DIE FURCHE · 28 11. Juli 2024 n vielen Medien wird verstärkt dafür Wien erhalten bleiben muss“. Hier wird übersehen, dass ein Hub definitionsgemäß der Ver- geworben, statt kurzer Flüge am Tagesrand Nachtverbindungen per Bahn zu schränkung von Kurz- und Mittelstrecken mit nützen. Die enorme Preisdifferenz zwischen Flug und Schlafwagen sei hier ein- die Zubringer, um rentabel zu sein, und umge- Langstrecken dient. Die Langstrecke braucht mal außer Acht gelassen (fairerweise sollte kehrt. 2018 sind 73 Prozent der Passagiere eines AUA-Kurzstreckenfluges bis zu 400 Kilo- man beim Vergleich immer mit dem Preis des Single-Schlafwagens kalkulieren; schließlich meter in Wien umgestiegen. Die Langstrecke übernachtet man ja auch sonst nicht mit einem fremden Mitbürger im Hotelzimmer). Ein genutzt, bei Osteuropa-Verbindungen sogar zu wird zu 55 Prozent von Umsteigepassagieren genauer Blick zeigt aber, dass die Ankunftszeiten der Züge für den Geschäftsreisenden 65 Prozent. und für den im Kulturbetrieb Stehenden nur beschränkt praktisch sind (von Wien nach Amsterdam 11.01 Uhr, Hamburg 8.47 Uhr, Warschau 8.52 Uhr; besser: Köln 7.03 Uhr, Mailand 7.20 Uhr). Den Vogel schießt Brüssel ab mit 10.35 Uhr. Es ist eine Umsteigeverbindung! Aber welches Hotel ist vor zehn Uhr Planyavsky Von Peter bereit zum Check-in? Direkt aus dem Schlafwagen zur Konferenz, zum Vortrag, zur Probe? Schon möglich, aber äußerst unbequem. Es gehört auch nicht viel dazu, Flüge zwischen Wien und München als unnötig einzustufen. Allerdings lässt man dabei außer Acht, dass es sich hier überwiegend um Zubringerverkehr handelt (2021: 80 Prozent). Da wird dann rasch eingewendet, dass auch für diesen Zubringerverkehr die Bahn vorzuziehen wäre. Aber selbst wer in Wien sehr früh in den Zug steigt, erreicht eine ganze Reihe von Langstreckenflügen in München nicht. Für Frankfurt und Zürich ist die Lage noch ungünstiger. Und wie sich die Dinge in der anderen Richtung darstellen, wird erst recht kaum wahrgenommen. Wer etwa am Konfrontiert man einen Flugschämer mit Vormittag von Kalifornien in Frankfurt ankommt, hat ja nicht nur den langen Nachtflug reise schlau zur Reise verbogen. „Da nehme diesen Beobachtungen, wird die Geschäfts- hinter sich, sondern auch noch fast den ganzen ich mir einfach mehr Zeit und fahre eben am Tag davor am Abflugsort. Man ist seit 20 Stunden in den Kleidern, und es ist nicht nur „ein gen für Bahnreisen merkt man an, dass ter- Tag davor hin.“ Auch den medialen Vorschlä- bisschen unbequemer“, ob man dann noch acht minliche Enge nicht im Blick ist. „Es war gar Stunden nach Wien braucht statt zwei. nicht einfach, einen Termin mit günstigem Tarif / einen Schlafwagenplatz zu finden“, liest Mit hundert Schlafwagen nach Brüssel man da etwa. Das ist aber nicht die Situation In diesem Kontext erinnert man sich an eines beruflich Reisenden; meistens kann er die Diskussionen über das Geschick der AUA die Reise auch nicht einfach „irgendwann“ antreten. Über Urlaubs- und Vergnügungsreisen und ihr Überleben in der Pandemie. Da wurde als Bedingung für frisches Geld die Einstellung von Kurzstrecken gefordert. Oft for- Nochmals Brüssel: Angesichts der Reise- sollte man tunlichst gesondert diskutieren! derten aber dieselben Ratgeber, dass „der Hub dichte jedweden EU-Personals ist es absurd, Der Zusammenschluss war ein Coup des Gründers der Linkspartei La France insoumise (dt.: Unbeugsames Frankreich), Jean-Luc Mélenchon. Das Nupes-Bündnis zerstritt sich in den letzten Monaten allerdings gründlich, insbesondere wegen des propalästinensischen Kurses der Linkspartei und des Auftretens von Mélenchon. Trotz alldem wurde das neue Linksbündnis Nupes bei der Stichwahl für das Parlament vergangenen Sonntag überraschend stärkste Kraft. Und das ist nicht zuletzt auch der umstrittenen Figur Mélenchon zu verdanken. Der 72-Jährige ist seit Jahrzehnten eine feste Größe in der französischen Politik. Zunächst war er Mitglied der Sozialistischen Partei (PS) und hatte vorübergehend auch einen Ministerposten inne. Dreimal kandidierte er für das Präsidentenamt und verbesserte jedes Mal sein Ergebnis. Im Jahr 2022 belegte er Platz drei, knapp hinter Marine Le Pen vom rechtsnationalen Rassemblement National (RN). Mélenchon, erklärter Bewunderer des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro, ist eine dass es ausgerechnet dorthin keinen durchgehenden Schlafwagen gibt. Aber wie viele Schlafwagen müssten denn verkehren, um wenigstens einen Großteil jener rund 840 Menschen zu befördern, die jeden Tag in den sieben Flugzeugen nach Brüssel reisen? In wie vielen Zügen? Und nach Köln, Zürich oder Hamburg? Gewiss, man kann Ankauf und Einsatz von hunderten Schlafwagen planen, und man kann sich europaweit darauf einigen, dass Konferenzen, Interviews und Proben immer erst zu Mittag beginnen. Vorläufig würde ein Verbot von Kurzstreckenflügen an der Praxis scheitern. Ein Mittel, sie zumindest einzudämmen, wäre die Tarifgestaltung: Ein Punkt-zu-Punkt-Flug von unter 600 Kilometern müsste extrem verteuert werden; wird hingegen ein Anschlussflug dazugebucht, mögen die heute üblichen – ohnehin weit aufgefächerten – Preise gelten. Vermeintliche Verkehrsexperten Auch aus anderen Gründen kommt ein Verbot der Kurzstreckenflüge kaum infrage. Für Reisen vom Typ Neapel–Göteborg oder Sevilla– Danzig wird es – allein schon aus kommerzieller Sicht – nie Nonstop-Flüge geben; man wird immer zwei Kurz- bzw. Mittelstreckenflüge über einen Hub brauchen. (Übrigens: 134 der europäischen Flughäfen, das sind 25 Prozent, befinden sich auf Inseln.) Mehr Sicht auf die Realität der beruflich Reisenden wäre wünschenswert – wie auch ein wenig Zurückhaltung jener, die sich gar nicht auskennen. Schrieb da einer: „13 Stunden von Buenos Aires nach Frankfurt? Das kann man doch sicher schneller machen.“ Und ein anderer: „Muss man wirklich von Schwechat über Frankfurt nach Hamburg fliegen, um nach Bremen zu kommen?“ Zum Schluss noch die Antwort eines vermeintlichen Verkehrsexperten auf die Frage, wie oft man seiner Meinung nach fliegen „dürfe“: „Dreimal pro Jahr.“ Ob da Innsbruck oder Singapur gemeint war, wurde jenen, die sich bereitwillig flugschämen würden, leider vorenthalten. Der Autor ist weitgereister Organist, Dirigent und Komponist. der am stärksten polarisierenden Figuren in der französischen Politik. Er plädiert etwa für eine Reichensteuer und den Austritt aus der NATO. Kritiker beschuldigen ihn des Antisemitismus. Er bestreitet diese Vorwürfe. Der in Marokko geborene Mélenchon war im Alter von elf Jahren nach Frankreich gekommen. Seine Familie zählt zu den Pieds-noirs, den europäischen Siedlern in Nordafrika. Schon als Literatur- und Philosophiestudent engagierte er sich in einer trotzkistischen Organisation. Mit der Gründung seiner eigenen Partei La France insoumise 2017 schuf Mélenchon sich eine Bühne. Während er mit Blick auf Frankreich eine ausgabenfreudige Sozialpolitik vertritt, zeigt er sich außenpolitisch vor allem EU- und NATO-skeptisch. Er erregte zudem immer wieder Aufsehen durch seine unkritische Haltung zu südamerikanischen Machthabern wie dem früheren venezolanischen Staatschef Hugo Chavez und zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Sozialist Raphaël Glucksmann und Marine Tondelier von den Grünen gelten deshalb längst als aussichtsreichere Kandidaten, um den Führungsposten des linken Bündnisses zu übernehmen. Sie könnten Mélenchon bald den Rang ablaufen. (Manuela Tomic, APA) 14.000 Menschen schauen auf dem Wiener Rathausplatz das EM-Spiel von Österreich und der Türkei. Nachdem sich die Fans beider Länder in Rot kleiden, kann man die Zugehörigkeiten zuerst nur daran erkennen, wer ein Bier in der Hand hält. Und schon nach einer Spielminute daran, wer das 1:0 der Türken bejubelt. Vor dem Zuspitzer stehen zwei türkische Fans, die ihre Freude unterdrücken. Einer scheint dem anderen zu deuten: „Leise sein!“ Ein Zeichen des Respekts oder der Vorsicht, umzingelt von tausenden Österreich-Fans. Passend dazu formt er die Hand zum pädagogisch bekannten Schweigefuchs. Als der türkische Nationalspieler Merih Demiral sein zweites Tor ebenfalls mit einem lehrerhaften Schweigefuchs bejubelt, dämmert dem Zuspitzer: Das ist ein Wolf im Fuchspelz! Der Schweigefuchs war eigentlich der rechtsextreme, türkische Wolfsgruß. Auch beim letzten Türkei- Spiel vergangenen Samstag grüßte so mancher im Stadion mit dem Wolf – vielleicht ja den anwesenden türkischen Präsidenten Erdoğan. Grotesk das Bild: Türkische Fans huldigen ihrem Beinahe-Autokraten mit einem rechtsradikalen Gruß – auf deutschem Boden. Der nächste Skandal ist freilich, dass sich irgendwelche Nationalisten UNSEREN Schweigefuchs kulturell aneignen. Was kommt als Nächstes? Erdoğan in Lederhose? Philipp Axmann Der 72-jährige Jean-Luc Mélenchon ist Chef der Linken und eine der am stärksten polarisierenden Figuren in der französischen Politik. DIE FURCHE · 26 27. Juni 2024 Das Gespräch führte Philipp Fritz ichael Wolffsohn gilt als einer der renommiertesten deutschsprachigen Nahostexperten. 2018 wurde der Historiker und Publizist, der in Tel Aviv geboren wurde und in der israelischen Armee diente, mit dem Franz- Werfel-Menschenrechtspreis der „Stiftung Zen trum gegen Vertreibungen“ ausgezeichnet. Im Interview mit der FURCHE geht er mit der westlichen Berichterstattung über Israel hart ins Gericht, erklärt, warum der Krieg mit und ohne Benjamin Netanjahu weitergehen wird und inwiefern er die internationale Gemeinschaft in die Pflicht nehmen würde. DIE FURCHE: Herr Wolffsohn, der Krieg in Gaza, Unruhe im Westjordanland, ein aggressiver Iran und eine entlang unterschiedlicher Fragen zunehmend gespaltene Gesellschaft: Haben Sie den Staat Israel je in einer derart bedrohlichen Lage gesehen? Michael Wolffsohn: Man werfe die außen- und innenpolitischen Bedrohungen nicht in einen Topf. Beide sind existenziell, aber nur teilweise miteinander verwoben. Freilich behaupten viele, die Hamas und der Islamische Dschihad hätten am 7. Oktober 2023 ihre Mord- und Blutorgie gegen Israel gestartet, weil die innerisraelische Polarisierung so dramatisch war. Als ob jemand die Entscheidungsvorgänge der Hamas so genau kennt. Die innenpolitische Polarisierung zwischen Religiösen und Nichtreligiösen ist nicht neu. Weil die Religiösen inzwischen so zahlreich sind, greifen sie nach mehr Macht – und die Nichtreligiösen wehren sich. Ein normaler Vorgang in Demokratien. Der Kampf um oder gegen die starke Stellung des Obersten Gerichts ist auch kein allein israelisches Phänomen; Stichwort Polen, Ungarn oder auch die USA. Projiziert und personalisiert werden alle innen- und außenpolitischen Probleme Israels auf eine Person: Benjamin Netanjahu. Für die einen ist er der Teufel, für die anderen der „König Israels“. Beides ist gleichermaßen übertrieben, entfaltet aber eine Eigendynamik. Sobald Netanjahu durch Wahlen oder partei intern entmachtet ist, wird sich die innenpolitische Front beruhigen. Nicht aber die außenpolitische. Für die Hamas, den Islamischen Dschihad, die libanesische Hisbollah, Irans syrische Marionette Assad, die proiranischen Milizen im Irak und die Huthis im Jemen sowie vor allem deren Patron Iran ist jeder Israeli gleich verhasst. Israel kämpft daher derzeit an sieben Fronten: Gaza, Westjordanland, Libanon, Syrien, Irak, Jemen, Iran. Es geht um Sein oder Nichtsein. Ja, daher ist Israels Lage so bedrohlich wie 1948, zur Staatsgründung. Mit einem fundamentalen Unterscheid, den die Feinde Israels offenbar vergessen. DIE FURCHE: Worin liegt dieser Unterschied zu 1948? Wolffsohn: Israel besitzt Atomwaffen. Wenn Israel untergeht, geht der ganze Nahe Osten unter. Man nennt das den „Samson- Effekt“ – wie Samson im Alten Testament, der alle Philister mit in den Tod riss. DIE FURCHE: Jetzt hat die Hisbollah im Libanon Israel auch noch mit großflächigen Raketenangriffen gedroht. Die israelische Armee hat ihrerseits einen Einsatzplan für eine mögliche Offensive im Libanon genehmigt. Droht eine weitere Eskalation an Israels Nordgrenze? Wolffsohn: Ja, wenn die im Auftrag des Iran angreifende Hisbollah nicht sehr bald die Bombardierungen Nordisraels einstellt. Der Norden Israels ist nämlich Der Historiker Michael Wolffsohn lehrte bis 2012 an der Universität der Bundeswehr in München. fast vollständig evakuiert. Es gibt ihn nur noch geografisch. DIE FURCHE: Sie sprachen bereits das Massaker vom 7. Oktober 2023 an. Wie wirkt dieses Pogrom in der israelischen Gesellschaft nach? Wolffsohn: Erstens herrscht wieder ein Fundamentalkonsens: Es gehe ums nackte Überleben. Oder zumindest um die Wiederherstellung eines ganz normalen, gewaltfreien Alltags. Vergessen wir nicht, dass ungefähr 120.000 Israelis aus dem Norden des Landes sowie knapp 100.000 am Gazastreifen seit Oktober 2023 ihre Ortschaften verlassen haben. Zweitens erkennt man in allen Lagern gleichermaßen erschreckt: Man hat die Hamas militärisch dramatisch unterschätzt und sich selbst ebenso dramatisch überschätzt. Krieg gegen Partisanen und Terroristen, die aus dem eigenen Zivil heraus kämpfen und sich dorthin wieder zurückziehen ist militärisch, „handwerklich“ am schwierigsten. Es kommt hinzu, dass Partisanen, wie die Hamas, scheinbar Zivilisten sind. Also aussehen wie Zivilisten, ohne dass sie Zivilisten sind. Daher ist jeder tote Palästinenser scheinbar ein Zivilist. Der echte ist vom scheinbaren Zivilisten nicht unterscheidbar. Dadurch ist der politische Schaden riesig. Für denjenigen, der solche Partisanen bekämpft, um das eigene Zivil zu schützen. Vor neuerlichen Blutorgien und vor dem Hamas- Raketenhagel. Das bedeutet jenseits des Traumas und der dadurch bedingten fundamentalen Verunsicherung: Israel muss seine Militärdoktrin erweitern. DIE FURCHE: Was heißt das konkret? Wolffsohn: Es gilt, ein Konzept zu entwickeln, wie man die Mischform von Antipartisanen- und Antiterrorkrieg mit einem Krieg gegen den Protektor der Partisa- Lesen Sie die Analyse des Völkerrechtlers Ralph Janik, der auf die „doppelte Verhältnismäßigkeit“ hinweist (6.12.23), auf furche.at. Der israelitische Held Samson gewinnt seine Kraft zurück und bringt den Tempel von Dagon zum Einsturz – und geht letztlich mit seinen Gegnern unter. Die israelische Bezeichnung für ein nukleares Abschreckungsszenario im Sinne einer massiven Vergeltung lautet daher „Samson- Effekt“. nenterroristen – den Iran – gleichzeitig führen und gewinnen kann. DIE FURCHE: Israel wurde überfallen. Doch aufgrund der Art und Weise des Gegenschlages hält sich in westlichen Gesellschaften, in Europa und Nordamerika, die Solidarität mit Israel mehr und mehr in Grenzen. An Universitäten gibt es sogar antisemitische Ausbrüche, auf den Straßen Massenproteste. Wie erklären Sie sich das? Wolffsohn: Es herrscht eine abgrundtiefe Ahnungslosigkeit über den Kern des Konfliktes zwischen Palästinensern und Israel. Wer behauptet, Israels Existenz sei dem westlichen Kolonialismus geschuldet, hat von Geschichte und der Politik des Zionismus und des Westens keine Ahnung. Die Paarung von Ignoranz – auch wissenschaftlich verkleidet – und Arroganz ist überall und immer hochgefährlich. Und selbst mehr Wissen bedeutet nicht automatisch besseres Verstehen. Viele sammeln nämlich Wissen, um es à la carte wie im Gasthaus zu FORTSETZUNG AUF DER NÄCHSTEN SEITE 19 · 8. Mai 2024 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 80. Jg. · € 6,– Neos – und werfen damit sinnvolle digitale Tools mit jenen Apps in einen Topf, die uns zu ihren Werkzeugen machen. Ein einfacher Selbsttest unterscheidet zwischen Software und Suchtmittel: Wieviel Spaß bringt die Banking-App Ihres Vertrauens – und wieviel Instagram? Für die Kinder- und Jugendanwältin Denise Schiffrer- Von Magdalena Schwarz Barac ist ein Smartphone-Verbot an Schulen „zu kurz gedacht“. Schließlich sei das as Wort „Matura“ geht zurück tisierte Zombies stundenlang vor den Bildschirmen. Die Einsicht unserer kollektiven Umgangsformen. Damit hat sie recht. Auch Handy nicht der einzige Grund für verrohte auf den lateinischen Begriff maturus, der „reif“ bedeutet. Abhängigkeit ist der erste Schritt zur Besserung. Der zweite ist die Erkenntnis, dass sind meist nur ein Teil eines komplexen Suchterkrankungen wie Alkoholismus Doch wie sich diese Reife definiert, hängt von der Welt ab, in Entzug keine Frage der Disziplin ist. Netzwerks an Problemen. Dennoch: Was ist der wir leben. Und die ist dank der technologischen Revolutionen des vergangenen „Sie müssen sich damit abfinden“ handlungsschritt? Der körperliche Entzug. für alkoholkranke Menschen der erste Be- Jahrzehnts eine andere. Ausdrucksfähigkeit und logisches Denkvermögen, unter Kampf gegen die Technodrogen nicht ausmen muss die Schule der erste Ort sein, an Weil die menschliche Willenskraft im Wie bei vielen gesellschaftlichen Proble- Beweis gestellt in den Prüfungsfächern reicht, hat eine Mittelschule im amerikanischen Connecticut eine schlichte Lösung men sich Gewohnheiten und Haltungen, die dem wir zu einer Lösung ansetzen. Hier for- Deutsch, Englisch und Mathematik, sind nach wie vor unabdingbar. Aber sie sind eingeführt: Beutel mit magnetischer Verriegelung, in die die Kinder morgens ihre als die Befähigung junger Menschen, sich ein Leben überdauern. Es geht um viel mehr wertlos, solange Smartphones unsere Willensfreiheit kapern. Dagegen muss sich das Handys sperren und aus denen sie sie erst wieder auf Differenzialgleichungen und Schulsystem endlich geschlossen wehren. nach Schulschluss wieder herausholen. Die Gedichtanalysen zu konzen trieren. Einige Menschen sind erschreckend manipulierbar – Kinder, Jugendliche und Erwachsene. tierten. „Sie müssen sich damit abfinden“, larisieren Debatten, manipulieren Wahlen Jugendlichen tobten, einige Eltern protes- Technologien radikalisieren Menschen, po- Der ehemalige Google-Mitarbeiter Tristan bemerkte der Schulleiter trocken. Die Ergebnisse: mehr Aufmerksamkeit im Unterricht uns narzisstischer, einsamer und depressi- und lassen Konflikte eskalieren. Sie machen Harris vergleicht Apps mit Spielautomaten: Sie kidnappen die Belohnungszentren im und persönlicher Austausch, weniger Onlinemobbing. Etwa 2000 US-Schulen nutz- der wir dringend eine wache, wehrhafte junver. Sie narkotisieren uns in einer Welt, in Gehirn. Ein beschämend triviales Beispiel ist der 2006 erfundene infinite scroll: Klickte man sich früher noch von Google-Seite Hierzulande fordert auch der steirische te, wieder Herrin und Herr seiner Sinne zu ten die Sperrbeutel im vergangenen Jahr. ge Generation brauchen. Reife bedeutet heu- eins zu zwei, so liefern Suchmaschinen und VP-Bildungslandesrat Werner Amon ein werden. Smartphones müssen raus aus der soziale Medien heute eine niemals endende Handyverbot an Pflichtschulen. Die Gegenstimmen sind laut, ihre Argumente aber tenspieler in unseren Hosentaschen ist eine Schule. Dieser Kampf gegen die Marionet- Content-Flut. So einfach ist es also, die Krone der Schöpfung auszutricksen: Entferne leicht adressiert. Ein Verbot stehe der Entwicklung von Digitalkompetenzen im Weg, der wichtigsten Prüfungen unserer Zeit. den Frankl’schen Raum zwischen Reiz und Reaktion, und schon hängen wir wie hypno- behaupten zum Beispiel die steirischen magdalena.schwarz@furche.at Nach dem Umfaller 2019 soll das Spitzenkandidatenprinzip bei der EU-Wahl im Juni wieder umgesetzt werden. Wie groß sein Potenzial ist, zeigt der Geifer der FPÖ. Seite 8 Wie sich über 50-jährige Frauen kleiden, unterliegt immer noch hohem gesellschaftlichem Druck. Über Mode zwischen Psychologie, Ökonomie und Moral. Seite 9 In seiner neuen Kolumne „Zeit-Weise“ begrüßt Otto Friedrich die deutliche Distanzierung der katholischen Kirche von der „Maiverfassung“ des Jahres 1934. Seite 15 Mit Paul Auster starb am 30. April einer der wichtigsten US-amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. Seine Geschichten bleiben. Ein Nachruf. Seite 18 Händewaschen und Lüften galten in der Coronazeit als Um und Auf. Diese Regeln gehen zurück auf Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Pflege. Seite 24 @diefurche @diefurche @diefurche Die Furche Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 29 12 Diskurs 18. Juli 2024 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Die Blockade wichtiger denkbarer Wege Faktencheck für Flugschämer Diesseits von Gut und Böse Von Peter Planyavsky Nr. 28, Seite 11 Die Argumentation des Autors blockiert wichtige denkbare Wege, um dem Massendilemma des Tourismus zu entgehen. Warum nicht über steigende Preise dem Massenandrang entgegenwirken? Das funktioniert doch in vielen Bereichen, leuchtet jedem Kunden ein und ist unkompliziert, z.B. mit dem Ziel, Kostenwahrheit herzustellen. Etwa mit dem Zurücknehmen der Kerosinsteuer-Subventionen, der Erhöhung der Kurtaxe bzw. Eintritte für Kulturveranstaltungen bzw. Zuschläge auf den Wasserpreis (wenn wertvolles Trinkwasser für Grünflächen und Pools verbraucht wird), und auch die Müllentsorgung könnte berechnet werden. Wenn solche Maßnahmen angekündigt, erklärt, stufenweise gesteigert werden, dürften Effekte nach und nach eintreten, bis Schwellenwerte erreicht werden. Wer sich an verursachten Kosten nicht angemessen beteiligen will, muss ja nicht in südliche Länder reisen und dort Schaden anrichten. Die verschiedenen Modelle, die inzwischen erprobt werden, sollten regelmäßig evaluiert und Ergebnisse veröffentlicht werden. Vielleicht werden naheliegende Ziele interessanter, wenn Preise den wirklichen Kosten entsprechen? Faktencheck für Flugschämer I PORTRÄTIERT Foto: Privat DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Diskurs Die Debatten über den Flugverkehr und ein Verbot von Kurzstreckenflügen werden nicht emotionsfrei geführt – und haben mit der Reiserealität oft wenig gemein. Ein Gastkommentar auf Erfahrungsbasis. Frankreichs polternder Linkspopulist or der Parlamentswahl 2022 raufte sich Frankreichs zuvor lange zerstrittene Linke zum Bünd- Nupes (dt.: Neue ökologische und soziale Volks- Vnis union) zusammen und wurde stärkstes Oppositions lager. „ Direkt aus dem Schlafwagen zur Konferenz, zum Vortrag, zur Probe? Schon möglich, aber äußerst unbequem. “ Jörg L. Neumann via Mail Foto: AFP / Sameer Al-Doumy ZUGESPITZT Schweigefuchs 11 Ein „Kunde“ kommentiert Faktencheck für Flugschämer Diesseits von Gut und Böse Von Peter Planyavsky Nr. 28, Seite 11 Ich stimme Peter Planyavskys Kommentar inhaltlich voll zu und finde seine Argumente richtig. Es ist spannend, dass ein „Kunde“ und Nutzer der Luftfahrt diese Zeilen geschrieben hat. Das hat mehr Gewicht, als wenn ein sogenannter Insider aus der Branche im gleichen Sinne argumentiert. Wie wir als Gesellschaft unsere Einstellung zum Reisen und Fliegen anlegen werden und welche Lösungen wir finden können, hat das Potential auf andere Lebensbereiche angewendet zu werden, wo der CO2 Fußabdruck noch deutlich größer und ärgerlicher ist – Stichwort Kleidungsproduktion, Crypto-Mining, AI Energieverbrauch. Mag. Wolfgang Fasching 1230 Wien Bedeutung des Christseins Geköpft und verbannt Leitartikel Von Till Schönwälder Nr. 28, Seite 1 Zur „geköpften“ Gottesmutter, der Gebärenden, ein Nebengedanke: Wie hieß er doch, der große fromme Dichter des Mittelalters, dessen Wort zur Geburt Jesu uns längst bekannt ist und das uns sagen will, dass diese Geburt nur dann ihren Sinn und ihr Ziel erreicht, wenn dieses Kind in uns allen wiedergeboren werden darf/kann..!? Wir alle, somit auch „Christusse“, sind in der Welt: Das ist doch die Beutung des „Christseins“! So verstanden ist Maria indirekt auch unsere Gebärerin... Er: „Sie hat noch mehr gelitten als deine irdische Mutter, um dich zu gebären. Sie hat meinen Tod durchlitten. Sie ist die Königin der Märtyrer...“, lese ich bei Gabrielle Bossis, in „Er und Ich“, Bd II, 95. Fehlende Argumente Peter Mathei via Mail Interview mit dem jüdischen Historiker Michael Wolffsohn: „Es ist die Feigheit der Liberalen“ Von Philipp Fritz Nr. 26, Seiten 5 bis 6 Die Einseitigkeit der „FURCHE“ mit fast ausschließlich israelischer Perspektive auf den Nahostkonflikt ist schwer auszuhalten. An dem Interview von Philipp Fritz mit Michael Wolffsohn über Israels Kriege irritieren mehrere Momente: 1. Was der Interviewer verharmlosend „Unruhe in der Westbank“ nennt und nur als eine Bedrohung für Israel kontextualisiert, ist in seiner Realität überhaupt nicht erfasst, nämlich eine brutale Unterjochung der palästinensischen Bevölkerung durch israelisches Militär, schrittweise Verdrängung aus dem offenen Land (Gebiet C) in nicht lebensfähige Enklaven (Gebiete A) und die schleichende Annexion durch die Siedler-Minister Smotrich und Ben-Gvir. M Bild: Getty Images / ClassicStock / Sipley (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger) Foto: Privat International Ein direkter Krieg mit dem Iran ist unausweichlich, sagt der jüdische Historiker Michael Wolffsohn. Ein Gespräch über die „grölende Scheinelite“ an US-Unis, antiisraelische Medien und Gazas Zukunft. „Es ist die Feigheit der Liberalen“ „ Wenn Israel untergeht, geht der ganze Nahe Osten unter. Denn Israel hat Atombomben – man nennt das den ‚Samson Effekt‘. “ 5 Massive Vergeltung 2. Die jüngste Geiselbefreiung wird als „geheimdienstliche und militärische Meisterleistung“ gepriesen. So erfreulich die Befreiung von vier Geiseln für die Betroffenen und ihre Familien ist, muss die Freude angesichts 270 Toten als „Kollateralschaden“, davon der Großteil unbeteiligte Zivilisten, zumindest getrübt sein. Ob hier noch von einer militärischen Meisterleistung die Rede sein kann? Was den „geheimdienstlichen“ Aspekt betrifft, ist wohl vieles auf die Folter palästinensischer Gefangener in Anhaltezentren wie Sde Teiman zurückzuführen. 3. Wolffsohn attestiert gleich an drei Stellen Andersdenkenden „Ahnungslosigkeit“, Inkompetenz („Westentaschenstrategen“) und „dass sie nichts von Politik verstehen“. Das lässt weniger auf „einen der renommiertesten deutschsprachigen Nahostexperten“ schließen als auf einen Ideologen, dem Argumente fehlen. 4. Es ist traurig, dass „DIE FURCHE“ jemandem so viel Platz gibt, der dem Krieg das Wort spricht, bis hin zum Angriff auf den Iran (… und wenn dabei alle zu Grunde gehen: siehe „Samson-Effekt“). Die israelische Zivilgesellschaft ist da zum Glück einen Schritt weiter, wie die große Konferenz der Friedensbewegung am 1. Juli in Tel Aviv gezeigt hat. Dort hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Sicherheit für Juden und Israelis wird nicht durch das Ausspielen militärischer Übermacht geschaffen, sondern durch Sicherheit, Gerechtigkeit und Würde auch für die Palästinenser – und durch den schweren Weg der Versöhnung. Aber für Wolffsohn sind das wohl alles nur inkompetente Träumer. Von der Währung des Andersseins Kants letzte Frage: Was ist der Mensch? Literarische Miniaturen Bewegungen wie die Bierpartei geben vor, eine Der Biologe Kurt Kotrschal und die Philosophin Karl-Markus Gauß widmet sich in seinem neuen Abweichung von der Norm zu sein – dabei wird die Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz diskutieren über Buch „Schiff aus Stein“ der Welt als Ort facettenreicher Preziosen. · Seiten Abweichung selbst zur Norm. · Seite 5 Gender und Würde. · Seiten 10–11 17–18 Das Thema der Woche Seiten 2–4 US-amerikanische Schulen haben ein Gegenmittel gegen die Smartphone-Sucht gefunden: ein radikales Handyverbot. Österreichs Bildungssystem sollte ihrem Beispiel folgen. Die echte Reifeprüfung D „ Heute bedeutet Reife, wieder Herrin und Herr der eigenen Sinne zu sein. Handys müssen raus aus der Schule. “ Georg Haigermoser 5020 Salzburg Mehr Verantwortung Die echte Reifeprüfung Leitartikel Von Magdalena Schwarz Nr. 19, Seite 1 Nach Holland, Finnland, Frankreich und Schweden verbietet auch Italien Handys und Tablets in Schulen. Neue Richtlinien des italienischen Bildungsministeriums verbieten Mobiltelefone und Tablets in Volksschulen und Gymnasien. Die Entscheidung wurde zum einen aus pädagogischen Gründen getroffen aber auch, weil die unsachgemäße Nutzung von mobilen Endgeräten oft zu Spannungen zwischen Schülern und Lehrern führe, die in einigen Fällen sogar in Aggressionen gegen das Schulpersonal münden, erklärte der Minister. Weniger Ablenkung, mehr Verantwortung, sei das Motto der Regierung. Auch in Schweden, Finnland und Holland hat man längst so entschieden. Wir in Österreich (und Deutschland) haben uns einmal gegen das Wohl unserer Kinder entschieden. Wir sind ja „fortschrittlich“ und „modern“, unsere Kinder werden die Rechnung dafür bezahlen. Mit dem Gefühl der Unsicherheit wächst die Sehnsucht, sich zu erden. Über blumige Refugien und den Geschmack der Zukunft. Den Garten essen Walter Koren 4560 Kirchdorf Foto: Getty Images/ coldsnowstorm Foto: picturedesk.com/ Anna Weise / SZ-Photo 75 Jahre KA: Vom Bollwerk zum Netzwerk Die Katholische Aktion Österreich feiert ein rundes Jubiläum. Über Geschichte und Zukunft der Laienorganisation. · Seiten 12–13 „Indien ist der Schlüsselstaat“ Politikwissenschafter Herfried Münkler über die notwendige Abkehr vom EU-Einstimmigkeitsprinzip, das Liebäugeln der USA mit der „autoritären Bank“, Österreichs selbst gewählte Bedeutungs losig keit und die Welt ordnung von morgen. AUS DEM INHALT EU-Spitzenwahl mit „Knacks“ Unsichtbarkeit als Vorschrift „Christliche“ Politik und Diktatur „Daher ist alles möglich“ Der Engel von Sewastopol furche.at Seiten 6–7 „Maximum“ als neues Familien- Mitglied Die bekannte und beliebte Rubbellos-Familie „Cash“ erhält Zuwachs: Heißt „Maximum Cash“ und bietet Gewinne bis zu 250.000 Euro Das vierte und damit jüngste Mitglied der Rubbellos Familie „Cash“ ist gleichzeitig das größte und stärkste. • Sein Name: „Maximum Cash“. • Sein Format: Überragend, in Bezug auf die anderen Lose der Serie „Cash“. • Seine Qualität: Jedes einzelne Los bietet dank dreier unabhängiger Spiele mit unterschiedlicher Spielmechanik und einem Maximum Bonus gleich vier Gewinnchancen, und man kann auch bis zu viermal mit einem Los gewinnen. • Seine Stärke: Der Hauptgewinn, der 250.000 Euro beträgt. Das neue Rubbellos „Maximum Cash“ ist zum Preis von 10 Euro in allen Annahmestellen der Österreichischen Lotterien erhältlich. Eine Serie besteht aus 800.000 Losen. Die Ausschüttungsquote beträgt 63,5 Prozent, und die Chance auf einen Gewinn 1:2,27. „Maximum Cash“ bildet nun gemeinsam mit „Cash“, „Super Cash“ und „Mega Cash“ die „Cash Familie, wobei sich die einzelnen Spiele neben dem Format vor allem im Lospreis (von 2 Euro bis 10 Euro) und in der Höhe des Hauptgewinnes (von 50.000 Euro bis 250.000 Euro) unterscheiden. „Maximum Cash” ergänzt die Rubbellos „Cash-Familie“ mit Gewinnen von bis zu 250.000 Euro. Foto: Öst. Lotterien IN KÜRZE RELIGION ■ Islam-Institut wechselt RELIGION ■ Missbrauchs-Vorwürfe RELIGION ■ Kreuzritter-Altar entdeckt GESELLSCHAFT ■ Arbeitspflicht für Asylwerber Das Institut für Islamisch-Theologische Studien wird Teil der Wiener Katholisch- Theologischen Fakultät (KTF). Das gaben Uni-Rektor Sebastian Schütze sowie die beiden Institute bekannt. Die Angliederung erfolgt auf Initiative des Instituts für Islamisch-Theologische Studien. Die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) begrüßt den Schritt. Die organisatorische Angliederung soll mit Beginn des Wintersemesters am 1. Oktober 2024 vollzogen werden. Die organisatorische Maßnahme soll die Zusammenarbeit fördern, die einzelnen Studienrichtungen behalten aber weiterhin ihre volle inhaltliche Eigenverantwortung. Metropolit Ilarion (Alfejev) von Budapest, der die Eparchie Ungarn der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) leitet, wird von einem früheren Mitarbeiter sexuelle Belästigung vorgeworfen, wie am Montag mehrere Medien meldeten. Nach entsprechenden Gerüchten hat die regimekritische und aus Russland verbannte Novaja Gazeta Evropa mit dem Betroffenen gesprochen und einen ausführlichen Artikel zu seiner Geschichte publiziert. Darin wird ebenfalls der luxuriöse Lebensstil des Metropoliten kritisiert. Hilarion bestreitet die Vorwürfe und beschuldigt die Mutter des mutmaßlichen Opfers, ihn erpressen zu wollen. Im Zuge von Bauarbeiten in der Jerusalemer Grabeskirche entpuppte sich die vermeintliche Rückseite einer Graffiti-beschmierten Steinplatte im hinteren Kirchenkorridor als Vorderseite eines verschollen geglaubten Altars der Kreuzritter. Historischen Quellen zufolge wurde der Altar am 15. Juli 1149 – also vor 875 Jahren – geweiht. An der Identifizierung waren auch Experten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beteiligt. Die Grabeskirche gilt als eines der größten Heiligtümer der Christenheit. Sie wurde nach der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter um diese Zeit im romanischen Stil deutlich erweitert. Seit Dienstag gelten neue Regeln für Asylwerberinnen und -werber in der Grundversorgung des Bundes. Das gab ÖVP-Innenminister Gerhard Karner bekannt. Künftig müssen diese verpflichtend gemeinnützige Arbeit verrichten, vorgesehen sind zehn Stunden pro Woche. Wer das verweigert, soll nur noch 20 statt den in der Bundesbetreuung üblicherweise vorgesehenen 40 Euro Taschengeld erhalten. Arbeiten können Asylwerber demnach nicht nur in der jeweiligen Einrichtung, sondern auch für Bund, Land und Gemeinde sowie in Organisationen der öffentlichen Hand, die nicht auf Gewinn ausgerichtet sind.
DIE FURCHE · 29 18. Juli 2024 Geschichte 13 Letzte Ausfahrt Marseille. Mittels gesammelter Zeugnisse und Berichte von Emigranten dokumentiert Uwe Wittstock anschaulich die große Flucht der Literatur vor der NS-Verfolgung. „Frag nichts. Sag nichts. Geh mit.“ Drehscheibe Marseille Hunderten Literaten, Künstlern und Intelektuellen gelang über Marseille die Emigration, darunter Anna Seghers und ihrer Familie, Marc Chagall, Max Ernst, Heinrich und Nelly Mann, Alma Mahler und Franz Werfel. Von Oliver vom Hove Mit Hitlers Häschern auf den Fersen flohen im Frankreich des Kriegsjahrs 1940 abertausende Verfolgte vor der Gefahr von Internierung oder möglicher Ermordung. Handstreichartig hatte die deutsche Wehrmacht ab Mai 1940 den Norden des Landes samt Paris okkupiert. Seither drängten zahllose Juden und NS-Gegner in panischer Hast in den militärisch noch unbesetzten, aber von der hitlerfreundlichen Vichy-Regierung des Marschalls Pétain beherrschten Süden. Aus allen Windrichtungen Frankreichs machten sich die Ausreisewilligen auf den Weg und steuerten sternförmig auf Marseille zu. Dort bahnte sich allmählich eine humanitäre Katastrophe an. Die französische Metropole an der Küste des Mittelmeers galt als das letzte Schlupfloch, durch das die verfolgten Flüchtlinge das Land verlassen konnten. In den USA schlug Eleonor Roosevelt Alarm. Die First Lady war in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Frau. Wie eine Löwin kämpfte die Ehefrau des Präsidenten Franklin D. Roosevelt vom Weißen Haus aus als Journalistin und Initiatorin von Hilfsorganisationen für die Rettung vor allem von Autoren und Künstlern in Europa. Foto: Getty Images / Gamma-Keystone / Keystone-France Hilfe aus den USA Im Sommer 1940 wurde von New York aus eine von einer privaten amerikanischen Hilfsorganisation gesteuerte Rettungsaktion in Gang gesetzt, der es im Verlauf des nächsten Jahres gelang, insgesamt mehr als 2000 verfolgte Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle aus Deutschland und Österreich vor dem Zugriff der NS- Behörden zu bewahren. Die zentrale Rolle eines umfassend einsatzbereiten Organisators kam dabei dem Amerikaner Varian Fry zu, den das Emergency Rescue Commitee (ERC) mit dem Auftrag der Visabesorgung und Fluchthilfe nach Marseille entsandt hatte. Der 1907 geborene Fry war, wie sich sehr rasch zeigte, die beste Wahl für diese Aufgabe: Der ehemalige Harvard- Student hatte im Juli 1935 als Journalist für die New York Times aus Berlin berichtet und auf dem Kurfürstendamm entsetzt eine frühe Gewaltorgie der SA gegen Juden miterlebt. In Marseille sammelte er eine kleine Schar hochmotivierter Mitarbeiter um sich. Dazu gehörte der als Widerstandskämpfer erprobte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschmann ebenso wie die Kunsthistorikerin Miriam Davenport oder die junge US-Millionärin Mary Jayne Gold, die dem Team nicht nur mit Tat, sondern auch mit enormen Geldzuwendungen zur Seite stand. Dem aus Wien stammenden Karikaturisten Bil Spira wiederum kam seine Zeichenkunst beim Fälschen dringend notwendiger Dokumente zugute. Als kundigste Fluchthelferin bewährte sich die österreichische Widerstandskämpferin Lisa Fittko, die ihre Erfahrungen als kommunistische NS-Gegnerin seit 1933 nun in Frys Fluchthelfer-Team einbrachte. An der östlichen Pyrenäengrenze von Frankreich zu Spanien gelang es ihr, zahlreiche Verfolgte über einen Schmugglerpfad in die Freiheit zu lotsen. Gleich bei ihrer ersten derartigen Tour hatte sie den aus Paris geflohenen Philosophen Walter Benjamin über einen Bergübergang ins spanische Portbou geleitet, wo sich der seelisch und körperlich verzweifelt Erschöpfte, auch aus Angst vor einer möglichen Rückstellung nach Frankreich, in der Nacht zum 26. September 1940 das Leben nahm. Seine Aktentasche, in der sich wohl ein Teil seines legendären „Passagen-Werks“ befand, wurde nie wieder gefunden. Improvisierte Fluchtzentrale Zuvor schon hatten Albert Hirschmann und ein amerikanischer Freiwilliger namens Dick Ball seit Anfang September zahlreiche Emigranten vom französischen Grenzort Cerbère über den rund acht Kilometer langen Höhenweg nach Spanien geschleust, von wo sie weiter nach Lissabon und auf die rettende Atlantikroute gelangen konnten. So erreichten etwa Heinrich und Nelly Mann, sein Neffe Golo, Alma Mahler und Franz Werfel, Hannah Arendt und ihr Ehemann Heinrich Blücher am 12. September 1940 zu Fuß den Grenzort Portbou. Von der Hafenstadt Marseille aus konnten in den nächsten Wochen auch Anna Seghers und ihre Familie, der Publizist Alfred Kantorowicz, die Maler Marc Chagall und Max Ernst, der Surrealist André Breton sowie der Dichter Walter Mehring und seine Freundin, die Wiener Schauspielerin Hertha Pauli, ins Exil entkommen. Sie alle verdankten Varian Frys unentwegter Fluchthilfe ihre Rettung. Fry hatte in Marseille ein Hilfsbüro in einem Hotelzimmer eingerichtet, wo er die vielen ausreisewilligen Flüchtlinge empfing. Später übersiedelte man in eine etwas abseits des geschäftigen Treibens der Stadt gelegene Villa Lesen Sie auch „Erzwungene Emigration: ‚Wie war das mit dem Glück?‘“ von Oliver vom Hove vom 14.12.2022 auf furche.at. „ Fry hatte in Marseille ein Hilfsbüro in einem Hotelzimmer eingerichtet, wo er die vielen ausreisewilligen Flüchtlinge empfing. “ Air Bel, wo die Exilanten vorübergehend auch eine Unterkunft finden konnten. Die Leistung von Varian Fry wurde zeit seines Lebens kaum gewürdigt. Das tut nun auf beeindruckend umfassende Weise die literarische Dokumentation des Literaturkritikers Uwe Wittstock, der die vielfältigen Zeugnisse und Berichte von Emigranten gesammelt und in kurzen, anschaulichen Passagen zu einem fesselnden Gesamtbild arrangiert hat. Szene für Szene folgt er im reportagehaften Stil der Chronologie der Rettungsaktionen und kann dabei auf manch anekdotische Episode verweisen. So klagte etwa Alma Mahler gegenüber dem Hotelchef in Lourdes derart heftig über den Verlust ihrer zwölf Koffer, dass der Mann alle Hebel in Bewegung setzte, um das auf der Flucht verloren gegangene Gepäck (in dem sich auch Partituren von Mahler und Bruckner befanden) wieder aufzutreiben. Gerechter unter den Völkern Lion Feuchtwanger wiederum, für den sich Eleonor Roosevelt persönlich eingesetzt hatte, sollte durch einen US-Diplomaten illegal aus seinem Internierungslager nahe Nîmes entführt werden. Um ihn ohne Umschweife ins Bild zu setzen, gab Marta Feuchtwanger dem Fluchthelfer einen Zettel mit der lapidaren Botschaft mit: „Frag nichts. Sag nichts. Geh mit.“ Der so tatkräftige wie selbstlose Einsatz des Idealisten Varian Fry blieb nach dem Krieg weitgehend unbedankt. Eine Zeit lang musste der Journalist als Werbetexter für Coca Cola für seinen Lebensunterhalt sorgen. Er starb 1967, erst 59 Jahre alt. 1994, knapp drei Jahrzehnte nach seinem Tod, gedachte man seiner in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und ehrte ihn mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, der höchsten Auszeichnung für Nichtjuden, die im Nationalsozialismus Juden das Leben retteten. Marseille 1940 Die große Flucht der Literatur Von Uwe Wittstock C.H. Beck 2024 351 S., geb., € 26,80
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