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DIE FURCHE 18.07.2024

DIE

DIE FURCHE · 29 20 18. Juli 2024 Von Manuela Tomic MOZAIK Schwesterherz Als Mutter jung und ich ein schreiendes Baby war, war meine große Schwester mein Herz und Hirn. Wenn sie sich aus dem Haus schleichen und zu ihren Freundinnen wollte, lief Mutter ihr nach und legte ihre Hand in meine. Wenn ich wie ein Äffchen brüllte, nahm Schwester mich auf den Schoß und ertrug mein Gespucke. Sie spielte Vater und Mutter, ich immer das Kind. Seit meiner Kindheit blicke ich zu ihr auf und versuche, mich durch Angeberei und Plapperei auf ihrer Augenhöhe zu halten. Unlängst traten wir gemeinsam aus einem Café auf die Straße, da fuhr meine Schwester mit Lichtgeschwindigkeit ihren Fangarm aus. Wie so oft verhinderte sie, dass ich weltvergessenes Kind in ein hupendes Auto krachte. In der folgenden Nacht träumte ich, dass ich keine Arme hatte. Ich saß am Computer und wollte schreiben. Hals über Kopf begannen die dünnen, langen Finger meiner Schwester zu tippen. „Wehe, du erwähnst mich in deinen Lügenmärchen“, las ich am Schirm und sabberte: „Liebes Schwesterchen, schon zu spät!“ FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic ist in Sarajevo geboren und in Kärnten aufgewachsen. In ihrer Kolumne schreibt sie über Kultur, Identitäten und die Frage, was uns verbindet. Die Kolumnen gibt es jetzt als Buch! Illu: RM Von Andrea Krieger Vielleicht war Josef Eisemann im Geiste schon ein paar Schritte weiter, beim tosenden Schlussapplaus. Die abendliche Darbietung an jenem 17. Juli 1949 war jedenfalls so gut wie zu Ende. 115 Meter Seilgang über den Donaukanal hatte der 37-jährige Artist Josef mit der auf den Schultern sitzenden Tochter Rosina bereits absolviert. Ganze fünf Meter fehlten noch, doch an diesem Tag waren es fünf Meter zu viel. Vor den Augen der Familie und tausenden Zuschauern und Zuschauerinnen stürzten der Mann im weißen Anzug und seine rothaarige Tochter 40 Meter in die Tiefe, schlugen hart am Treppelweg auf und starben kurz darauf. Der kollektive Aufschrei des Publikums bei der Urania drang bis zum Turmwächter des Stephansdoms, berichteten die Zeitungen. Einen Hinweis an der Unfallstelle sucht man dort, wo der Wienfluss in den Donaukanal mündet, dennoch vergeblich. Man findet lediglich eine beliebte Strandbar. Der Wiener Historiker und Stadtforscher Peter Payer hat das in Vergessenheit geratene Stück Stadtchronik akribisch rekonstruiert. Sein Fazit: „Von allen Geschichten, mit denen ich mich beruflich befasst habe, ist diese für mich wohl die bewegendste und emotionalste, auch weil ich selber eine Tochter habe.“ Das Talent in den Genen Josef Eisemann war kein Unbekannter in der Artistenszene. Der deutschsprachige Donauschwabe, der aus dem heute serbischen Novi Sad stammte, hatte die Hochseilakrobatik obendrein im Blut: Schon der Großvater Arthur Strohschneider und dessen Vater waren berühmte Seiltänzer. Hinzu kam, dass der Artisten-Großvater auch noch die Erziehung des kleinen Josef übernahm, nachdem der eigene Vater im Ersten Weltkrieg gefallen war. Eisemann feierte bereits internationale Erfolge als Seiltänzer und Stuntman, da machten ihm der Zweite Weltkrieg, die Kriegsgefangenschaft und ein Neubeginn der Familie im zerbombten Wien einen Strich durch die Rechnung. In Wien verdiente er mehr schlecht als recht in seinem Zivilberuf als Schneider, trainierte aber nebenbei akribisch auf Hausdächern. An jenem Julitag vor 75 Jahren war Eisemann bereits einen Monat immer wieder auf dem Seil zwischen der (damals) Unteren Donaustraße 31 auf Leopoldstädter Seite und dem ehemaligen Sitz der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft auf der Landstraßer Seite des Donaukanals unterwegs. Er selbst hatte das Projekt initiiert, sich um die passenden Häuser zum Anbringen des Drahtseils gekümmert und die behördlichen Genehmigungen eingeholt. Bei Windstille und gutem dem Wetter waren Nachmittags- und Abendvorstellungen vorgesehen. Wohlweislich ohne Netz, denn ein größerer Nervenkitzel lockte auch mehr Menschen an. Und deren massenhaftes Eintrittsgeld – pro erwachsene Person erschwingliche 1 Schilling – konnte die vierköpfige Familie gut brauchen. Auch für Abwechslung am Seil war gesorgt. Auf dem „ Für die Vorstellung am schicksalhaften 17. Juli fragte Eisemann im Publikum nach Freiwilligen, die sich auf seinen Schultern über den Donaukanal tragen lassen würden. “ Josef Eisemann sorgte im zerbombten Nachkriegswien mit seinen Auftritten für das ganz große Spektakel. Vor 75 Jahren bezahlte der Ausnahmeartist dafür mit dem Leben. Aufstieg und Fall des Herrn Eisemann Programm stand ein „Abendtisch“ oder der Ein-Bein-Stand ebenso wie Kunsttücke mit Rad. Für die Abschlussvorstellung am schicksalhaften 17. Juli hatte sich Eisemann eine besondere Attraktion ausgedacht. Er fragte im Publikum nach Freiwilligen, die sich auf seinen Schultern über den Donaukanal tragen lassen würden. Wie vorher abgemacht meldete sich seine artistisch begabte 16-jährige Tochter Rosina. Allerdings stand der Seilgang laut Stadtforscher Peter Payer von Anfang an unter keinem guten Stern. Jene Unsicherheiten, die der Akrobatenfamilie Nachdem der Vater im Ersten Weltkrieg gefallen war, übernahm der Großvater Arthur Strohschneider, selbst ein Artist, die Erziehung des kleinen Josef. Showman Eisemann zur Erhöhung der Spannung vorzutäuschen pflegte, waren diesmal echt. Zum menschlichen Versagen führten mehrere Faktoren. So hatte Eisemann bis um vier Uhr früh an einer Feier teilgenommen – wenn auch ohne Alkoholkonsum. Dadurch fiel ihm schon die einstündige Nachmittagsvorstellung schwerer als sonst. Der Masseur wiederum wusste danach zu berichten, dass Eisemann insbesondere die rechte Seite ausgiebig bearbeitet haben wollte. Die Tageszeitung „Neues Österreich“ schrieb, dass ein Krampf im rechten Arm zum Fallenlassen der 30 kg schweren Balancierstange geführt habe. 50 weitere Kilogramm kamen durch die Tochter hinzu. Zudem wollen Augenzeugen beobachtet haben, dass Rosina von Anfang an schief gesessen war. Andere wiederum gaben an, sie sei vor dem Auftritt bei der Ankunft mit dem Boot ins Wasser gefallen, sei dementsprechend durchnässt gewesen und habe gefröstelt. Eine Artistin im Publikum soll sich noch angeboten haben einzuspringen, Rosina habe dies jedoch entschieden abgelehnt. Einer, der das Unglück als Vierjähriger miterlebte, ist der 2022 verstorbene Regisseur Peter Patzak. Das Ereignis hat ihn nie wieder loslassen. „Peter sprach oft über diesen Vorfall“, sagt sein Sohn Fabian Erik Patzak. Peter Patzak schrieb einen Roman darüber und plante sogar einen Film, was laut Sohn aber an der Finanzierung scheiterte. Ein zweiter prominenter Augenzeuge sah zwar nicht Foto: picturedesk.com / ÖNB-Bildarchiv / Leo Ernst den Absturz, sehr wohl aber einen Seilgang davor. Der Schriftsteller Peter Henisch, 80, besuchte als Fünfjähriger mit Vater Walter Henisch das Spektakel. „Mein Vater wollte sich auch selbst einmal von Eisemann über den Donaukanal tragen lassen“, erzählt der Autor im Interview. Der Pressefotograf und Fotoreporter plante aus dieser Perspektive spektakuläre Fotos zu schießen, bekam aber keine behördliche Genehmigung. In Peter Henischs 1975 erschienenem Buch „Die kleine Figur meines Vaters“ geht es um die Geschichte seines Vaters Walter Henisch, der zuerst für die Nazis und nach dem Krieg für sozialdemokratische und kommunistische Medien gearbeitet hat. Erwähnt wird darin auch die Begegnung mit Eisemann. Im Zuge eines feuchtfröhlichen Hintergrundgesprächs mit Walter Henisch offenbart der Artist dort ein Stück weit jenes magischen Denkens, das wohl vielen Extremsportlern eigen ist. Im Buch liest sich das so: „Ich brauche nur ruhig Blut bewahren, ob ich dann allein übers Seil gehe oder meine Tochter hinübertrage oder meinetwegen dich, ist ganz egal…. solange die Balancestange – und die Balancestange ist natürlich auch der Gradmesser meiner inneren Balance – waagrecht bleibt, brauche ich nichts anderes zu machen, als einfach hinter ihr herzugehen, denn die Balancestange führt mich.“ Würdige letzte Ehre Josef und Rosina Eisemann wurden am Zentralfriedhof begraben. Immerhin kam die Stadt Wien für das Begräbnis auf, das äußerst gut besucht war. Zeitgleich wurde am Donaukanal das leere Seil ein letztes Mal beleuchtet, mit Musik, wie bei den Aufführungen üblich. Für die Familie wurde ein Spendenkonto errichtet. Der Sohn konnte gerade noch daran gehindert werden, sich infolge des Unglücks das Leben zu nehmen, die Ehefrau erlitt einen Nervenzusammenbruch und erfing sich lange nicht.

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