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DIE FURCHE 19.01.2023

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DIE FURCHE · 3 18 Literatur 19. Jänner 2023 Von Manuela Tomic Wesentliche, was ich über das Leben weiß, habe ich durch Lesen gelernt“, sagte der bosnische Schrift- „Alles steller Dževad Karahasan im August 2020, als ihm in Frankfurt der Goethepreis verliehen wurde. Am 25. Jänner wird der Dramaturg, Essayist und Autor 70 Jahre alt. In seinem neu erschienenen Roman „Einübung ins Schweben“, erschienen bei Suhrkamp, steht ein beobachtender Wissenschafter im Mittelpunkt des Geschehens. Peter Hurd, Altphilologe und Mythenforscher, kommt im April 1992 zu einer Lesung nach Sarajevo. Schon der Titel seines Buches, „Die weiße Wölfin“, versteht sich als Vorbote für das, was in dieser Geschichte noch kommen wird. Schließlich hatte sich die Republik Bosnien und Herzegowina erst vor wenigen Wochen von Jugoslawien losgesagt. Gezeichnet von Angst und in höchster Anspannung sitzen die Gäste und lauschen der Lesung. Doch nur wenige Tage später wird Sarajevo von der Armee der bosnischen Serben, Einheiten der verbliebenen jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs eingenommen. Mit 1425 Tagen sollte es die längste Belagerung im 20. Jahrhundert werden. Wie Wolfsrudel müssen die Menschen in Sarajevo von einem Tag auf den nächsten um ihr Überleben kämpfen, während internationale Gäste, wie der Kanadier Peter Hurd, mit Bussen aus der Stadt gebracht werden sollen. Doch als Hurd mit seinem Bewunderer, dem Übersetzer und Ich-Erzähler Rajko, am Bahnhof steht, ändert der Forscher seine Meinung: Er bleibt. Mit Rajko teilt er den Alltag, der nun von Granaten begleitet ist, lernt Freunde und Verwandte kennen. Eines Tages macht sich der Philologe allein auf den Weg und kehrt zurück, kaum wiederzuerkennen. Was ist geschehen? Das Chaos sortieren In seinen Werken kehrt Karahasan immer wieder in die belagerte Stadt Sarajevo zurück. Er erzählt in klaren kurzen Sätzen, als wolle er aufräumen, diese Jahre des absoluten Chaos in Büchern neu sortieren, das Unverstandene verständlich machen. Mit anderen bosnischen Schriftstellern wie Aleksandar Hemon oder Miljenko Jergović verbindet ihn die Suche nach dem Menschlichen in einem zutiefst inhumanen Ausnahmezustand. Der Krieg verändere die Menschen, schreibt Karahasan in seinem neuen Roman. Jene, die immer geschwiegen haben, hören plötzlich nicht FEDERSPIEL Chance vertan Nach jahrelangem Umbau wurde das Österreichische Parlament wiedereröffnet. Dieses Haus, in dem die gewählten Volksvertreter arbeiten, ist ein Sinnbild der Demokratie. Jahrelang tagte man in Containern auf dem Heldenplatz und zog nun zurück in das 1883 nach Plänen von Theophil Hansen fertiggestellte neoklassizistische Gebäude. Und auch die Eröffnung sollte wohl einen neoklassizistischen Touch haben. Der Parlamentspräsidentschaft fiel es nicht ein, eine Österreicherin zur Eröffnungsrede zu bitten, eine Kämpferin für Demokratie, eine Visionärin, die die Aufgaben der Zukunft anspricht. Nein, eingeladen wurde Wolfgang Schäuble, jener CDU-Politiker, der die Annahme von Spendengeldern des Waffenhändlers Karlheinz Schreiber zuerst leugnete, dann zugab und zurücktrat, um im selben Jahr die deutsche Öffentlichkeit um Entschuldigung zu bitten und rehabilitiert zu werden. Wie auch immer man darüber denkt, Herr Schäuble ist wohl kaum die erste Adresse für Foto: picturedesk.com / dpa / Frank Rumpenhorst Lesen Sie „Die Schönheit der kleinen Unterschiede“, von Dževad Karahasan, erschienen am 7. Dezember 2006 auf: furche.at. Mit „Einübung ins Schweben“ legt der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan pünktlich zu seinem 70. Geburtstag einen neuen Roman vor: Ein lyrisches Panoptikum des Krieges. Die Zeit der Entblößten mehr auf zu reden. Und die großen Redner entpuppten sich im Krieg als introvertierte Seelen. Die Einen würden während der Belagerung die Gesetze der Welt „wie ein Heiligtum“ bewahren und ihre Höflichkeit auf die Spitze treiben. Die Anderen sehen im einen solchen Festakt. Seine Rede hat das leider nur bestätigt. Haben deutsche Fernsehkomiker endlich damit aufgehört, das Gemotze über Gendersternchen und das Leugnen des Klimawandels als Kabarett zu verkaufen, so beginnen Altpolitiker damit nun offensichtlich von neuem. Was daran festlich sein soll oder uns auf eine neue Ära des Parlamentarismus einstimmen soll? Niemand weiß es. Nun ja, einer weiß es schon: der Erste Parlamentspräsident Sobotka. Er hat damit ein Zeichen gesetzt für eine Politik, die er offensichtlich präferiert: eine Politik, die sich für Waffenhändler und Spendenannahme und gegen Umwelt- und Gleichberechtigungspolitik ausspricht. Das ist – wenn ich mir die Reaktionen auf Schäubles Eröffnungsrede in der Presse durchlese – das Signal, das nicht nur bei mir ankommt. Eine historische Chance wurde vertan. Der Autor ist Schriftsteller. Von Daniel Wisser „ Karahasan erzählt in klaren kurzen Sätzen, als wolle er aufräumen, diese Jahre des absoluten Chaos in Büchern neu sortieren, das Unverstandene verständlich machen. “ täglichen Weltuntergang einer belagerten Stadt – ohne Hoffnung auf Frieden – jenen Moment gekommen, in dem sie eine noch nie dagewesene Freiheit empfinden, all das zu tun, was sie schon immer tun wollten. Nicht zufällig bezeichnet die Hauptfigur Rajko den Krieg deshalb als „die Zeit der entblößten Menschen“. Während die Friedhöfe überquellen und Trauernde von Heckenschützen am Grabe ihrer Liebsten erschossen werden, heißt es an einer Stelle: „Der Tod wächst! Der Tod wächst!“ Der Tod wächst nicht nur, er wuchert aus allen Ecken und Enden der Stadt. Er ist sichtbar, Teil des Stadtbildes. Karahasan scheut nicht davor zurück, den Tod mit dem Attribut einer Blume zu versehen. Genau in diesen sprachlichen Kunststück zeigt sich der literarische Wert seines Romans. Karahasans Lebenswerk ist ein lyrisches Panoptikum des Krieges, von dem sich der Autor nie mehr zu lösen vermag. Karahasan wurde 1953 in der ex-jugoslawischen Stadt Duvno (im heutigen Bosnien und Herzegowina heißt die Stadt Tomislavgrad) als Sohn muslimischer Eltern geboren. Die Themen in seinen Büchern sind nicht zuletzt von seiner Kindheit geprägt: In seinen Jugendjahren ging der neugierige Chronist der Belagerung Dževad Karahasan wurde 1953 in Duvno (ehem. Jugoslawien) geboren. Die Belagerung Sarajevos war unter anderem Thema seines „Tagebuchs der Aussiedlung“ (1993). Karahasan wurde mehrfach ausgezeichnet und lebt in Graz und Sarajevo. Karahasan freiwillig neben seinem regulären Schulunterricht in ein Franziskanerkloster und wurde dort von einem Mönch in Philosophie, Latein und Griechisch unterrichtet. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in Sarajevo. 1993 floh Karahasan aus der umkämpften Stadt. Im selben Jahr wurden seine Essays über die Zerstörung und Belagerung von Sarajevo zu einem auf der ganzen Welt gelesenen Zeugnis der Barbarei. Von der Belagerung Sarajevos handeln auch seine Romane „Schahrijârs Ring“ (1997), „Sara und Serafina“ (2000) und „Einübung ins Schweben“. Für den Essayband „Das Buch der Gärten“ wurde er 2004 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Das Werk von Karahasan umfasst Romane, Dramen, Essays und theoretische Schriften. Gegen das Vergessen In Interviews spricht der Schriftsteller, der mittlerweile in Graz und Sarajevo lebt, ruhig und mit osteuropäischem Akzent: „Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt, ich bin geboren in einer Stadt, die es nicht mehr gibt.“ Es wirkt so, als wolle Karahasan nicht nur gegen das Vergessen einer blühenden Kulturhauptstadt anschreiben, sondern auch gegen das Verschwinden der Empathie. Und angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine erhält sein jüngstes Werk eine neue traurige Aktualität. Häufig geht es in seinem Werken um die Gemeinschaft, die dem Einzelnen in einer Extremsituation zur Hilfe kommt. Eine Gemeinschaft, die es im Zeitalter des Individualismus nicht mehr zu geben scheint. Nicht in Österreich und nicht in Bosnien. Und der Autor wird nicht müde, die Gier und die Korruption in seinem Heimatland anzuprangern. Bosnien funktioniere seit 1995 „als Müllhalde, man schickt Bürokraten hin, mit denen man nichts anfangen kann“. Dabei werde vergessen, dass Bosnien mitten in Europa liege und dieses sich nicht von Bosnien lossagen könne, erklärte er auf der Leipziger Buchmesse 2007. Er selbst versuche seine Studenten in Sarajevo für „das Gute in der europäischen Tradition“ zu begeistern. Von diversen Feuilletons wurde er dafür schon als Vorzeigeeuropäer beschrieben. Dazu passt es auch, dass just zu Beginn seines neuen Romans von Wissen und Nutzen erzählt wird. Heute erwerbe der Mensch nur jenes Wissen, das ihm unmittelbar einen Nutzen bringt, sinniert der Altphilologe Hurd zu Beginn von „Einübung ins Schweben“. Diese Menschen nennt er Sklaven. Ein freier Mensch hingegen erwerbe das Wissen, um sich selbst zu gewinnen. Denn wenn die eigene Identität durch den Krieg aufgelöst wird, bleibt nur die Gewissheit der Geschichten. Es wirkt, als wolle Karahasan in seinen Romanen jene Stadt und jene Menschen einfangen, die sich nur wenige Tage später im Begriff des Verfalls befanden. Durch das Lesen wird die belagerte Stadt wieder lebendig. Karahasan bleibt zweifellos einer der wichtigsten Chronisten des elementaren Bösen und der Menschlichkeit, die erst dann zutage tritt, wenn es nur noch um eines geht: das eigene Überleben. Einübung ins Schweben Roman von Dževad Karahasan Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber suhrkamp 2023 304 S., geb., € 25,70

DIE FURCHE · 3 19. Jänner 2023 Musik 19 Er veröffentlichte ein Buch über die „Philosophie des modernen Songs“. Wer glaubte, der 81-jährige Bob Dylan würde endlich die Geheimnisse seiner eigenen Schreib- Kunst entblößen, wird enttäuscht. Aber nicht nur. Von Jan Opielka Am Anfang des Buches, an dem Autorinnen und Autoren häufig ein pointiertes Zitat eines Anderen als Leitmotiv setzen, um die eigene Intention in helleres oder auch subtileres Licht zu tauchen, steht bei Dylan der folgende Satz: „In diesem Song liegt dein Glück jenseits des großen Meeres, und wenn du dorthin willst, musst du das große Unbekannte überqueren.“ Der Urheber des Gedanken wird nicht genannt. Indes, es entpuppt sich als Kern dessen, was auf den folgenden 350 Seiten folgt: keine Musik-Philosophie, sondern eine Lieder-Schau nach Gusto des Maestros; und der moderne Song in 66 Beispielen, dessen relevante Vertreterinnen und Vertreter für Dylan offenbar in den 1980er Jahren aufhören. Es wäre eine Überraschung, würde der 81-Jährige mit dem, was er tut, kein Stirnrunzeln erzeugen. So auch mit dem erstem Prosa-Werk seit den autobiografischen „Chronicles“ (2004). Denn Johnny Cash, Willie Nelson, Nina Simone, Dean Martin, die in der „Philosophie …“ ihre Erwähnung finden, kennen wohl die meisten. Doch viele der anderen besprochenen Interpretinnen und Interpreten dürften selbst vielen eingefleischten Musik-Liebhabern wenig sagen. Outlaws vor den Vorhang Ein grobes Schema, dem entlang Dylan sein Buch konzipiert, ist das Folgende: zunächst lässt er sich auf den Text des jeweiligen Songs ein (seltener: auf die Melodie), paraphrasiert ihn in einer Art deutendem stream of consciousness. Dann taucht er aus der Tiefe des Songs auf, um ihn und/ oder den Künstler im Kontext zu betrachten – und mitunter das jeweilige Thema des Stücks als Sprungbrett zu nutzen. So etwa, wenn er zu Harry McClintocks Song „Jesse James“ über den legendären Outlaw aus dem Wilden Westen schreibt, um das Verbrechertum als solches zu sezieren. Jesse James sei geächtet gewesen, dem Schutz des Gesetzes entzogen. Heute „gehen die Mafiabosse und andere Wirtschaftsverbrecher ihren schmutzigen Geschäften in Wolkenkratzern nach (...) und lassen sich von Schlägern beschützen, die für sie die Drecksarbeit erledigen, und natürlich von Anwälten, die Distanz zu ihren Namen und Vergehen halten. Deshalb gibt es zwar noch Verbrecher, aber keine Outlaws mehr.“ Dylan hegte stets große Sympathien für Outlaws wie Jesse James, für die Wilden, die Umhertreibenden, für die Gepeinigten, denen er in vielen eigenen Songs, wie etwa in „Chimes of Freedom“, Denkmäler dichtete. Ein Außenseiter war auch John Trudell, ein Aktivist für Indianer-Rechte, der dem Volk „Santee Dakota“ entstammt. Trudell wurde zum Poeten und Musiker, nachdem er 1979 seine Frau und drei Kinder bei einem tragischen Brand verlor, der wohl ein gezielter Anschlag war. Dylan macht auf die Tragödie der amerikanischen Ureinwohner aufmerksam, und zu Trudells Poesie und dem Stück „Doesn’t hurt anymore” schreibt er: „Durch ihn verschaffte sich ein uralter Geist Gehör, und man kann ihn verstehen. In all ihrer Schlichtheit transportierten seine Worte die Zuversicht einer uralten Weisheit. (…) Nehmt euch einen Augenblick Zeit – lest ein bisschen über das hinaus, was hier über John Trudell steht. Er hat es verdient. Und danach hört euch seine Musik an.“ Auch ein paar politische Songs bekommen in dem reich bebilderten Buch ihre Bühne. „Ball of Confusion“ der Temptations etwa, oder auch „War“, verfasst von Norman Whitfield und Barrett Strong, hier in der Version von Edwin Starr (1970). Foto: Getty Images / Michael Ochs Archives / Larry Hulst Bob Dylans Lieder-Schau „Krieg – wozu ist er gut? Zu absolut nichts“, heißt es im harten Refrain. Dylan sagt ein paar Worte zur Entstehungsgeschichte des Songs, dann aber breitet er seine Ansichten zu Krieg als solchem aus. Bei der Bewertung des Zweiten Golfkriegs (1991) und der folgenden, harten Sanktionen gegen den Irak geht er zwar dem US-Narrativ auf den Leim, indem er beides in ein allzu positives Licht taucht; doch macht er auch klar, dass er US-Präsident George W. Bush und Konsorten wegen der Invasion im Irak (2003) für Kriegsverbrecher hält. Aber: nicht nur sie. „Wenn die Leute, die wir wählen, andere in den Tod oder Schlimmeres schicken – Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel, an die wir keinen Gedanken verschwenden, weil sie nicht so aussehen und nicht klingen wie wir –, und wir nichts tun, um es zu verhindern, sind wir dann nicht ebenso schuldig? Wenn wir einen Kriegsverbrecher sehen wollen, müssen wir nur in den Spiegel schauen.“ Eine persönliche Auswahl, kein Kanon Das erwähnte Anfangszitat des Buches, das, stellt der oder die Lesende beim Eintrag zu Song 19 fest, geht auf Dylan selbst zurück, der damit das Stück „Beyond the Sea“ von Bobby Darin aus dem Jahr 1959 bespricht. „Immer weiter segelst du über die tosende See und hinaus in die wilde blaue Ferne. Segelst auf dein Leben zu – deinen Bestimmungsort.“ Dem Eintrag zu dem Song ist eine Zeichnung beigestellt, die wohl eine Szene des Kampfes Kapitän Ahabs und seiner Crew mit dem Wal aus Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ zeigt – eines von drei Büchern, die Dylan „ Es ist ein Buch über große kreative Sprünge, über kleine musikalische Wahrheiten – und über die Magie, die sich ereignet, wenn sich ein Text mit Musik verbindet. “ bei seiner Literaturnobelpreis-Rede als Inspirationsquelle zitiert hatte. Jenseits des Meeres liegt die Wahrheit des Songs; des Songs als solchem, und dieses ganz konkreten: „Beyond the Sea“ stammt aus dem Jahr 1959. Damals zog Dylan weg aus seiner Heimatstadt, entschied sich für seinen „Bestimmungsort“. Hat man diese subjektive Note bei der Auswahl auch der anderen 65 Songs nicht im Blick, kann man sich über Dylans Selektionskriterium ergebnislos den Kopf zerbrechen und auch durchaus den Verdacht hegen: Führt Dylan hier wieder mal an der Nase herum? Denn warum sind alte Country-Schnulzen, wenn auch mit nicht banalen Texten, derart überrepräsentiert? Warum erwähnt er fast nur männliche US-Künstler, lediglich vier Frauen-Musikerinnen, und nur drei Stücke aus Europa? Warum ist kein Song von Leonard Cohen, den Beatles, Joni Mitchell, Patti Smith oder Radiohead dabei? Gibt es nach 1990 keine erwähnenswerten Songs? Eine der Antworten: Dylan will keinen Kanon, wie ihn etwa das Musikmagazin „Rolling Stone“ mit den „500 besten Songs aller Zeiten“ zu setzen sucht. Auch der klobige Buchtitel „Philosophie …“ ist eher ein Augenzwinkern. Ausgezeichnet Er gilt als einer der bedeutendsten Lie dermacher des 20. Jahrhunderts. 2016 erhielt er für „seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“ den Literaturnobelpreis. So ist das Buch wohl keine Lektüre für jene, die einen allgemeinen Überblick über Charakteristika des modernen Songs suchen. Wohl aber für jene, die Ausschau halten nach selektiv-subjektiver Inspiration. Es ist ein Buch über große kreative Sprünge, über kleine musikalische Wahrheiten – und über „die Magie, die sich ereignet, wenn sich ein Text mit Musik verbindet. Einige würden diesen Zusammenschluss als Chemie bezeichnen, aber Chemie beruht auf Wissenschaft und ist daher nachvollziehbar. Was mit Texten und Musik geschieht, ähnelt eher der Alchemie, einer wilderen, weniger disziplinierten Vorläuferin der Chemie, ständig scheitern Experimente, und trotzdem wird immer wieder der aussichtslose Versuch unternommen, gewöhnliche Metalle in Gold zu verwandeln. Man kann weiterhin aus der Musik eine Wissenschaft machen wollen, aber in der Wissenschaft wird eins und eins immer zwei ergeben. Musik dagegen erklärt uns, wie alle Kunst, auch die Kunst der Liebe, dass eins plus eins unter optimalen Bedingungen drei ist.“ (287) Man sollte diesem Meister des modernen Song beileibe nicht alles glauben, was er sagt, singt oder schreibt. Dieses aber ist wohl wahr. Die Philosophie des modernen Songs Von Bob Dylan Aus d. Engl. von Conny Lösch C. H. Beck 2022 352 S., geb., € 36,–

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