sein. „ Was heißt ,nicht praktikabel‘? Wenn wir Menschenrechte und Klima schützen wollen, müssen wir uns daran gewöhnen, dass auch die Praxis verändert werden muss. “ Konrad Rehling DIE FURCHE: Kommen wir zur Grundsatzfrage, die schon angeschnitten wurde – nämlich inwiefern Unternehmen in einer globalisierten Welt politische bzw. moralische Akteure werden müssen. Der Unternehmensethiker Markus Scholz vertritt diese These. Hat er Recht? Coudenhove-Kalergi: Unternehmen müssen keine politischen Akteure mehr werden, sie sind es bereits. Aber es braucht einen Paarlauf zwischen Politik/Rechtsstaatlichkeit und den Unternehmen. Diese müssen sich Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen sie auf Politikfelder haben. Aber, und das ist entscheidend: Sie sind keine politisch gewählten Akteure. Hier zeigt sich das Grundproblem: Die Macht eines Staates endet an der Staatsgrenze. Die negativen Auswirkungen der Globalisierung sind damit also nicht in den Griff zu bekommen – weshalb nun europäische Unternehmen das Problem richten sollen. Zugespitzt formuliert heißt das, Sie wollen genau jene Institutionen, denen Sie implizit vorwerfen, von Ausbeutung zu profitieren, zum Aufpasser machen. Doch im Grunde geht es hier um eine nationalstaatliche und völkerrechtliche Verantwortung. Rehling: Ich sehe es überhaupt nicht so, dass hier politische Entscheidungsträger Verantwortung abschieben. Fakt ist, dass Unternehmen längst politische Akteure sind und ihren Beitrag leisten müssen. Natürlich ist in den vergangenen Jahrzehnten viel passiert – Stichwort Corporate Social Responsibility. Aber bis jetzt waren Diversität, Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung, ein Betriebsrat oder nachhaltiger Einkauf eben freiwillig – und nicht verbindlich. Man sollte auch bedenken, dass ein neuer Rechtsrahmen den Unternehmen auch Instrumente in die Hand gibt, um auf einem besseren Level in einer globalisierten Wirtschaft zu arbeiten. Insofern wird dieses neue Gesetz nicht alle Probleme lösen, aber dafür sorgen, dass Verantwortung in einen Rechtsrahmen gegossen wird. Barbara Coudenhove-Kalergi ist in der IV im Bereich „Bildung und Gesellschaft“ für gesellschaftliche Innovation zuständig. Konrad Rehling ist Geschäftsführer der Nicht-Regierungs- Organisation „Südwind“. Lesen Sie zu diesem Thema auch „Lieferketten: Leuchtende Netzwerke“ (18.5.2022) von Martin Tauss auf furche.at. HINTERGRUND DIE FURCHE: Ein Sidestep zum Thema „politischer Akteur“: Unternehmer wie Elon Musk verstehen sich längst als ein solcher – aber wohl anders, als von vielen intendiert. Musk will aktiv Politik machen (Stichwort Ukraine) bzw. aktiv Meinung machen (Stichwort Twitter). Gefährdet das nicht die Demokratie? Coudenhove-Kalergi: Dieser Aspekt zeigt genau diese Ambivalenz auf. Laut Scholz gab es eine ganz klare Arbeitsteilung zwischen Politik und Unternehmen. Das verschwimmt immer mehr. Und damit muss man umgehen. Ich möchte jedenfalls, dass die demokratischen Ausverhandlungsprozesse, die oft mühsam und anstrengend sind, weiter bestehen. Der Weg zum EU-Lieferkettengesetz Fotos: Victoria Schwendenwein DIE FURCHE: Bleiben wir beim Ukraine- Krieg – und kommen wir zur aktuellen Debatte über „Raiffeisen International“, das bis heute in Russland tätig ist und russischen Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, günstigere Kredite anbietet. Darf ein Unternehmen das? Coudenhove-Kalergi: Das sind komplexe Diskussionen, wie immer im Spannungsfeld von Wirtschaft und Moral. Grundsätzlich würde ich sagen, dass sich die Unternehmen ein solches Engagement gut anschauen müssen – mit einer ethischen, aber auch einer ökonomischen Brille. Diese ist legitim, denn sie ist das, was ein Unternehmen ausmacht. Sie können die moralische Brille aber auch nicht einfach ablegen. Gleichzeitig finde ich es nicht gut, wenn man Unternehmen verbietet, irgendwo Geschäfte zu machen. Die Schlüsselfrage ist: Wo darf man noch Geschäfte machen? Und wer bestimmt das? DIE FURCHE: Was sagen Sie zum Engagement von „Raiffeisen International“ in Russland? Coudenhove-Kalergi: Es gibt Unternehmen, die in Russland tätig sind und sagen, sie stellen den Konsumenten ihre Produkte so lange zur Verfügung, wie es unter diesen Umständen möglich ist. Andere haben sich sofort zurückgezogen. Beides würde ich nicht verurteilen. Außerdem: Der Staat Österreich bezieht immer noch Gas und Öl aus Russland. Das ist ein kriegsführendes Land. Weiters verhandeln wir mit Saudi-Arabien um Gas, spielen Fußball in Katar und es gibt noch genügend weitere Geschäftsbeziehungen zu Ländern, wo der Umgang mit den Menschenrechten fragwürdig ist. Es gibt keine allgemeingültige Lösung. „ Bis jetzt waren Diversität, Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung, ein Betriebsrat oder nachhaltiger Einkauf freiwillig – jetzt wird es verbindlich. “ Konrad Rehling DIE FURCHE: Markus Scholz hat das Wort ,Komplizenschaft‘ geprägt. Machen sich die Unternehmen, die im Iran, in China oder in Russland Geschäfte machen, zu Komplizen dieser Regime? Rehling: All das ist differenziert zu betrachten. Aus einer prinzipiellen Sicht würde ich sagen: Ja, sie machen sich zu Komplizen. Aus staatlicher Sicht gibt es immer die Möglichkeit zu Handelsembargos. Es gibt Embargos in puncto Iran, wo Das geplante EU-Lieferkettengesetz soll Unternehmen zum sorgfältigen Umgang mit Menschenrechten, Arbeitsrechten und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten (Fertigungsstufen als eine geordnete Reihung von Tätigkeiten) verpflichten. Die EU-Kommission präsentierte Anfang 2022 einen Richtlinienvorschlag, der EU-Ministerrat legte Ende 2022 seine Position fest. Diese besagt, dass die Regeln zuerst für Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten und einem weltweiten Umsatz von mindestens 300 Millionen Euro netto gelten sollen. Zudem einigten sich die Staaten auf einen Kompromiss, wonach die Finanzindustrie freiwillig in das Gesetz aufzunehmen sei. Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) enthielt sich bei der Abstimmung. Das EU-Parlament will seine Position im Frühjahr 2023 festlegen. Dann beginnen die als „Trilog“ bezeichneten Verhandlungen zwischen dem EU-Parlament, der EU-Kommission und dem Rat. 2024 könnte das EU-Lieferkettengesetz in Kraft treten. Die Mitgliedstaaten haben dann zwei oder drei Jahre Zeit (Teil der Verhandlungen), entsprechende nationale Lieferkettengesetze zu erlassen. (bqu) Unternehmen diese Verantwortung dann abgenommen wird. Meine persönliche Position in puncto „Raiffeisen International“ wäre , sich zurückzuziehen. DIE FURCHE: Hätte man das aus Ihrer Sicht schon früher tun sollen? Rehling: Diese Frage kann man sich auch im Fall von Belarus stellen, wo die „Telekom Austria Belarus“ tätig ist. Darüber wurde knapp zwei Jahre vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine diskutiert. Es ist mir bewusst, dass an solchen Entscheidungen vieles hängt – Stichwort nationale Kooperationen. Aber bezüglich „Raiffeisen International“ wäre ein Rückzug spätestens jetzt notwendig. Wie in dieser Frage stellen sich übrigens auch beim Lieferkettengesetz ähnliche Verantwortungs-Fragen: Wenn es Menschenrechtsverletzungen gibt, dann sind wir als Südwind ja an der Seite jener, die ganz am Anfang der Lieferkette stehen, etwa der Näherinnen in Bangladesch. Aber: Was, wenn diese ihre Jobs verlieren und ihre Familien nicht mehr ernähren können? Das ist ganz schwierig. DIE FURCHE: Kommen wir am Schluss zurück zur konkreten Politik: Im Mai soll das EU-Parlament seine Position zum Gesetzesvorschlag des EU-Rates festlegen. Dann folgen noch die Trilog-Verhandlungen (siehe Kasten). In Österreich muss die Richtlinie dann in nationales Recht gegossen werden. Was erwarten Sie sich, was fordern Sie in diesem Zusammenhang? Coudenhove-Kalergi: Der nationale Gesetzgeber muss sich an die Richtlinie halten und hat nur in wenigen Punkten Entscheidungsspielraum. Im Hinblick auf die nationale Aufsichtsbehörde wäre es hilfreich, wenn diese mit ausreichend Ressourcen ausgestattet würde und einen Helpdesk für Unternehmen einrichtet. Rehling: Ich denke, es braucht bis zur Implementierung ein unabhängiges Kontrollorgan, das der Politik und der Verwaltung untersteht. Nötig ist eine tatsächliche Behörde und nicht nur eine Stelle wie der „Österreichische Nationale Kontaktpunkt für die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen“ im Wirtschaftsministerium, der aus einer einzigen Person besteht. DIE FURCHE: Eine wichtige Frage, die laut EU-Rat vorerst auf nationaler Ebene entschieden werden soll, ist, ob die Sorgfaltspflichten auch für den Finanzsektor gelten – der aber eine wichtige Hebelwirkung besitzt. Wie ist Ihre Haltung dazu? Coudenhove-Kalergi: Merkwürdigerweise ist diese Diskussion erst ganz am Ende des Prozesses aufgetaucht – und die Ausnahme dieses Punktes war die Bedingung für das Erzielen einer Einigung zur EU-Ratsposition. Wir halten grundsätzlich den Text der allgemeinen Ausrichtung für problematisch und hätten uns Klärungen in anderen Punkten eher gewünscht. Rehling: Ich denke nicht, dass es im Sinne der Nachhaltigkeit wäre, wenn man den Finanzsektor ausklammert. DIE FURCHE: Wie lautet Ihre Conclusio zur ganzen Lieferkettengesetzdebatte? Coudenhove-Kalergi: Meine lautet: Gewünscht wird eine Eier legende Wollmilchsau. Es soll etwas sein, das alles, was an der Globalisierung negativ ist, richtet. Doch das wird durch dieses Gesetz nicht gelingen. Wir müssen gemeinsam an einer praktikablen Lösung arbeiten. Rehling: Aus meiner Sicht geht es darum, die Unternehmen endlich in die Verantwortung zu nehmen. Und dieses Gesetz ist dafür zentral.

DIE FURCHE · 3 19. Jänner 2023 Gesellschaft/Ethik 9 Ob Digitalisierung und Künstliche Intelligenz wie „Chat GPT“ – oder wissenschaftliche Durchbrüche wie die „Genschere“: Die Medizinethik steht vor drängenden Fragen. Ein Ausblick. Von Ulrich H.J. Körtner Das digitale Zeitalter führt in allen Lebensbereichen zu einem Paradigmenwechsel – auch in der Medizin. Auf dem Gebiet der Diagnostik und Therapie von Krankheiten verspricht die Kombination von moderner Genetik und digitaler Informationsverarbeitung große Fortschritte. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) wirken sich tiefgreifend auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient wie auf die Kommunikation und Organisation des Gesundheitswesens insgesamt aus. Manche Krankenhäuser bieten bereits Online-Ambulanzen an, um die Klinikambulanzen zu entlasten. Für Aufsehen sorgte zuletzt die KI-Software „Chat GPT“, welche die Textproduktion auch im Wissenschaftsbereich revolutionieren wird (vgl. auch Seite 22). Laut einer Studie ist sie in der Lage, falsche wissenschaftliche Abstracts zu produzieren, die selbst Gutachter nicht auf Anhieb als Fälschung erkennen. Mit der Digitalisierung der Medizin und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) verbinden sich große Hoffnungen. So soll der Einsatz von KI den Ansatz einer evidenzbasierten Medizin verbessern und die Kosten im Gesundheitswesen senken, zum Beispiel durch Zeitersparnis in der Diagnostik. Allerdings stellt sich die Frage, wie die eingesparte Zeit sinnvoll genutzt werden kann. Hat der Arzt künftig mehr Zeit als jetzt für Patientengespräche („sprechende Medizin“), oder führt der Einsatz von KI nur zu weiterer Arbeitsverdichtung und Personalabbau im Gesundheitsbereich (bzw. zur Umschichtung vom Patienten weg in die Labore)? Was tun mit all den Daten? Die Generierung und Sammlung von Daten stellt die Medizin nicht nur vor technische, sondern auch vor ethische Probleme. Schätzungen gehen davon aus, dass heute alle zwei Tage dieselbe Datenmenge an Informationen erzeugt wird, wie vom ersten Auftreten des Homo sapiens vor 120.000 Jahren bis zum Jahr 2003. Die systematische Erfassung personenbezogener Daten zur Lebensweise und zur Umwelt erzeugt eine Spannung zwischen den Interessen von Public Health und dem Schutz der Privatsphäre. Die Vision einer global vernetzten Big-Data-Medizin sieht sich zudem mit ernsten Schwierigkeiten konfrontiert. So sind medizinische Daten weltweit großteils miteinander inkompatibel, teils handgeschrieben, teils unvollständig. Auch darf das Sprachenproblem nicht unterschätzt werden. Neben weit verbreiteten Sprachen gibt es solche wie Kisuaheli oder Urdu. Die Aufzeichnung medizinischer Daten wird teilweise von Kulturen und Religionen beeinflusst. So tritt auch in der Medizin das Problem der Hermeneutik auf. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen: Verstehen und Interpretieren lassen sich aber nicht durch digitale Algorithmen ersetzen, auch wenn es bereits beeindruckende digitale Übersetzungsprogramme wie „DeepL“ gibt – oder eben „Chat GPT“. Eine weitere Frage lautet, ob sich etwa auch die Ethik digitalisieren lässt. Man denke an selbstfahrende Autos oder militärische Drohnen, die ohne menschliche Einwirkung autonome Entscheidungen treffen. Wie soll etwa ein Auto für Situationen programmiert sein, in denen zwischen Menschenleben abzuwägen ist? Die moralische Letztverantwortung des Menschen lässt sich folglich nicht an Maschinen delegieren, auch nicht in der Medizin. Eine besondere technische, aber auch ethische Herausforderung auf dem Gebiet der KI stellt das Deep Learning dar. Darunter versteht man, dass sich die Software von KI selbst fortschreibt. Ist es ethisch verantwortbar, die Gesundheit von Patienten einer intransparenten Computerintelligenz anzuvertrauen? Blindes Vertrauen in KI kann jedenfalls gefährlich sein. Neue digitale Mythen Kritik als entscheidendes Motiv jeder Aufklärung schließt die Skepsis gegenüber vorschnellen Heilsversprechungen ein. Es ist ja nicht auszuschließen, dass auch die digitalisierte Medizin neue Mythen produziert. Für multifaktorielle Erkrankungen wird auch die Gentechnik keine Wundermittel parat haben, und selbst wenn sich die Chancen durch Verfahren des Genome Editing deutlich erhöhen sollten, besteht Grund zur Nüchternheit. Dieses Genome Editing (Genchirurgie) mit Hilfe der „Genschere“ CRISPR ist dabei, die Biowissenschaften und die Medizin zu revolutionieren. Und der Hype um die sich abzeichnenden Möglichkeiten ist so groß, dass die ethische Reflexion kaum noch Schritt halten kann. Es ist gerade einmal gut zehn Jahre her, dass eine Arbeitsgruppe um Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna die erste Arbeit zur Entwicklung und zum Einsatz der CRISPR/Cas- Methode veröffentlichte. 2015 kürte die Fachzeitschrift Science das neue Verfahren zum „Breakthrough“ des Jahres. Nur drei Jahre später schreckte der chinesische Biotechnologe Jiankiu He die Weltöffentlichkeit mit der Meldung auf, in China seien zwei gesunde Mädchen zur Welt gekommen, nachdem er im Rahmen von künstlicher Befruchtung mit Hilfe der Genschere CHRISPR/Cas 9 das Erbgut der Mädchen so verändert habe, dass sie ihr ganzes Leben immun gegen AIDS bleiben. Zwar wurde He wegen krasser Missachtung forschungsethischer Standards international kritisiert. Auch zweifeln Forscher nach der Geburt der beiden Mädchen am Erfolg des gentherapeutischen Illustration: iStock/DrAfter123 (bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Wer wollen wir künftig sein? Experiments. Der Geist einer unkontrollierten Entwicklung, die durch wissenschaftlichen Ehrgeiz, aber auch durch ökonomische Interessen angetrieben wird, ist jedoch aus der Flasche. Experimente am Menschen bedürfen der Genehmigung durch eine Ethikkommission, ohne die wiederum keine Forschungsergebnisse in seriösen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden können. Offenbar genügen aber ethische Selbstverpflichtungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften nicht in jedem Fall, damit ethische Regeln auch wirklich eingehalten werden. Die staatliche Gesetzgebung stößt an Grenzen, weil Forschung heute global vernetzt betrieben wird. Viele der jetzt diskutierten Fragen und Probleme der Technikfolgenabschätzung sind nicht neu. Wir kennen sie aus der Gentechnikdebatte der 1980er und 1990er Jahre. Die nun mögliche Eingriffstiefe in das Erbgut verleiht der Diskussion aber eine neue Dimension. Menschen mit Hilfe von Genscheren wie CRISPR oder TALENS maßzuschneidern, gilt international zu Recht als Tabu. Bedenken bestehen nicht nur im Fall der Keimbahntherapie, solange sich die langfristigen Auswirkungen genchirurgischer Eingriffe beim Menschen nicht abschätzen lassen. Die Genscheren schneiden zum Beispiel nicht immer so präzise wie erhofft. Auch hat man nach derartigen Eingriffen Umstellungen im Genom beobachtet, die zu einem erhöhten Krebsrisiko führen. Leben als Produkt statt Gabe? Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft insgesamt in die komplexe biopolitische und bioethische Debatte eingebunden werden kann. Die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, wenn das Leben immer mehr als technisches Produkt statt als Gabe verstanden wird, sind gravierend. Auf dem Spiel steht nicht nur unser Verständnis der Menschenwürde. Es stellen sich auch Fragen zum Tierschutz und zur Tierethik. Eine neue Stufe der Debatte wird erreicht, wenn Medizin und Pharmazie nicht mehr allein zur Therapie von Krankheiten, sondern zur Verbesserung der natürlichen Ausstattung des Menschen eingesetzt werden sollen. Enhancement und Transhumanismus sind hier die Schlagworte. Die entscheidende Frage lautet, was es künftig heißt, ein Mensch zu sein – und wer wir sein wollen. Wer gibt Menschen das Recht, über andere Menschen und das Schicksal von Ungeborenen zu verfügen? Die Achtung vor dem Menschen und seiner Würde bedeutet, ihn zu verschonen. Je mehr das biomedizinische Wissen wächst, desto größer wird das Nichtwissen, und desto mehr braucht es in Forschung und Weltgestaltung eine Haltung der Demut. Das medizinische Handeln gerät immer wieder in ethische Dilemmata. Mehr noch: Der medizinische Fortschritt schafft nicht nur neue und bessere Lösungen für medizinische Probleme, sondern wirft neue ethische Fragen auf, die es zuvor nicht gab. Intensivmedizin, Reproduktionsmedizin und medizinische Genetik haben den Spielraum ärztlichen Handelns enorm erweitert, produzieren aber zugleich neue Dilemmata, mit denen die Betroffenen moralisch und psychisch fertig werden müssen. Lesen Sie dazu auch „Das unheimliche Potenzial der ,Genschere‘“ (15.12.2016) von Martin Tauss auf furche.at. „ Je mehr das biomedizinische Wissen wächst, desto mehr Demut braucht es in Forschung und Weltgestaltung. “ Man denke an das Problem der Organknappheit in der Transplantationsmedizin, das ja nicht etwa die Ursache, sondern die Folge des Fortschritts ist. In dem Augenblick, in dem die Organtransplantation zur Routine wird, steigt der Bedarf an Spenderorganen. Und mit mehr Patienten, die früher aufgrund bestehender hoher Risiken von der Transplantation ausgeschlossen wurden, aber heute als potenzielle Organempfänger in Frage kommen, steigt der Bedarf an Spenderorganen weiter an. Kostenfrage offen debattieren Die gerechte Verteilung vorhandener Ressourcen (Allokation) im Gesundheitswesen ist freilich eine eigene, grundsätzliche Herausforderung, die durch die Corona-Pandemie auf bedrängende Weise verstärkt ins Bewusstsein gebracht wurde und sich durch den medizinischen Fortschritt weiter verschärft: Ist auch bei neuen, kostenträchtigen Diagnose- und Therapieverfahren der gleiche Zugang für alle garantiert? Die Kostenfrage muss offen debattiert werden, ebenso die möglichen Auswirkungen auf das Versicherungssystem. Medizinethik hat die Aufgabe, all diese Fragen zu benennen und Verfahren der ethischen Entscheidungsfindung zu entwickeln, die uns helfen, mit solchen Dilemmata halbwegs zurechtzukommen. Die Ethik kann sie nicht aus der Welt schaffen oder grundsätzlich verhindern. Sie hilft uns aber im besten Fall, mit ihnen zu leben. Der Autor – seit 1992 Professor für Systematische Theologie an der Evang.-Theol. Fakultät der Universität Wien – war ab 2001 auch Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin. Mit Jahresende hat er diese Funktion an seinen bisherigen Stellvertreter Karl Stöger (Professor für Medizinrecht am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Uni Wien) übergeben.

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