DIE FURCHE · 16 4 Das Thema der Woche Wieder gut? 18. April 2024 Eine Mutter misshandelt ihren Sohn fast zu Tode. Der Leidensweg des Kindes bleibt in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Kinder- und Jugendhilfe scheinbar unbemerkt. Wiedergutmachtung ist angesichts des Verbrechens ausgeschlossen. Welche Rolle spielt hier Vergebung? Wer bringt sie aufs Tapet? Wer verweigert sie und warum? Eine Reflexion. Nein, das ist nicht dein richtiger Name. Wüsste ich ihn, er stünde hier trotzdem nicht. Dein Name muss mit aller Kraft geschützt werden. Du musst geschützt werden. Dein Leben, dein Alltag, deine Zukunft, dein Umfeld, in dem du dich bewegst. Das hätte seit dem Tag deiner Geburt geschehen sollen. Das Gegenteil war der Fall. Die Frau, die dich auf die Welt gebracht hat, hat dir großes Leid zugefügt. Ja, du merkst, mir fällt es schwer, diese Frau Mutter zu nennen. Ich setze das Wort Mutter gleich mit Zuflucht, Zuwendung, Fürsorge, Halt, dem Aufgefangensein, dem Sichfallenlassendürfen. Das alles hast du bei jener Frau, die von den Staatsanwälten, Verteidigern, Richtern, Reportern, Jugendämtern als deine Mutter bezeichnet wird, nicht erfahren. Heute wissen wir, was sie stattdessen getan hat. Sie hat dich gefoltert. Sie hat dich immer wieder in eine Hundebox gesperrt. Die Maße: 57x83x63 Zentimeter. Du warst 1,65 Meter groß, musstest dich zusammenkrümmen, stundenlang in deinem Gefängnis ausharren. Diese Frau hat dich mit kaltem Wasser übergossen, dich hungern lassen. Stunden. Nächte. Du hast sie angefleht, um Essen gebettelt. Sie hat dich ignoriert, beschimpft, ausgelacht, verhöhnt – und gefilmt. Im Winter riss diese Frau das Fenster auf. Alexander – deine Kleidung, deine Haare, deine Haut, alles war klatschnass. Du hast gezittert. Vor Kälte, vor Angst, vor Hilflosigkeit. Der Mensch, der alles dafür tun sollte, damit du wachsen, dich entwickeln, ein gutes Leben führen kannst, war derjenige, der versucht hat, dich zu entmenschlichen. Ich weiß wohl, dass die Täterin, die offiziell als deine Mutter bezeichnet wird, eine Komplizin hatte. Doch die ist mir gleichgültig. Überall auf der Welt gibt es schäbige, sadistische, skrupellose Personen, vor denen es Kinder zu schützen gilt. Doch die, die dich hätten schützen müssen, haben dich ausgeliefert. Du bist diesem Martyrium entkommen. Räumlich. Körperlich. Das hoffe ich zumindest. Unter den emotionalen Folgen wirst du dein ganzes restliches Leben lang leiden. Ich glaube kein Wort, wenn jemand behauptet, es wäre möglich, das Erlebte zu verarbeiten. Alexander, dir ist das Urvertrauen in diese Welt genommen worden. Du wirst wieder gute Momente haben. Du wirst lachen, genießen, träumen, herumtoben – für eine Weile vergessen können. Aber die Bilder deiner Vergangenheit werden dich heimsuchen. Was wäre ich froh, wenn ich mich täuschte. Lass dich nicht auf diesen Pakt ein! Vergebung. Ich fürchte, irgendwann wird irgendwer dir raten, du sollst versuchen, deiner Mutter (ja, sie ist deine Mutter, auch wenn sie sich ihrer Rolle nicht unwürdiger hätte erweisen können) zu vergeben. Diese Vorstellung macht mich wütend. Wer wagt es, dir nahezulegen, etwas zu verzeihen, was unverzeihlich und unentschuldbar ist? Wen soll das entlasten? Etwa dich? Wem soll diese Gnade gewährt werden? Deiner Mutter? Willst du wissen, was ich denke? Dass hier noch eine Ebene angesprochen wird, der bislang zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Mit dem Vergebungsappell fordert die Gesellschaft an sich deine Absolution ein. Es verstört die Menschen, wenn jemandem langfristig (ein Leben lang?) ein Unrecht zu schaffen macht. Das Opfersein hat ein Ablaufdatum. Eine Zeit lang darfst du dich schlecht fühlen. Doch dann heißt es: Wiedereingliederung ins Weiterso. Du hast zu funktionieren. Lass dich nicht auf diesen Pakt ein! Dreh den Spieß um. Du solltest dein Schicksal in einen größeren gesellschaftlichen Kontext verorten. In der Soziologie bezeichnet man Gesellschaft als einen sozialen, institutionell gestützten Funktionszusammenhang. Jenes Leid, das dir deine Mutter zugefügt hat, ist keineswegs isoliert zu betrachten. Vielmehr ist es ein Symbol für eine Dysfunktionalität in unserem Zusammenleben. In unserer Gemeinschaft besteht offensichtlich zu wenig Konsens darüber, dass ein Kind unter allen Umständen geschützt werden muss. Obgleich dich deine Mutter im privaten Raum misshandelt hat, wart ihr zwangsläufig beide gezwungen, mit eurer Umgebung in Beziehung zu treten. Ihr hattet Nachbarn. Du bist zur Schule gegangen, hast Lehrerinnen und Lehrer getroffen, Klassenkameraden, die dich ihren Eltern als Sonderling beschrieben hatten. Das Ausmaß des Unvermögens seitens der zuständigen Sozialarbeiterin – denn in der Tat gab es längst eine Akte bei der Kinder- und Jugendhilfe – verblüfft mich bis heute. Auch im öffentlichen Raum werden Passanten zuweilen die Interaktion zwischen dir und deiner Mutter beobacht und sich ihren Teil dabei gedacht haben. Vielleicht ist es euch ab und zu gelungen, die Menschen zu täuschen. Aber noch besser ist es den Menschen gelungen, wegzuschauen, sich auf sich selbst zu konzentrieren, sich an dem Glaubenssatz festzukrallen, sich lieber nicht in die „Angelegenheit anderer“ einzumischen. „ Die Gesellschaft fordert deine Absolution ein. Das Opfersein hat ein Ablaufdatum. Dabei ist dein Leid ein Symbol für eine Dysfunktionalität in unserem Zusammenleben. “ Ich mag keine Anführungszeichen in Texten. Sie verschleiern eine Ungenauigkeit, kaschieren die Bequemlichkeit des Schreibenden. Er ist es, der sich nicht die Mühe gemacht hat, ein präziseres Wort zu finden. Oder aber, der Schreibende setzt die Anführungszeichen anstelle eines ironischen Untertons, der beim Lesen nicht zu hören ist. Das, was zu lesen ist, entspricht nicht der wahren Überzeugung des Schreibenden. Zurecht fragt man sich, warum er es dann geschrieben hat. Die „Angelegenheit anderer“. Hilflos habe ich mich dennoch dieses Stilmittels bedient. Ich habe etwas geschrieben, von dem ich das Gegenteil meine. Dass du, Alexander, von deiner Mutter in einen Hundekäfig gesperrt und monatelang gequält wurdest, dass du hungern musstest, dass dir keine Hilfe widerfahren ist – das ist „unser aller Angelegenheit“. Dein Schicksal offenbart ein Leck in der Gesetzgebung, einen blinden Fleck innerhalb unserer Institutionen, einen schwindenden moralischen Kompass, einen Irrweg, ein kollektives Nicht- Handeln. Warum glauben wir, dass uns dein Leid nichts angeht? Weil wir es nicht ertragen können. Ebenso wenig den Gedanken, dass man es hätte verhindern können. Stattdessen halten wir weiter an gesellschaftlichen Regeln fest, die es in letzter Konsequenz ermöglichen, ein Kind an eine Verbrecherin auszuliefern. Alexander, es wäre vermessen, von dir einzufordern, jemandem Gnade zu gewähren. Vielmehr wünsche ich, du könntest in vollem Umfang Wiedergutmachung einfordern. Doch die kann weder der Staat noch die Gesellschaft gewährleisten. Und schon gar nicht deine Mutter. Nichts kann das Geschehene rückgängig machen. Würde sie es denn überhaupt wollen? Diese Frau hat kein Interesse gezeigt, dich ins Krankenhaus zu begleiten. Stattdessen hatte sie, nachdem du weggebracht wurdest, „Kindesmissbrauch Strafe Österreich“ gegoogelt. Im Gerichtssaal saß sie emotionslos auf der Anklagebank. Im psychiatrischen Gutachten steht, deine Mutter leide an einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung. Die kommenden Jahre wird sie in einer forensischen Psychiatrie verbringen. Eine Heilung schließen die meisten Sachverständigen aus. Macht das für dich einen Unterschied? Ist es leichter, sich vom erlebten Leid zu distanzieren, wenn die Täterin offiziell als krank gilt? Der Weg der Barmherzigkeit, der Nachsicht, der Güte? Alexander, du musst dich niemandem gegenüber rechtfertigen. In Sachen Vergeben und Verzeihen bist du frei. Wer vergibt, teilt dem anderen mit: „Du musst dir keine Vorwürfe mehr machen.“ Angesichts des Verbrechens gegen dich, würde ich hier schon wieder entgegenhalten, dass sich bislang viel zu wenige Menschen Vorwürfe gemacht haben. Es aber sollten... Du siehst schon: Dieser Brief sagt mehr über mich als Verfasserin aus, als über dich als Empfänger. Seit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal von deinem Martyrium erfahren habe, denke ich wieder und wieder darüber nach. Ich bin es, die am liebsten jeden Einzelnen, der von deiner Situation nur geahnt haben könnte, an den Pranger stellen würde. Ob das dein Weg ist, das weiß ich nicht. Vielleicht ist es jener der Barmherzigkeit, der Nachsicht, der Güte. Ich meine fast, dem inneren Frieden käme man dadurch näher. Ich allerdings muss aus meiner Wut, meinem Entsetzen, meiner Unerbittlichkeit noch eine Weile die Energie ziehen, die ich für Briefe wie diesen hier brauche. Ich wünschte, es wäre der letzte seiner Art. Nächste Woche im Fokus: Verletzte Bildrechte, gestohlene Texte, kopierte Videos: Das Internet hat den Streit um das geistige Eigentum entfacht, Künstliche Intelligenz hat die Debatte weiter angeheizt. Über die Kampfansage der Kulturbranche, die Übermacht der Wissenschaftsverlage und den Geist, der zum Eigentum wurde.
DIE FURCHE · 16 18. April 2024 International 5 Das Gespräch führte Wolfgang Machreich Die Abwehrhaltung der EU-Staaten gegen Kriegsdienstverweigerer aus Belarus und Russland, sagt Olga Karatch, nützt der russischen Propaganda, demoralisiert die Menschen dort und schürt das gegenseitige Misstrauen. DIE FURCHE: Frau Karatch, in Österreich ist Spionage für Russland gerade ein riesiges Thema. Voriges Jahr wurde Ihnen in Litauen eine Zusammenarbeit mit russischen Geheimdiensten unterstellt. Den Vorwürfen fehlte jede Basis, Ihr Aufenthaltsstatus ist wieder gesichert. Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Fall? Olga Karatch: Ich stand vor der Situation, dass ich in Belarus als Terroristin deklariert bin, und auf Terrorismus steht in Weißrussland die Todesstrafe. Gleichzeitig wurde ich in Litauen als Bedrohung für die nationale Sicherheit bezeichnet. Natürlich ist das nicht angenehm, wenn man da wie dort als Feind hingestellt wird, und du weißt, dass du nichts Schlimmes tust. Aber leider greift in Litauen immer mehr eine Art nationale Panik vor Flüchtlingen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine um sich, die von Medien noch weiter geschürt wird. Das erschwert unsere Arbeit enorm und spielt gleichzeitig den Regimen in Belarus und Russland in die Hände. DIE FURCHE: Inwiefern? Karatch: Als Putin die Ukraine im Februar 2022 angreifen ließ, stellten wir uns die Frage: Was können wir dagegen tun? Unsere Antwort als weißrussische Frauen lautet: Wir können nur eines tun – versuchen, jede Beteiligung der weißrussischen Armee an diesem Krieg zu verhindern. Seither unterstützen wir belarussische Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und Deserteure bei ihrer Flucht aus der Armee und in die EU. Wenn Litauen diese Kriegsdienstverweigerer als Spione brandmarkt und nach Belarus abschiebt, ist das ein gefundenes Fressen für die belarussische Propaganda. Gleichzeitig wird auf litauischer Seite der Hass geschürt, mit abstrusen Verdächtigungen, die bis ins Mittelalter zurückreichen. Die belarussische Friedensaktivistin Olga Karatch vergleicht die gegenwärtige Situation im Baltikum mit dem gespannten Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland im Kalten Krieg. „Die Angst, dass jeder ein Agent ist“ DIE FURCHE: Putin legitimiert seine Invasion in der Ukraine unter anderem auch mit Geschichtsklitterung. Karatch: Genau, es ist die selbe Methode. Auch hier wird versucht, die öffentliche Meinung in Litauen zu manipulieren, indem man bis zum Königreich Litauen im 13. Jahrhundert zurückgeht und angebliche belarussische Bestrebungen heraufbeschwört, dieses wieder errichten zu wollen. Auf diese Weise wird Putins Politik übernommen. Denn meiner Meinung nach will Putin nicht nur den Krieg in der Ukraine gewinnen. Was er will, ist der Sieg über unseren Lebensstil und unsere Werte, insbesondere aber in Osteuropa, aber letztlich in ganz Europa. Da kommt ihm das wachsende Misstrauen gegen alles Russische in Europa oder die schwierige Situation der russischen Minderheit in den Ländern des Baltikum sehr recht. Damit liefern wir der russischen Propaganda viele Argumente – und das demoralisiert die Menschen in Russland und in Belarus, wenn sie sehen, dass sie alleine stehen, dass es keinen Sinn hat, zu kämpfen. Das ist schlimm, denn sie brauchen wirklich einen Traum, für den es zu kämpfen lohnt. Für mich ist die Situation zwischen Litauen und Weißrussland derzeit sehr ähnlich dem Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland in der Zeit des Kalten Kriegs. DIE FURCHE: Ein interessanter, für mich völlig neuer Vergleich. Wie kommen Sie darauf? Karatch: Weil wir eine sehr ähnliche Kultur haben, eine lange gemeinsame Geschichte und es seit alters her viel Austausch, wirtschaftliche und familiäre Beziehungen und Berührungspunkte gibt. Gleichzeitig ist die belarussische Gesellschaft, so wie die der DDR, stark vom weißrussischen KGB bis hinein in die Familien unterwandert. Eine Kollegin von mir musste mit ihren beiden Kindern nach Litauen fliehen, nachdem ihre Mutter sie denunziert hatte. Eine andere Kollegin wurde in Weißrussland acht Monate eingesperrt, weil sie anwaltliche Unterstützung und Lebensmittelpakete für politische Gefangene organisierte. Wer, glauben Sie, hat die Frau angezeigt? DIE FURCHE: Hoffentlich nicht jemand aus ihrer Familie? Karatch: Doch, als sie ihre Kriminalakte durchlas, fand sie Denunziationen ihres Vaters und ihres Bruders. Natürlich ist die Situation in der Ukraine aufgrund des Krieges um vieles schlimmer als in Weißrussland. Aber in einer Hinsicht haben es die Ukrainer leichter: Ihr Feind kommt von außen, ihr Feind hat nicht ihre Identität, ist nicht ihre Nation. Bei uns, wenn jemand ins Gefängnis kommt, wenn jemand gefoltert, getötet wird, dann kommen die Denunziationen von einem Nachbarn, einem Verwandten. Die belarussische Nation ist gespalten, und selbst in der weißrussischen Diaspora wird vom KGB rekrutiert. Auch das ist eine Art Krieg, und der Weg zum Frieden ist hier sehr kompliziert. DIE FURCHE: Sie haben die DDR genannt, da war auch wenig Hoffnung. Und auf einmal, 1989, ist alles sehr schnell anders geworden. Foto: Wolfgang Machreich Olga Karatch, Weimarer Menschenrechtspreisträgerin und für den Friedensnobelpreis nominiert. „Wie Frauen Revolutionen prägen“, beschrieb Oliver Tanzer am 21. August 2020 am Beispiel des Aufstands gegen die Diktatur in Belarus; nachzulesen auf furche.at. „ In einer Hinsicht haben es die Ukrainer leichter. Ihr Feind kommt von außen, ihr Feind ist nicht ihre Nation. “ Foto: Getty Images /AFP / Natalia Kolesnikova Neue Grenzen im Kopf Belarussen stehen im Baltikum als „fünfte Kolonne“ Lukaschenkos und Putins unter Verdacht. DESERTEURE UNTERSTÜTZEN Karatch: Es ist sehr schädlich für die Psyche jedes Menschen – genauso wie für die Psyche eines Volkes, wenn man das Gefühl hat, dass jeder ein Agent ist. Das zerstört nicht nur Individuen, sondern die Zivilgesellschaft als Ganzes. Denn die Basis jeder Bürgerbewegung ist Vertrauen. Das ist auch der Grund für viele Streitereien innerhalb der Opposition, in Belarus und überall anderswo, wo autokratische Systeme alles daran setzen, das Vertrauen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern zu zerstören und damit ihre Macht zu festigen. DIE FURCHE: Hat Russlands Krieg gegen die Ukraine Lukaschenkos Macht in Belarus wieder gefestigt? Karatch: Es gibt bei uns den Witz: Putin ist ein sehr armer Kerl, niemand vertraut ihm, nicht einmal Lukaschenko. Was Putins Garantien wert sind, hat der Tod von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin gezeigt. Es ist ganz klar, dass Lukaschenko unter großem Druck steht, einen Nachfolger zu finden. Gleichzeitig sehen wir, dass viele Schalthebel in der Politik und in den Medien bereits von russischer Seite infiltriert sind. Die Zukunft von Belarus liegt nicht mehr nur an der Person Lukaschenko. Niemand weiß, was nach ihm sein wird. Viele in der Opposition wissen zwar sehr genau, was zu tun ist, wenn wir die Macht haben. Aber wie wir den Weg dahin beschreiten, weiß niemand. Das gilt genauso für die Opposition in Russland, die sich aufgrund des Krieges in der Ukraine in einer sehr komplizierten Situation befindet. DIE FURCHE: Warum? Karatch: Auch wenn sich russische Oppositionellen gegen den Krieg positionieren, bleiben sie für die Ukrainer in erster Linie Russen und werden für die Aktivitäten Putins mitverantwortlich gemacht. Sie können oft nicht einmal mehr gemeinsam in einem Raum sitzen. Ähnlich wie wir es in Estland, Lettland, Litauen erleben, wenn wir, weil wir Weißrussen sind, zur Geisel Lukaschenkos gemacht werden. Ich kann das nicht akzeptieren. Weil ich alles tue, um Lukaschenko zu stoppen; und weil wir uns nicht auseinander dividieren lassen dürfen, sondern gegen Krieg und Diktatur geeint sein müssen. Es ist Krieg – und keiner geht hin! Als Olga Karatch im Vorjahr von litauischen Behörden als russische Agentin diffamiert wurde und um ihren Asylstatus bangen musste, organisierte der „Internationale Versöhnungsbund – Österreichischer Zweig“ eine internationale Kampagne zu ihrem Schutz. Mit Erfolg. Ihre Menschenrechtsorganisation „Unser Haus“ unterstützt weißrussische und russische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, die in EU- Ländern, vor allem ins Baltikum, geflohen sind. Das FURCHE-Interview wurde vom Versöhnungsbund in Wien organisiert, wo sich Karatch mit Dutzenden Friedensorganisationen aus ganz Europa vernetzte. Ihre Friedensformel lautet: „Putin und Lukaschenko können ihren Krieg nicht fortsetzen, wenn immer mehr Soldaten ihren Dienst verweigern – und wir sie dabei unterstützen!“ (wm)
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