2 · 12. Jänner 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– he lahmgelegt wurde und sich Phänomene wie „Reichsbürger“ oder „Staatsverweigerer“ hier wie dort häufen, muss aufrütteln. Einen Sturm auf das Parlament hat Österreich zum Glück noch nicht erlebt. Dennoch ist Wachsamkeit geboten – und Ehrlichkeit. Ist die Einladung „Beteiligen Sie Von Doris Helmberger sich!“ ernst gemeint und soll das nunmehr weiter geöffnete Hohe Haus mehr sein als bloße Fassade oder eine Touristenattraktion, dann sind konkrete Maßnahmen nötig. s war das Lebenswerk des Theophil Hansen: Er konzipierte das neuerten Parlaments soll freilich in eine Ideen gäbe es viele: von einem neuen Um- Der eigentliche „Spirit“ des rundumer- Parlament als griechischen Tempel, stellte ihm die Göttin der spätestens am kommenden Wochenende nen)räten bis zur konkreten Einladung in ganz andere Richtung weisen – und sich gang mit Bürgerinitiativen oder Bürger(in- Weisheit, Pallas Athene, voran, ergänzte vier „Rossebändiger“, die den polititer dem Motto „Parlament verbindet“. Auch ment. Einen ersten Anlass könnte die ak- entfalten: bei den Tagen der offenen Tür un- den demokratischen „Sprachraum“ Parlaschen Furor der darin Tätigen zähmen sollten – und hob das Gebäude auch noch auf kum“ sowie eine neue, zugänglichere Web- Klimaaktivist(inn)en – vulgo „Klimakle- das neue Besucherzentrum „Demokratituelle Debatte um den Umgang mit jungen einen Sockel. Dass das Hohe Haus tatsächlich höher steht als alle anderen Bauwerke nung und Bürger(innen)beteiligung. Das Seite nicht viel mehr zu vernehmen als site verstehen sich als Zeichen für mehr Öffbern“ – bieten. Derzeit ist von politischer an der Wiener Ringstraße, war also keineswegs Zufall: Es sollte die nötige Distanz für tie“: So lautet das neue Selbstverständnis, fenden niederösterreichischen Landes- Hohe Haus als „Sprachraum der Demokra- Scharfmacherei (wie bei der wahlkämp- Entscheidungen fernab emotionaler Aufwallung signalisieren – sowie Ehrerbietung in der Parlamentsbibliothek verdichtet. Grünen, die in puncto Klimaschutzgesetz das sich in der gleichnamigen Ausstellung hauptfrau) oder Hilflosigkeit (wie bei den für dieses Herzstück der Demokratie. gescheitert sind). Was aber hindert die Abgeordneten daran, die jungen Aktivisten Durchaus exklusiv war auch jener Festakt, mit dem das Parlament nach fünfjäh- Signale wie diese sind hoch an der Zeit – sowie Expertinnen und Experten zu einer Ins Rutschen gekommenes Vertrauen riger Generalsanierung diesen Donnerstag eröffnet wurde. Dass im Vorfeld auch ens in die demokratischen Institutionen. Hohe Haus einzuladen? gerade angesichts schwindenden Vertrau- sachgeleiteten, nachhaltigen Debatte ins der Eindruck einer gewissen Abgehobenheit entstand, geht dabei auf das Konto des gekommen ist, zeigt sich nicht nur in Umnem „neuen Umgangston“, wie ihn auch Wie sehr dieses Vertrauen ins Rutschen Schritte wie diese könnten (neben ei- schillernden Hausherrn, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP): Dieser hatnitor“ in Österreich, sondern auch in welt- das Fundament des Parlaments wesentfragen wie dem jüngsten „Demokratie-Mo- Wolfgang Sobotka selbstkritisch fordert) te nicht nur eigenmächtig jenen legendären weit sich häufenden Attacken. Dass sich der lich stärken; und womöglich nachhaltiger vergoldeten Flügel für den Empfangssalon mittlerweile zwei Jahre zurückliegende wirken, als es jede Generalsanierung und angemietet, rund um den sich eine aufgeregte Debatte entzündete – sondern auch in der brasilianischen Hauptstadt wieder- Angriff auf das US-Kapitol jüngst als Farce jeder Rossebändiger vermag. eigenmächtig den Festredner, Wolfgang holte, gleichzeitig im Mutterland der Demokratie das Repräsentantenhaus beinadoris.helmberger@furche.at Schäuble, bestellt. @DorisHelmberger Vergangenen November hat die Welt bevölkerung die Grenze von acht Milliarden überschritten. All diese Menschen zu ernähren, wäre möglich. Warum es dennoch den Skandal des Hungers gibt und was im „UN-Jahr der Hirse“ dagegen unternommen werden muss, beschreibt Wolfgang Machreich im Fokus „Was die Welt satt macht“. Handlungsbedarf gibt es auch in Ungarn, wo Korruption und Nepotismus blühen; oder in der katholischen Kirche: Wie es hier nach dem Tod von Benedikt XVI. weitergehen könnte, analysieren Jan-Heiner Tück und FURCHE- Herausgeber Heinz Nußbaumer. Wolfgang Treitler reflektiert zum Tag des Judentums am 17. Jänner das jüdisch-christliche Verhältnis, Victoria Schmidt hat mit dem Philosophen Josef Estermann über Buen vivir („gutes Leben“) gesprochen – und Clemens Ableidinger von den Neos kontert Bildungsminister Polaschek. Mit einer Würdigung Susan Sontags, die am 16. Jänner 90 Jahre alt würde, beginnt Brigitte Schwens-Harrant das Feuilleton – und macht sich über die Essayistin zudem kommende Woche auf Ö1 „Gedanken für den Tag“. Ingeborg Waldinger hat schließlich das neue Buch von Annie Ernaux („Der junge Mann“) gelesen – und Adrian Lobe taucht in die Welt von Wikipedia ein. Diese bietet Infos ohne Ende; alle satt zu machen, daran scheitert aber auch sie. (dh) Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 3 16 Forum 19. Jänner 2023 DIE FURCHE EMPFIEHLT Was in der Luft liegt SYMPOSIUM Die Erforschung von Atmosphären ist ein Projekt an der Schnittstelle von Medizin, Psychotherapie, Philosophie und Kunst: Der Wiener Psychiater Michael Musalek lädt zu einem Symposium am Institut für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der SFU Wien (Teilnahme kostenlos; Voranmeldung per Email an: michael.musalek@sfu.ac.at). Atmosphären und Begegnungen Sigmund Freud Privatuniversität Freudplatz 1, 1020 Wien 18.2., 9–18 Uhr, www.sfu.ac.at Der künstliche Autor? LITERATUR Big-Data-KI-Programme helfen beim Verfassen von Texten (Stichwort Autokorrektur). Die Software GPT-3 allerdings kann Texte so generieren, dass sie sich von einem „menschengemachten“ Text nicht mehr unterscheiden lassen. Kann eine solche KI auch zu kreativem Schaffen fähig sein, berühren und faszinieren wie ein literarischer Text einer Autorin/eines Autors? Montagsfrühstück: Der künstliche Autor? 30.1.2023, 09.00 Uhr, Literaturhaus am Inn, www.literaturhaus-am-inn Die 3. ÖAW Winter School WEITERBILDUNG Unter der Federführung des Instituts für Hochenergiephysik bieten mehrere Institute der ÖAW eine Weiterbildung zum Thema maschinelles Lernen und moderne Datenwissenschaften an. Bei der diesjährigen AI Winter School geht es um Sprachverarbeitung, differenzierbares Programmieren und selbstständiges maschinelles Lernen. Die ÖAW Winter School ÖAW, Wien 23. bis 27. Jänner www.oeaw.ac.at IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Wo ist Gleichbehandlung? Öffnet das Hohe Haus! Von Doris Helmberger Nr. 2, Seite 1 Wie wahr, dass von politischer Seite nur Scharfmacherei oder Stillschweigen zum Thema Klimaproteste zu vernehmen sind. Wo sind die christlich-sozialen Werte einer ÖVP, wo ist das immer in den Vordergrund geredete Umweltbekenntnis einer Grünen Partei? Man kann zu den „Klimaklebern“ stehen wie man will. Fakt ist, dass sie aus Sorge um die Zukunft ihr Leben selbst gefährden, da ihre Forderungen mittels der klassischen Demonstrationen seitens der Politik wider besseren Wissens bis jetzt ignoriert wurden. Und dann hat eine Frau Mikl-Leitner nichts anderes als Antwort als höhere Strafen? Wo waren die Forderungen nach diesen Strafen bei wöchentlichen Demonstrationen von Corona-Leugnern, von Neonazis..., die sämtliche Öffis in Wien für zigtausende Wiener und wahrscheinlich auch Niederösterreicher Samstag für Samstag lahmlegten, die Straßen blockierten, ein Durchqueren der Stadt unmöglich machten!? Diese Aktionen wurden mit dem Argument „Versammlungsrecht“ genehmigt und konnten deswegen nicht in Gebiete verlegt werden, wo niemand anderer davon gestört wird. Geht es aber um Klimaproteste, dann fordert man einfach höhere Strafen – wo ist da die Gleichbehandlung? Monika Stangl 1020 Wien Keine Bühne für Erpresser wie oben Danke für diesen guten Leitartikel! Gegen Ende hin wird jedoch vorgeschlagen, dass die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ ins Hohe Haus zu einer „sachgeleiteten Debatte“ eingeladen werden sollten. Das wäre keine gute Idee, denn was wäre die Botschaft? Du musst nur möglichst viele Gesetze brechen, möglichst viele Rettungsautos blockieren, möglichst vielen Menschen auf den Wecker gehen und sie in der Früh an ihrer Arbeit hindern, dann wirst du politisch gehört. Nein, Nötigung kann und darf keine demokratische Kategorie sein/ werden – und auch das neu renovierte Parlament darf Erpressern keine weitere Bühne bieten oder sie mit einer Einladung auch noch belohnen. Selbst wenn hinter den Aktionen eine vielleicht ehrbare Absicht liegt: Das, was hier getan wird, darf nicht salonfähig und auch nur im Entferntesten vom Parlament legitimiert werden. Martin Deutsch Seebenstein Demokratiemutterland USA? wie oben Ungarn: Vegetarismus für Löwen Wohin geht die katholische Kirche weiter? Die verkörperte Vergangenheit Viktor Orbáns Regierungsstil ist geprägt von Nepotismus und Korruption. Über Brüssels Chancen, Benedikts XVI. Erbe und Szenarien für das weitere preis für Literatur. Nun erscheint „Der junge Mann“ Dogmatiker JanHeiner Tück über den Streit um Annie Ernaux erhielt im Dezember 2022 den Nobel dem Einhalt zu gebieten. Seite 5 Pontifikat von Franziskus. · Seite 7 auf Deutsch. · Seite 14 Foto: iSotck/kyoshino (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Das Thema der Woche Seiten 2–4 E Was die Welt satt macht „ Was hindert Abgeordnete, zu einer sachgeleiteten, nachhaltigen Klimadiskussion ins Parlament zu laden? “ 2023 ist das „Internationale Jahr der Hirse“. Können dieses „Supergetreide“ und Alternativen wie Algen den Hunger in Zeiten von Klimawandel und Krieg beenden? Das Parlament erstrahlt in neuem Glanz – und setzt als „Sprachraum der Demokratie“ auf mehr Bürgerbeteiligung. Soll das mehr als Fassade sein, könnte man mit einer Klimadebatte beginnen. Öffnet das Hohe Haus! INTRO furche.at In dieser Ausgabe der FURCHE finden Sie eine Beilage von Biber Umweltprodukte Versand GmbH. Foto: Imago/Allstar Gefährliches Misstrauen Gerade für eine Gesellschaft im Krisenmodus ist Wissenschaftsskepsis fatal. Über eine zukunftsweisende Debatte. · Seite 18 „Warum ist das Böse nicht überall?“ Sie war eine Schönheit, sie war ein Star. Vor allem aber war die Schriftstellerin und Regisseurin Susan Sontag eine kluge, eigensinnige Essayistin. Sie wurde vor 90 Jahren in New York geboren. Dass Doris Helmberger in ihrem Leitartikel die USA als „Mutterland der Demokratie“ bezeichnet, halte ich für weit überzogen. Solch ein Ehrentitel gebührt wohl viel eher England mit der Magna Carta Libertatum aus 1215. Auch Island, wo das Althing seit 930 als Volksvertretung tagt, oder die polis Athen mit der Verfassung des weisen Solon von (etwa) 570 v. Chr. verdienen diese auszeichnende Hervorhebung mehr. Die Gründerväter der USA waren humanistisch gebildete Politiker, die 1787 für ihre Verfassung die europäischen Vorbilder heranzogen und den neuen Bedürfnissen anpassten. Dass sie sich heute – warum eigentlich? – als Vorbild aller Demokratien verstehen, ist wohl hinterfragenswert. Dr. Herbert Fürnkranz 2020 Hollabrunn Ende der Zurückhaltung Kämpfe(r) um Glauben Von Otto Friedrich, Nr. 1, Seite 1 Ich stimme zu, wenn Otto Friedrich schreibt, mit Benedikt gehe römische Kirchengeschichte zu Ende. Aber keineswegs trifft das auf das europäische Christentum zu! Denn das Seite 13 würde ja bedeuten, dass man diesem Interaktionen mit anderen Kulturen – in und außerhalb Europas – , Öffnung, Aggiornamento usw. abspricht. Das Gegenteil ist der Fall. Ratzinger hat wohl diese Dimension immer verdrängt, wenn überhaupt verstanden. Er war von Angst besetzt. Was manche „vornehme Scheu“ nennen, könnte man auch als Persönlichkeitsdefizit empfinden – als Kommunikationshemmung. Auch Benedikts Publikationen über Jesus halten gegenwärtigen exegetischen Forschungen nicht wirklich stand. Aber jeder Mensch, auch jeder Papst, hat seine Grenzen. Rücksichtsvolle Zurückhaltung ist jedenfalls nicht mehr angebracht, in Zeiten der Synode schon gar nicht. Wie gut wäre es doch, wenn wir uns in verschiedenen Wohnungen im einen Haus Gottes aufteilen könnten. Manche würden wettern, dass es Spaltung sei. Ich würde es für einen Segen halten, damit auch endlich jene in vollen Zügen leben können, die nicht rückwärts schauen. Hermo Alex Reichel via Mail Fundierter Beitrag Hunger ist kein Schicksal Von Lukas Schmidt und Tina Wirnsberger, Nr. 2, Seiten 2–3 Alleine der Titel dieses Beitrags hat mich stark angesprochen, gab es doch Ende der 1970er Jahre eine sehr breite entwicklungspolitische Kampagne unter dem Titel „Hunger ist kein Schicksal – Hunger wird gemacht“. Wie in dem sehr fundierten FURCHE-Beitrag wurden Ursachen aufgezeigt und auf die Gefahren der globalen Strukturen mit Aushöhlung regionaler Landwirtschaft für Eigenversorgung hingewiesen. In den Sozialenzykliken der 90er Jahre wurde von „Strukturen der Sünde“ gesprochen, die zu überwinden seien. Sehr traurig, dass sich seit Jahrzehnten nichts verbessert, sondern nur verschlechtert hat. Die explosive Bevölkerungsentwicklung – auch eine Ursache von Hunger und Not – verschärft das Problem. All das trägt zu der immer stärker spürbaren Fluchtbewegung bei, die nach wie vor nicht an den Wurzeln bekämpft wird. Umso mehr gilt: Stopp dem subventionierten Agrarüberfluss, den mit Steuermittel gestützten Agrarexporten, die eine eigenständige Bodennutzung in den armen Ländern untergraben! Die Steuermittel wären besser in eine „faire Entwicklungszusammenarbeit“ investiert, sonst bleibt Entwicklungshilfe „ein Fass ohne Boden“. Bei der Gelegenheit bedanke ich mich bei der FURCHE-Redaktion für die vielen fundierten Beiträge, wie sie kaum in einer anderen Zeitung zu finden sind. Anton Wintersteller 5201 Seekirchen Am Freitag, dem 20. Jänner den neu restaurierten Prunksaal gratis bestaunen. Lotterien Tag im Prunksaal der Nationalbibliothek Der erste Lotterien Tag des Jahres führt in den neu restaurierten Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in Wien und damit in eine der schönsten und bedeutendsten Bibliotheken weltweit. Die Österreichischen Lotterien laden alle Spielteilnehmer:innen, die am Freitag, dem 20. Jänner 2023 ein Produkt der Österreichischen Lotterien vorweisen, ein, diese barocke Pracht bei freiem Eintritt zu bestaunen. Damit wird an diesem Tag ein Rubbel- oder Brieflos oder auch die Quittung eines beliebigen Wettscheinspiels zur Eintrittskarte. Der Prunksaal kann von 10.00 bis 18.00 Uhr besichtigt werden. Von 11.00 Uhr bis 17.00 Uhr werden außerdem stündlich kostenlose Führungen zur Geschichte des barocken Gesamtkunstwerks und zur Sonderausstellung „Fischer von Erlach und der Prunksaal des Kaisers. 300 Jahre barocke Pracht“ angeboten. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Detaillierte Informationen zu den Lotterien Tagen findet man unter lotterientag.at. 20.01.2023 Lotterien Tag in der Österreichischen Nationalbibliothek Lotterien Tag im beeindruckenden Prunksaal der ÖNB Foto: © Österreichische Nationalbibliothek IN KÜRZE RELIGION •MEDIEN ■ David Seeber (1934–2023) RELIGION ■ P. Albert Gabriel (1936–2023) BILDUNG ■ Ungarn: Erasmus eingefroren Er war von 1966–91 Chefredakteur der Herder Korrespondenz, der nach Kriegsende gegründeten, bis heute relevanten katholischen Monatsschrift in Deutschland. Als Konzilskorrespondent hat sich der gebürtige Südtiroler im deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht – kundig und die vatikanische Insidersprache für Leser(innen) nördlich der Alpen verständlich zu machen, wurde zum Lebenswerk von Seeber – insbesondere in der Herder Korrespondenz. In deren Jubiläumsausgabe 2005 zu 40 Jahre Konzil beschrieb er die Zeitenwende, die auch für die von Rom argwöhnisch beobachteten Journalisten anbrach: Mit Paul VI. habe sich die Lage entspannt: „Journalisten hatten – schwieriges Geschäft – Kirchensprache in Medienvolkssprache, kirchliches Denken in profanes, sagen wir besser Aufnahmevermögen zu übersetzen.“ Als Chefredakteur machte Seeber die Herder Korrespondenz zu einem publizistischen Organ auf der Höhe der Zeit – erst unter seiner Ägide erschienen dort Artikel unter dem Namen des Autors. Daneben veröffentlichte Seeber viel beachtete Bücher übers II. Vatikanum. Er gehörte zu den heute weitgehend verschwundenen Protagonisten einer weltoffenen katholischen Publizistik im deutschen Sprachraum. Ab 1991 war Seeber Grundsatzreferent des Landes Baden-Württemberg. Im Ruhestand lebte Seeber in Freiburg, wo er am 15. Jänner 88-jährig starb. Der Religionspädagoge, Gründer der „Gruft“ in Wien und erster Rektor in der Donaucity-Kirche, ist am 15. Jänner, kurz vor seinem 87. Geburtstag in Mistelbach (NÖ) verstorben. Der gebürtige Oberösterreicher trat bei den Salvatorianern ein und war zunächst in Graz als Jugendseelsorger tätig, bevor er nach Wien kam. Dort war Pater Albert 1983 bis 1995 Pfarrer in Wien-Mariahilf und im Schuldienst als Religionsprofessor und später Religionsinspektor für die AHS tätig. In diese Zeit fiel auch die Errichtung der Obdachloseneinrichtung „Gruft“. 2000-13 war er Kirchenrektor der Kirche „Christus, Hoffnung der Welt“ nahe der UNO-City. Ungarische Medien sprechen von einem „Erasmus-Skandal“: Die EU hat die Fördermittel für das Studenten-Austauschprogramm Erasmus für 21 ungarische Universitäten, die von Stiftungen getragen werden, zunächst eingefroren. Als Gründe führte Brüssel Interessenskonflikte und Korruptionsgefahr an, da in den Kuratorien dieser Unis nicht nur Akademiker, sondern auch namhafte Politiker und regierungsnahe Beamte sitzen. Laut Onlineportal eduline. hu könnte das Ausbleiben der Erasmus-Gelder tausende ungarische Studenten um Auslandsstudien bringen. Erasmus feierte im letzten Jahr seinen 35. Jahrestag.
DIE FURCHE · 3 19. Jänner 2023 Literatur 17 Leicht hat es die zeitgenössische Lyrik nicht, inmitten von Katastrophenalarm und Krawall. DIE FURCHE schenkt ihr Gehör und beginnt eine neue Serie: „ganz dicht“. Von Semier Insayif weiß, was ein Gedicht ist“, so lautet Peter von Matts „Niemand erster Satz in seinem Buch „Die verdächtige Pracht“. Was ist ein Gedicht? Warum scheint es so prächtig? Und weshalb ist es mit ständigem Argwohn belastet und stets unter Verdacht? Woraus besteht ein Gedicht? Und wie kommt es zur Welt, also aufs Papier? Welche Übersetzungsarbeit muss geleistet werden, um ein Gedicht zu schreiben? Wie geartet müssen Materialien, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Emotionen, Inspirationen sein und auf welche inneren Strukturen, Zustände, Verfasstheiten und Verknüpfungen müssen sie in einem Menschen treffen, dass er oder sie Gedichte schreibt oder sie macht oder sie in ihn eingeschrieben werden? aus dem außen ausnehmend hineinnehmen – aus dem innen innerlich herausgeben – mit durch und von allen sinnen hineintransformieren – ins innerste hineinerinnern – aufs äußerste herausveräußern ohne zu wissen wann und wo es begonnen hat – geschweige denn je enden wird durch meinen kopf hindurch – aus meinen gehörgängen heraus – in meine gehörgänge hinein – durch meinen kopf hindurch – aus meinem mund heraus – in meinen mund hinein – durch meinen kopf hindurch – aus dem hirn heraus – von der zunge auf die hand gelegt – übers gehör zurück ins hirn gedrückt – und vom hirn ins herz – und vom herz auf die nackte haut – und von der haut über alle zellmembranen ins mitochondrienkraftwerk der poesie – und wieder retour – und irgendwann dann von der hand zum stift aufs papier? Foto: Lo Fellinger Keine eindeutigen oder allgemeingültigen Aussagen scheinen möglich oder auch sinnvoll. Kann man also über das Schreiben von Gedichten „angemessen“ sprechen? Vielleicht immer nur, wenn man poetisch über Poesie spricht? Oder gerade eben nicht? Allen Widerständen, Gefahren und innerem Zweifel zum Trotz will ich es hier an dieser Stelle versuchen. Wieder und wieder und immer wieder. In der Furche eine Furche, eine Mulde zu graben. Spuren zu hinterlassen und den Spuren auf der Spur zu sein. Vielleicht gelingt das, indem einzelne Gedichtbände genauer betrachtet, sie ins Gespräch gebracht werden, sodass sie wahrgenommen, gelesen und diskutiert werden können. 2022 habe ich die redaktionelle Arbeit und Moderation der Veranstaltungsreihe Dicht-Fest in der Alten Schmiede in Wien von Christine Huber übernommen, die dieses wunderbare Format viele Jahre lang auf so produktive und poetische Weise geprägt hat. DIE FURCHE hat mich eingeladen, diese Reihe mit der Vorstellung der dort präsentierten Bücher jeweils drei Wochen vorab zu begleiten. Ab nächster Woche werden Sie unter der Rubrik „ganz dicht“ kurze Hinweise auf jene Bände finden, die am 14. Februar Thema des Dicht-Festes sein werden. Mit zwei besonderen Gedichtbänden, die im Rahmen dieser Veranstaltung im vergangenen Jahr vorgestellt wurden, möchte ich diese Serie heute beginnen. Mensch und Natur Zum Beispiel der Gedichtband „Hecken sitzen“ (Limbus) von Maria Seisenbacher. Wer sich fragt, was es mit dem Begriff „Hecken“ auf sich hat, der wird gleich am Beginn des Gedichtbandes fündig. Dort heißt es: „Heckensitzerinnen wurden alte Frauen genannt, welche die Macht besaßen, Was ein Gedicht ist Verbindung mit der Anderswelt herzustellen.“ Diese Gedichte ertasten und erforschen innere Verbindungslinien von Mensch und Natur. Auch um zu fragen, was denn Natur eigentlich sei. Was die Natur des Menschen? Und wie geartet ihre Beziehung zueinander? Und sie tun das mit poetischen Mitteln, die dem Dunklen, der Nacht als Symbol des Magischen, als Übergang von Licht und Nichtlicht nachspüren. Bis hin zur mahnenden Angst vor einer endgültigen Zerstörung einer Welt, der man sich nie sicher sein kann, auch wenn sie grundsätzlich eine Beheimatung als Möglichkeit in Aussicht stellt. „alles drängt zur Landschaft –“ heißt es da zum Beispiel in einem Gedicht. Alles drängt in diesem Gedichtband zu den Grenzen und zu Grenzerfahrungen, zu den Zwischenbereichen eines Seins und von Existenz an sich. Dorthin, wo man nicht sieht, sondern fühlt. Als wären Buchstaben die Rillen der Haut, als wären Worte Fingerkuppen, die langsam das Dunkel berührten. Als wären Gedichte Hände oder Fühler, mit denen man Geheimnisse zu untersuchen weiß. Es sind oft sehr kurze Gedichte. Alle ohne Titel. Jeweils auf einer Seite. Ganz für sich allein. So treffen sie ohne Vorbereitung auf die Augen der Leser und Leserinnen. Es sind Gedichte, die in ihrer Kürze und Stille große Weite erzeugen und mit ungewöhnlichen oder leicht verschobenen Blicken, das Innen und das Außen ineinander übergehen lassen und verweben. In der Mitte des Gedichtbandes sind zehn rechteckige Holzschnitte von Isabelle Peterhans zu sehen, die mit der Lichtund Schattenhaftigkeit der Gedichte korrespondieren. Gedichte zwischen Natur und Körper. Gedichte als Natur und Körper. So heißt es: „es gibt Tage / die nahtlos übergehen in Haut“, Gedichte, die nahtlos ins Innere von Lesern und Leserinnen gelangen, die gewillt sind, sich verzaubern zu lassen. Semier Insayif Der Lyriker wird in der FURCHE in der neuen Serie „ganz dicht“ jeweils drei Wochen vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (14.2., 15.6., 12.10., 05.12.) zeitgenössische Lyrik vorstellen. „ Als wären Buchstaben die Rillen der Haut, als wären Worte Fingerkuppen, die langsam das Dunkel berührten. “ Im nächsten Gedichtband gilt es Fäden aufzugreifen und einzufädeln. Timo Brandt lotet in „Nicht nochmal Legenden“ (edition keiper) aus, was Sprache sein könnte und was ein Gedicht. Und dies vollzieht er mit präziser Ungezügeltheit, mit einem unvorhersehbaren Wechsel von Leichtigkeit und Schwere und entgegen jeder poetischen Legendenbildung. In drei Kapiteln mit 58 Gedichten und einem Zyklus wird immer wieder Sprache mit Sprache reflektiert. Oder sollte ich schreiben: Sprache in Sprache? Nicht dass es Antworten gäbe oder sie leichtfertig angeboten würden, doch die Suche danach mit sprachlichen Mitteln ist allgegenwärtig. Da heißt es zum Beispiel: „Die Gedichte sind nicht wahr, / doch alles andere ist gelogen.“ Was für zwei Verszeilen, die ein Erkenntnispotenzial ungeahnten Ausmaßes in sich tragen. Allein dafür schon ist dieser Gedichtband ein Geschenk. Dichtung als Aufzug Alltagssprache und poetisch reflexive Sprache oder eine, die erkenntnistheoretischen Gestus signalisiert, wechseln sich ab oder vermischen oder durchdringen sich gegenseitig. Das führt zu Überraschungen und produktiv ungewöhnlichen Bildern, die auch die Poesie selbst und Gedichte an sich betreffen. „Gesteht mir zu: Ich sage, dass die Dichtung / ein von Gewichten betriebener Aufzug ist.“ Es gibt Gedichte mit Titel und ohne Titel, kürzere und längere und selbst Groß- und Kleinschreibung wird nicht durchgehend verwendet. So findet sich ein Gedicht, das ausschließlich in Kleinschreibung abgedruckt ist. Die Freiheit der Variabilität scheint mit Sprachlust, Untersuchungsgeist und Witz gepaart. So gilt es also die Einladung anzunehmen, die Flexibilität des eigenen Geistes zu aktivieren und die sprachlichen Fäden aufzugreifen und einzufädeln, denn, wie an einer Stelle zu lesen ist: „ungestört gibt es nichts zu verstehen.“ Der Autor lebt als freier Schriftsteller in Wien. Zuletzt erschien: „ungestillte blicke“ (Klever 2022). Dicht-Fest 14. Februar, 19 Uhr Alte Schmiede, Wien alte-schmiede.at Hecken sitzen Gedichte von Maria Seisenbacher Limbus 2021 96 S., geb., € 15,– Nicht noch mal Legenden Gedichte von Timo Brandt, keiper 2013 80 S., kart., € 16,50
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